21.12.2008

Aha! 300jährige Defloration

Nachdem in den ersten Bänden die rein vampirischen Figuren im Vordergrund standen, rückt nun das vertrackte Verhältnis zwischen Mensch und Nachtwesen ins Blickfeld, und J. R. Ward wäre nicht sie selbst, wenn das nicht mit viel Spannung und Leidenschaft geschehen würde. Klassische Liebesgeschichte mit Hindernissen, Action und düstere Romantik, was braucht man mehr nach einem drögen Arbeitstag. Und dann der Sex. Die en Detail geschilderte und durchaus nicht reibungslose Defloration einer dreihundertjährigen Jungfrau bekommt man nicht alle Tage vorgesetzt. Eindrucksvoll.
aus einer Rezension zu Vampirherz auf www.amazon.de

Zettelkasten, Java

Ich habe die letzten Stunden meinen Zettelkasten aufgeräumt. Ich bin noch lange nicht fertig. Und es ist eine ziemlich stupide Arbeit. Gut, nebenbei habe ich meine Texte und Kommentare durchgelesen und das eine oder andere eingefügt. Gerade zu Joan Rowling habe ich ein paar weitere Analysen rhetorischer Mittel eingefügt und dazu Übungen entworfen und ausprobiert. Die kommen demnächst auch in den Blog.
Den Nachmittag habe ich mit Programmieren verbracht. Nachdem ich jetzt einen kleinen Texteditor selbst programmieren kann, und das Ganze in einer Datenbank ablegen kann, kommen jetzt die nächsten Schritte: XML und Multi-Threading. Und an die Manipulation von Zeichenketten sollte ich mich auch noch einmal wagen: nicht, was die Befehle angeht, aber was die sinnvollsten Datenstrukturen für welche Aufgaben sind.

20.12.2008

Nightmare on St. Elms Street

Horrorfilme sind etwas Feines, wenn sie gut gemacht sind. Aber auch sonst kann man sich aus allerlei Gründen für sie interessieren.
Ich habe ja einiges zu Metonymien geschrieben. In Filmen kann man beobachten, dass dies auch mit visuellen und musikalischen Mitteln funktioniert:
  • In A Nightmare on St. Elms Street sieht man relativ zu Beginn, wie Freddy seine Klingen-Handschuhe herstellt. Diese Handschuhe stehen als Metonymie Teil-Ganzes für Freddy Krüger, und zwar, nachdem er als Albtraum wiederkehrt. Gleichzeitig sind diese Handschuhe aber auch eine Metapher für den Schrecken, der er verbreitet. Der Film fängt diese Metapher dadurch ein, dass er die Bilder von dem Handschuh (der an Freddys Hand steckt) und dem entsetzten Gesicht nacheinander montiert.
  • Der zweite Teil Freddys Rache beginnt mit einer Fahrt eines Schulbusses. Die Musik bringt hier zwei typische Leitmotive. Das erste ist ein einzelnes Horn, das eine nach oben steigende Melodie spielt, mit einer abschließenden fallenden Kadenz. In amerikanischen Filmen wird dies häufig für einen verhalten optimistischen Alltag eingesetzt, man vergleiche das mit Der weiße Hai. Gewohnheitsmäßig ist also diese Art eines melodischen Einsatzes des Horns eine Metonymie für Alltag. Gleichzeitig spielt aber auch ein Klavier im Hintergrund, und zwar in weit auseinanderliegenden Einsätzen einen leisen, aber deutlich dissonanten Akkord, als würde jemand einfach wahllos auf die Tasten hauen. Der Akkord hat keine tiefen Bestandteile: er klingt dissonant und schrill. Das ist wieder ein typisches musikalisches Element von einer Situation, die in einen Schrecken münden wird. Auch hier bereitet die Hörgewohnheit metonymisch das folgende Geschehen vor. Wir erwarten den Schrecken. - Ein verhalten optimistischer Alltag und ein metonymisch angekündigter Schrecken: jetzt kommt als drittes Element die Busfahrt hinzu, während der der Bus sich immer mehr leert, bis schließlich nur noch drei Schüler in ihm sitzen (Metonymie für Vereinzelung: Vereinzelung wieder deutet im Horrorgenre darauf hin, dass derjenige gleich angegriffen und umgebracht wird). Der eine Schüler hat zudem dunkle Augenringe (eine Metonymie für Schlaflosigkeit, die wieder für schlechtes Gewissen, Angst oder ähnliches steht, also diese metaphorisiert).
Solche Ketten von Metonymien sind recht gängig, vor allem wenn es sich um Genres handelt, die sehr konventionell arbeiten. Sieht man sich Filme wie Thirty days of night an, dann hat sich in den erzählerischen Mitteln des Horrorfilms wenig geändert.
Andere Filme dagegen führen durchaus eine ganz neue Sprache in das Horrorgenre ein, zum Beispiel der ganz hervorragende Film So finster die Nacht, dessen blutiges Ende aus einem solch skurrilen Blickwinkel heraus aufgenommen ist, dass es komisch wirkt - und natürlich auch komisch wirken soll.
Auch Twilight, mit dem deutschen Sch****-Titel Biss zum Morgengrauen, bedient sich ganz anderer Mittel als denen des klassischen Horrorfilms. Es ist eher eine Urban Fantasy, mit Vampiren eben, und die haben andere Ketten von Metonymien.      

Maultaschen

Vorgestern habe ich, nach langer Zeit, mal wieder Maultaschen gemacht. Sehr lecker!
Hier das Rezept:
Nudelteig
250 gr Mehl
1/2 TL Salz
3 EL Öl
2 Eier

Mehl und Salz mischen, Öl und Eier unterkneten. Wenn der Teig zu trocken ist, vorsichtig mehr Öl dazugeben. Wenn er zu klebrig ist, mehr Mehl verwenden.
Wichtig ist, dass der Teig sich gut von der Hand löst.

Füllung
1 kl. Dose Mais
eine Hand voll Petersilie
100 gr Frischkäse
Pfeffer, Salz, evtl. Trockenbrühe

Mais mit der Flüssigkeit pürieren. In Pfanne mit Frischkäse erhitzen, Petersilie dazugeben. Mit Salz, Pfeffer und Brühe etwas würziger abschmecken. Die Füllung sollte dickcremig sein.

Den Nudelteil ausrollen (am besten geht es mit der Nudelmaschine von IKEA). Mit Glas Kreise ausstechen. Die Kreise auf einer Seite dünn mit Wasser bestreichen (so kleben der Teig besser zusammen), ein wenig Füllung in die Mitte setzen, zusammenklappen und die Ränder aufeinanderdrücken.
Die Maultaschen in siedendes Salzwasser geben, warten, bis sie oben schwimmen, herausnehmen und servieren.

Gut dazu passen zerlassene Speckwürfel, oder zerlassen Butter, oder Kapernsoße.

Alternative Füllungen
1. Kartoffelbrei mit Sauerkraut vermischt (halbe-halbe)
2. fein geschnittene Pilze, Zwiebeln, Petersilie
3. fein geschnittene Pilze, Zwiebeln, Petersilie und Hack
4. Tomaten und Paprika, Zwiebeln, Basilikum

Java, Texte editieren

Ich habe in den letzten Wochen nur unlustig an Java herumgearbeitet. Nachdem ich bei so ziemlich allen Grafikkomponenten Fortschritte gemacht habe, auch was das interaktive Zusammenspiel anging, hat mich das Editieren von Texten wahnsinnig gemacht (OK, eigentlich waren das schon meine Eltern, aber Schwamm drüber).
Und jetzt, heute abend, nachdem mich Daniel ziemlich angefixt hat, probiere ich es noch einmal aus und - siehe da! - es ist ganz einfach. Meine kleinen Proben funktionieren so hervorragend, dass ich mich wie unterm Tannenbaum fühle.
Da die Programmierung von Datenbanken auch gut klappt (das war lange Zeit mein zweites Problem), könnte ich mich jetzt sogar an die Aufgabe machen, etwas Sinnvolles zu programmieren, zum Beispiel einen Zettelkasten nach meinem Geschmack, oder ein Programm, das einen beim Schreiben von Romanen und Erzählungen hilft, und zwar in der Art, wie ich es als Hilfe empfinde.

18.12.2008

Zettelkasten

Daniel Lüdecke hat seine neue Version des Zettelkastens fast fertig. Eine - wie er sagt - "nightly" Version findet sich bereits zum herunterladen HIER. Wer allerdings, was Computer angeht, krisengeschüttelt ist, sollte zunächst noch darauf verzichten. Einige Haken gibt es nämlich noch darin. Ansonsten: gutes Teil. Wesentlich schneller als der alte.

16.12.2008

Verunsicherung bei ALDI

Ich stand vorhin an der Kasse meines geliebten ALDI-Marktes. Vor mir eine Kundin, die etwas doch nicht haben wollte. Die Kassiererin klingelt, und der Marktleiter schreit, quer durch den Markt: "Was willst du denn?"
Sie: "Storno!"
Sage ich: "Das üben wir aber nochmal mit dem Anlaut-P!"
Man sah jetzt bei der guten Dame förmlich die Cent-Stücke fallen, eins nach dem anderen. Dann lachte sie, schaute sie mich grinsend an und meinte: "Du kannst das nicht so mit den Frauen, oder?" (Ich liebe sie.)

15.12.2008

Können Sie nicht ...

..., fragt, nein frägt mich eine Leserin, eine etwas umfassendere Einführung in die Systemtheorie geben, so mit den wichtigsten Begriffen?
Liebe Sabine P.! Es ehrt Sie, dass Sie als Pädagogin die Systemtheorie verstehen wollen. Aber wollen Sie das wirklich? Wollen Sie später wirklich zwischen Ihren Kollegen leben und feststellen, dass Sie keine Begriffshülsen benutzen? Dass Sie sich selbst in Ihre Unterrichtsbeobachtungen mit einrechnen und vielleicht so etwas wie ein kritisches Bewusstsein gegenüber sich selbst entwickeln?
Aber vielleicht greife ich da zu weit.
Liebe Sabine P.! - Sie gehören ja zu den etwas eifrigeren Lesern meines Blogs und können meinen dezenten Spott vertragen, hoffe ich. Ab und zu schreiben Sie mir eine Mail, meist mit lobenden Worten. Aber eine Einführung in Luhmann? Das geht zu weit. Da habe ich in den nächsten sechs Monaten nichts anderes mehr zu tun.

14.12.2008

Recht/Normen, systemtheoretisch

In Bezug auf Soft-Skills, Umgang mit Werten während des Coachings, aber auch den Abstrakta in Parteiprogrammen und induktiven Argumenten in Bundestagsreden, Nietzsche-Fragmenten und Krimis mag der folgende Text wie ein Umweg aussehen.
Manchmal sind Umwege wichtig. Die rhetorische Analyse von der Rede Klaus Brandners hat – nebenher – meine Analyse von Krimis angeregt. Warum sollte dies nicht auch mit der Rechtssoziologie Luhmanns möglich sein?

Kommunikation
Luhmann geht davon aus, dass Gesellschaft nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen besteht. Kommunikation wird zwar immer als Handlung ausgeflaggt, aber der eigentliche Akt oder die eigentliche Operation besteht darin, dass ein Beobachter entscheidet, ob eine Handlung eine Information oder eine Mitteilung ist. Kommunikation besteht in ihrem grundlegenden Element aus der Einheit von Information und Mitteilung und der Entscheidung für eine der beiden Seiten. (SozS 194ff)
Wenn Peter im Garten Holz hackt, dann kann ich dies als Information verstehen: Holz kann mit Hilfe einer Axt gehackt werden. Oder ich kann dies als Mitteilung verstehen: Peter liebt warme Wohnungen.
Es geht also zunächst und oberflächlich gesehen doch um Handlungen. Dabei ist aber ein zentrales Problem, welche Einheit ich einer Handlung zuweise. Für viele Handlungen scheinen wir zwar selbstverständlich anzunehmen, dass sie zu einem Zeitpunkt beginnen und zu einem anderen Zeitpunkt aufhören, aber wenn wir genauer darüber nachdenken, ist es nicht ganz so einfach. Alles weist darauf hin, dass Handlungen ihre Einheit verliehen bekommen. Durch wen? Durch einen Beobachter (aber natürlich kann man sich selbst beobachten und dann mit seiner Handlung ganz zufrieden sein)! (SozS 196f)
Die Kommunikation stützt sich auf dieses Phänomen. Sie greift auf Einheiten zurück, die den Handlungen nicht eingeschrieben sind (wohl aber gibt es Ritualisierungen, die dieses vortäuschen). Und sie entscheidet sich für Information oder Mitteilung, die ebenfalls dem Handeln nicht immanent sind.
Die Information ist eine Unterscheidung, die in die Welt eingeführt wird. Die Mitteilung zeigt auf die Eigenbewegung (Autopoiesis) und Strukturiertheit eines sinnhaft operierenden Systems.
Kommunikation wird nun zunächst von psychischen Systemen getragen. Alles, was in der Gesellschaft passiert, hat mindestens einen Minimalkontakt zu psychischen Systemen. Aber Kommunikation löst sich aufgrund seiner universellen Differenz von Information/Mitteilung und dem Entscheidungszwang, den sie punktuell den psychischen Systemen zumutet, von diesen ab und bildet ein eigenes System, das eigenständig operiert, und trotzdem beständigen Kontakt zum Denken hält. Mit anderen Worten: psychische Systeme kommunizieren nicht. Nur die Kommunikation kommuniziert. Psychische Systeme stöbern dieses System immer wieder auf. Das geschieht jede Sekunde massenhaft, konkret und ohne rationalen Überbau überall auf der Welt. Aber wenn sich ein Mensch zur Einsiedelei entschließen sollte, bricht nicht die ganze Kommunikation zusammen, genauso wenig wie der Einsiedler aufhört zu denken.

Recht als Teilsystem
Die Gesamtheit der aktuellen Kommunikation bildet die gerade fungierende Gesellschaft. Alles, was Kommunikation ist, gehört zur Gesellschaft und alles, was Gesellschaft ist, ist Kommunikation. Per Definition fällt nichts aus der Gesellschaft heraus. Beiträge, Aussagen können unmoralisch, rechtswidrig, menschenfeindlich sein. Es sind trotzdem Operationen innerhalb der Gesellschaft.
Moderne Gesellschaften sind komplexe Gesellschaften. Sie brauchen Ordnungen, sie bauen Ordnungen auf, mit denen bestimmte Funktionen zu weitreichenden Wirkungen kommen. Die Wirtschaft ist ein solches System. Ihre grundlegende Operation ist die Zahlung. Da die Wirtschaft ein Teilsystem der Gesellschaft ist, ist die Zahlung ein Sonderfall der Kommunikation. Die Zahlung informiert über einen Wechsel in der Zugehörigkeit. Die Zahlung teilt ein Bedürfnis mit. – Jedenfalls für die psychischen Systeme.
Zugleich kommt die Umwelt nur in Form von Preisen oder Kosten ins Wirtschaftssystem hinein, während das System sich in Form des Geldes selbst beeindruckt. Geld ist ein so generalisiertes Kommunikationsmedium, dass es für alle Umweltphänomene ausreicht. Sogar ein Lächeln ist dann immerhin noch unbezahlbar. (WG 14ff)
Das Rechtssystem operiert auf der Entscheidung recht/unrecht. Nur das Recht spricht Recht; alles andere ist Moral (die allerdings eine historische Vorstufe des Rechts ist und sich heute hartnäckig hält, wohl auch, weil sie den Alltag mit Vereinfachungen versorgt, die das Rechtssystem nicht anbieten kann).

Funktion des Rechts
Welche Funktion hat nun das Recht in der Gesellschaft? Kehren wir zunächst zu dem Ausgangspunkt zurück, dass auch Recht nur Kommunikation unter besonderen Bedingungen ist.
Luhmanns Hypothese zur Funktion des Rechts begründet sich nicht in einer stabilen Gesellschaft und auch nicht in der Gerechtigkeit und auch nicht in der Domestizierung. (RG 125)
Zunächst stellt er fest, dass Kommunikation ein Zeitproblem hat. Da das einzelne Element der Kommunikation immer eine empirische Unterscheidung ist, also ein zeitpunktfixiertes Ereignis, würde sich die Kommunikation komplexer Sachverhalte zerfasern, ja nicht mal zu diesen vorstoßen. Damit man aber zum Beispiel jeden Morgen die Kühe melken kann, damit man einen Partner ehelichen kann, müssen Strukturen die Möglichkeit von Kommunikation einschränken und damit bestimmte Möglichkeiten erwartbar werden lassen.
Genau das drückt Luhmann mit dem Begriff der Erwartung aus. Wenn ein Schild über einem Schaufenster eine Bäckerei verspricht, erwarte ich, im Laden Brötchen kaufen zu können. Erwartungen greifen zunächst über die punktuelle Gegenwart hinaus und integrieren zukünftige Kommunikationen, als seien diese sicher. Meist sind sie das auch. Wie ich als Kunde erwarte, in einer Bäckerei Brötchen kaufen zu können, so erwartet der Bäcker Kunden, die genau dies erwarten. Sind Erwartungen von allen beteiligten Seiten stabilisiert, können sie auch - mit einer gewissen Fehlertoleranz - erfüllt werden. (SozS 396ff)
Erwartungen nun gibt es täglich und massenhaft. Wichtig ist, dass sie zuallererst eine zeitliche Funktion haben, nämlich zukünftige Kommunikation als gegeben für die aktuelle Kommunikation vorauszusetzen. Erst in zweiter Linie sind dann auch sachliche und soziale Bezüge von Erwartungen relevant. Ich erwarte Küsse eben nur von Uschi und nicht von Andreas. 
Recht nun generalisiert Erwartungen unter bestimmten Bedingungen. Auch Recht hat einen zuallererst zeitlichen Aspekt, nämlich eine komplexe Gesellschaft mit sicheren Erwartungen zu versorgen. Recht ermöglicht weiterhin, diese Erwartungen zu kommunizieren und Anerkennungen durchzusetzen. Recht ist, was Recht ist, und wenn das nicht beachtet wird, greift man auf Programme zurück, die dieses Recht durchsetzen. Erst dann kann man auch von sozialen und sachlichen Konsequenzen reden, die im Recht abgelegt sind. (RG 125ff)
Die Besonderheit des Rechtssystems besteht nun darin, dass nicht nur die eine Seite, die Erfüllung des Rechts, sondern auch die andere Seite, die Nicht-Erfüllung des Rechts, im Rechtssystem selbst geregelt werden. Recht versorgt damit sowohl die Erfüllung von Erwartungen als auch die Enttäuschung von Erwartungen mit Sicherheit. Wer gegen das Recht verstößt, kann nicht einfach aus der Familie ausgestoßen werden. Im Gegenteil zeigt sich gerade hier das Rechtssystem besonders deutlich.
 
Normen
Erwartungen schränken die Beliebigkeit ein. Gesellschaftlich stabilisierte Erwartungen sind Erwartungen, die anderes Handeln verdächtig macht. Empirisch gesehen ist anderes Handeln natürlich weiterhin möglich.
Wenn Erwartungen gebildet werden, spielt Einschränkung die zentrale Rolle. Nun ist allerdings nicht klar, unter welchen Aspekten Einschränkungen ausgesucht werden. Auch wenn eine Erwartung nicht beliebig ist, kann die Entstehung einer Erwartung unter beliebigen Gesichtspunkten ausgeführt werden.
Damit die Entstehung von Erwartungen kontrollierbar wird, gibt es Normen. Normen schränken die Möglichkeit der Entstehung von Erwartungen ein. Wessen Norm die geistige Überlegenheit des Mannes ist, erwartet keine studierenden Frauen, aber auch sonst von Frauen keine geistigen Leistungen, etwa politische Reden oder moderne Opern; seine Erwartung an Frauen sind im Voraus eingeschränkt.
Im Alltag versorgen wir uns durch moralische Normen mit Einschränkungen von Erwartungsbildungen. Wer Selbstaufopferung lebt, wird sich keine Luxusküche kaufen und diese nicht vom Leben erwarten. Doch das sind schon unübliche Beispiele. Wer Respekt als Norm vertritt, kann von anderen Menschen in allen möglichen Lagen eine Entschuldigung oder die Hinnahme von Prügel und Rache erwarten, und enttäuscht sein, wenn der andere die Polizei ruft, oder unverständig sein, wenn ihm jemand Respektlosigkeit vorwirft. Alltägliche Normen haben eingeschränkte Anwendungsbereiche. Von außen lassen sich diese teilweise nur kopfschüttelnd beobachten.
Trotzdem ist ihre Funktion auf dieser basalen Ebene den Rechtsnormen gleich. Auch Rechtsnormen schränken die Entstehung von Erwartungen, und das heißt hier natürlich Recht, ein (RG 128f). Rechtsnormen sind in Deutschland im Grundgesetz festgelegt. Dazu gehören also die Rechtsgleichheit unabhängig von Geschlecht, sexueller Orientierung, Hautfarbe und Stand, Herkunft und Glauben, die Meinungsfreiheit (es sei denn, diese verstößt gegen eine andere Rechtsnorm), Versammlungsfreiheit, Briefgeheimnis, und – obwohl das ja sehr umstritten ist – die Würde des Menschen. Andere Rechtsnormen sind die Gewaltenteilung, die föderalistische Ausrichtung der Bundesrepublik, etc.

Sanktionen
Rechtsnormen haben einen besonderen Bezug. Wer Erwartungen bildet, die nicht rechtsnormenkonform sind, wer also zum Beispiel die Erwartung hat, dass er, wenn er seine Mutter tötet, deren Besitz erbt und verprassen kann, der enttäuscht die Rechtsnorm.
Erwartungen können erfüllt und enttäuscht werden. Wenn ich in eine Bäckerei gehe, aber statt der drei Brötchen zwei Seezungen in die Hand gedrückt bekomme, bin ich leicht enttäuscht. Ich vergewissere mich noch mal und siehe da: ich war in einem Fischgeschäft. Es steht auf dem Schild über dem Laden. Die Bäckerei liegt nebenan. Ich muss diese Enttäuschung verarbeiten, d.h. an ihr lernen. Das nächste Mal passe ich besser auf.
Enttäuschungen können durch kognitive Verarbeitung zu anderen Erwartungen führen. Oder sie können normativ gefasst sein, das heißt, ich erwarte weiterhin etwas, von dem ich weiß, dass es bisher nie eingetreten ist. Ich werde also auch in Zukunft in den Fischladen gehen, um meine Brötchen zu kaufen. Luhmann spricht hier von einem kontrafaktischen Durchhalten.
Meist bilden sich hier Mischverarbeitungen. Man akzeptiert, dass Frauen an der Uni studieren, da man alleine nichts dagegen tun kann, aber man spricht nicht mit ihnen und blickt weg, wenn man ihnen im Gang begegnet.
In der Rechtsprechung bildet sich das Schema recht/unrecht heraus. Es läuft über die Rechtserwartungen und greift auch dann, wenn eine Erwartung nicht erfüllt wurde.
Rechtsnormen dagegen greifen tiefer: hier wird nicht nur Erfüllung erwartet, sondern Anpassung. Wer einmal die Geschwindigkeit übertritt, muss mit einer Strafe rechnen. Wer aber wiederholt die Geschwindigkeit übertritt, scheint ein grundsätzliches Problem mit den Verkehrsregeln zu haben. Die Strafe wird schärfer ausfallen, um eine Anpassung an die Rechtsnormen zu erzwingen. (RG 129)
Man mutet also einer Rechtsperson bei Rechtsnormverstößen nicht nur eine Verhaltensänderung, sondern einen Lernvorgang, eine Verhaltensanpassung zu, auch und gerade wenn es seine eigenen Lebensumstände nicht betrifft. Auch und gerade weil es den Besitz anderer Menschen betrifft, soll man nicht stehlen. Das kann man erwarten, das ist recht, das ist ›norm‹al.
Ohne diese Unterscheidung scharf fassen zu wollen, kann man definieren: Strafen intendieren eine punktuelle Verhaltensänderung, Sanktionen eine umfassendere Verhaltensanpassung. Dementsprechend bezögen sich Strafen auf Rechte und Sanktionen auf Rechtsnormen.
Rechte und Normen werden über Strafen auch dahingehend stabilisiert, dass man kontrafaktisch erwarten kann, dass ein Gesetz, wenn es schon nicht eingehalten wird, zumindest eine Bestrafung nach sich zieht. Wenn ich beim Arbeitsvertrag arglistig getäuscht wurde, kann ich erwarten, bei einem Gericht Gehör zu finden.

Symbolisierung
Symbole bezeichnen generalisierte Erwartungen. Symbole stehen damit nicht für spezifische Inhalte, sondern für spezifische Erzeugung von Erwartungen. An ihrem Rande schwimmen Normen mit; sie unterbreiten Vorschläge zur Normbildung. Was Symbole symbolisieren, bleibt unsichtbar. Sie erzeugen aber spezifische Stabilitäten und spezifische Empfindlichkeiten. (RG 129f)
Wer ein Café sieht, in dem eine Regenbogenflagge hängt, erwartet keine graumausige Atmosphäre, aber vielleicht auch nicht ein Schwulencafé. Hakenkreuze rufen bei den meisten Menschen typische Empfindlichkeiten hervor, die man als aktive oder passive Aggression bezeichnen könnte. Generalisierungen wie Geschlechtergleichheit, Umweltbewusstsein, Kreativität üben sich in stabilen Überzeugungen, obwohl man zum Beispiel empirisch deutliche Unterschiede zwischen Mann und Frau feststellen kann. Und Empfindlichkeiten drücken sich darin aus, was noch wie diskutierenswert ist.
Symbole spielen eine wichtige Rolle, zum Beispiel auch bei Soft-Skills. Soft-Skills sind Skills, die man nicht direkt, nur interpretierend beobachten kann. Umso wichtiger werden Mittel, mit denen ein Trainer zum Beispiel seine Vermittlungskompetenz vorweisen kann: Berufserfahrungen, Fortbildungen, Namen großer Kunden, etc. Und natürlich Veröffentlichungen, eine gewisse Art des Redens (die Prof. Dr. Thomas Hofsäss mal so schön als Bekenntnislyrik bezeichnete).
Ähnlich kann man hier noch einmal die Problematik von Parteiprogrammen und Parlamentsreden aufrollen: welche Normen (der politischen Gestaltung) werden hier wie symbolisiert?  
 
RG = Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1995
SozS = Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt am Main 1987
WG = Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999   

Moral

Nur mal - so am Rande - Peter Fuchs (und natürlich im Dunstkreis von Werten und Normen bei Soft-Skills):
... wenn man unter 'Moral' die sozial fungierende Disposition über Achtung/Missachtung versteht, dann ist die Warnung vor Moral nicht unbedingt ins Register des Moralischen einzuordnen. Man kann manchmal ja auch einfach nett sein, aber natürlich nicht verhindern, dass dies auch wiederum (aber nicht zwingend) mit dem Schema der Moral beobachtet wird. Wenn es um Moral unbedingt gehen soll, halte ich mich an Konfuzius: 'Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man nicht, dass in den Worten etwas in Unordnung sei. Das ist es, worauf alles ankommt."
Fuchs, Peter: E-Mail vom 15.12.2008
Auf der Homepage von Peter Fuchs findet sich übrigens auch folgender Text:
für Theorieinteressierte: es besteht die Möglichkeit der kostenlosen Teilnahme an Mittwochsgesellschaften, die allerdings an Freitagen stattfinden

Induktive Argumente

Mal ganz ohne große Diskussion: induktive Argumente.

Verallgemeinerungen
Induktive Argumente beruhen auf Statistiken. Wenn eine Statistik errechnet, dass deutsche Männer etwa 75 Jahre alt werden, dann ist das eine pauschale, induktive Schlussfolgerung. Mittelwerte von Statistiken sind Verallgemeinerungen.
Nun kennen wir die Vorbehalte gegen Statistiken.
Leider nutzen wir allzu häufig ein viel ungesicherteres, ähnliches Mittel im Alltag. Wenn ich zum Beispiel dreimal dieselbe Kassiererin im ALDI griesgrämig antreffe, schließe ich auf ihr unfreundliches Wesen. Nur ist das eine - wie man in der Statistik sagen würde - unzureichende Stichprobe.
Ja es könnte sogar passieren, dass ich beim vierten Mal die Kassiererin als fröhlich erleben würde und dies als eine Ausnahme ansehe, die meine Meinung über ihr allgemein unfreundliches Wesen nicht im Mindesten berühren würde.
Induktive Argumente schließen also aus einer teilweise sehr geringen Stichprobe auf eine Regel.
Aber die Wahrheit der Prämisse(n) garantiert nicht die Wahrheit der Konklusion.

Stützargumente
Dieses Problem ist - wenn auch nicht immer deutlich - den Menschen bewusst. Denn ansonsten würden nicht so viele Stützargumente rund um induktive Argumente auftauchen.
Stützargumente sind Argumente, die sich selbst schon auf eine Regelmäßigkeit, eine Gewohnheit, eine geltende Meinung berufen.
Ein typisches Beispiel ist die Autorität. Wer in seinem Fach als Kapazität gilt, dem wird für gewöhnlich eher geglaubt. So zitiert man ja Einsteins politische Ideen gerne, als ob diese etwas ganz Besonders und Außergewöhnliches wären. (Albert Einstein hat ja bekanntlich gesagt "Um ein gutes Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allem ein gutes Schaf sein." und eine gewisse modische Strömung hat dies dann reichlich nachgeblökt.)
Ein ebenso typisches Beispiel ist die Anti-Autorität. Wer schon immer Unsinn erzählt hat, kann nicht plötzlich Sinnvolles von sich geben. Oder, wie es ein von meiner Mutter gern zitierter Spruch war: "Wer immer lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn er mal die Wahrheit spricht!"
Dann gibt es zum Beispiel Argumente aus der Übereinstimmung heraus. Damit sind Verweise auf Mehrheitsverhältnisse gemeint, aber eben auch Moden. Anfällige Wissenschaften, wie die Pädagogik, greifen häufig auf Moden zurück: Integration, Handlungsorientierung, sinnentnehmendes Lesen, etc. Was viele Menschen machen, muss nicht für jeden Einzelnen gut sein. Und wenn viele Menschen glauben, dass der Mensch durch seine Abfälle eine Klimakatastrophe heraufbeschwört, klingt der Wissenschaftler, der dagegen argumentiert, wie ein einsamer Rufer in der Wüste.
Stützargumente werden oft implizit oder nebenbei in eine induktive Argumentation eingeflochten.
Sagt zum Beispiel ein Regierungsmitglied: "Mit diesen neuen Gesetzen führen wir unseren erfolgreichen Weg fort.", dann stützt sich diese Aussage auf eine doppelte Verallgemeinerung. Erstens behauptet sie, dass die Regierung für die Erfolge zuständig ist, dabei hat die Arbeit der Regierung in ein komplexes System eingegriffen, dass durchaus andere Ergebnisse hätte liefern können. Zweitens lässt der bisherige Erfolg einer Regierung nicht den Schluss zu, dass sich dieser Erfolg wiederholt, zumal die Wirkungen eines Gesetzes zwar abgeschätzt, aber nicht statistisch belegbar sind, solange es noch nicht in Kraft getreten ist.

Falsche Analogieschlüsse
Analogieschlüsse ziehen aus ähnlichen Phänomenen den Schluss, dass Eigenschaften des einen Phänomens auch für das andere Phänomen gelten.
Wenn Ricardo Italiener ist, seine Frau betrügt und schwarze Haare besitzt, dann kann man von Peter, der auch seine Frau betrügt, per Analogieschluss behaupten, er sei ebenfalls Italiener und schwarzhaarig.
Klaus Bayer bringt ein noch schöneres Beispiel, wie krude Analogieschlüsse verlaufen können:
Wenn Polizeiautos und Frösche grün und beweglich sind, und Polizeiautos ein Blaulicht haben, dann haben auch Frösche ein Blaulicht.
Falsche Analogieschlüsse findet man häufig auch in Symbolübersetzungen. Die Wanduhr, so wurde in der Psychoanalyse behauptet, sei das Symbol für den Uterus, weil beide gefässförmig seien. Das Medusenhaupt sei ein Symbol für die weibliche Vagina, weil die Schlangen an das weibliche Schamhaar erinnerten.

Kausalität
Menschen denken gerne in Ursache-Wirkung-Folgen. So etwas kommt von sowas.
Hier gibt es drei mögliche Fehlschlüsse:

1. Fehlschluss der Kausalität zwischen zwei unabhängigen oder nur sehr komplex relationierten Ereignissen
Wenn zum Beispiel mehrere große Banken massive Zahlungsprobleme haben, kann dies den ganzen Finanz- und Arbeitsmarkt durcheinander bringen. Allerdings ist dieser Zusammenhang sehr komplex; wenn rasche Signale von allen möglichen Regierungen kommen, die Probleme aufzufangen, wenn sich die wirtschaftlichen Akteure nicht unter Druck setzen lassen, sondern lösungsorientiert vorgehen und Alternativen erarbeiten, dann werden sich diese Unruhe und möglicherweise auch die Folgen in Grenzen halten oder garnicht erst aufkeimen.
In der Evolutionstheorie hat Lamarck behauptet, die Giraffen hätten lange Hälse bekommen, damit sie die oberen Blätter erreichen und mehr Nahrung finden. Darwin dagegen konnte diese Kausalität aufbrechen: Giraffen mit längeren Hälsen hatten zu gewissen Zeiten, in denen die Nahrung knapp war, einfach mehr Möglichkeiten, an Nahrung zu kommen und dadurch einen Selektionsvorteil. Lange Hälse bei Giraffen sind nicht aus dem Willen zu mehr Nahrung entstanden, sondern verursachten eine Selektion.

2. Verwechslung von Ursache und Wirkung
Das Beispiel mit den Giraffen zeigt nicht nur, dass Kausalitäten falsch angewendet werden, sondern dass - wenn man Zwischenschritte wie die Selektion weglässt - Ursache und Wirkung umdrehen. Lamarck sagte, dass mehr Nahrung die Ursache für längere Giraffenhälse, während Darwin sagte, dass längere Giraffenhälse die Ursache für mehr Nahrung waren. Aus dieser Umdrehung heraus ändert sich die ganze Argumentation von Lamarck zu Darwin.
Ein weiteres Beispiel sind die Probleme mit zirkulären Argumentationen. Wenn die Ehefrau herumschreit, weil der Mann so spät nach Hause kommt, der Mann aber immer so spät nach Hause kommt, weil die Ehefrau so herumschreit, dann haben wir es hier nicht nur mit einer Vertauschung von Ursache und Wirkung zu tun, sondern mit einem sich aufschaukelnden Prozess, bei dem sich eine Kausalität konstruiert, weil die beiden weder den gesamten Verlauf im Blick haben, noch andere Variablen mit einbeziehen können und so den Zirkel aufbrechen können.
Gerade im sozialen Bereich werden nicht nur Ursache und Wirkung verwechselt, sondern so konstruiert, dass sie als Ursache-Wirkung-Konstruktion eine reale Auswirkung entfalten.

3. Fehlschluss der gemeinsamen Ursache
Damit ist gemeint, dass zwei Ursachen A und B dieselbe Wirkung C haben können, während man schließt, dass eine Ursache A die andere Ursache B bewirkt und diese dann die Wirkung C erzeugt. Statt also zwei unabhängige Ursachen zu betrachten, werden diese in eine Kausalität gepackt.
Wenn zum Beispiel der Abteilungsleiter herumschreit, weil er Stress mit seiner Frau hat oder weil seine Sekretärin einen Fehler gemacht hat, die Sekretärin aber dagegen glaubt, dass ihre Fehler dazu führen, dass ihr Abteilungsleiter Stress mit seiner Frau hat und er infolge dessen herumschreit, dann liegt hier ein kausaler Fehlschluss vor, der weitreichende Folgen haben kann. Zum Beispiel könnte die Sekretärin nach Fehlern suchen, wenn ihr Chef herumschreit, und in Panik geraten, wenn sie keine findet. Dabei hat dieser einfach nur Stress mit seiner Frau.
Oder eine Regierung könnte neue Arbeitsmarktgesetze aufgrund der Finanzkrise erlassen, während die Bürger sich - unabhängig davon - veranlasst sehen, mehr zu leisten, sich zu weniger angenehmen Bedingungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Regierung könnte jetzt aber auf die Idee kommen, dass ihre Gesetzgebung erst diese Integration verursacht hat, da der Gesinnungswandel im Volk erst nach der Verabschiedung der Gesetze deutlich wird.

Schluss
Induktive Argumente sind eine gängige Methode alltäglichen Schließens. Ihr großer Vorteil ist, dass sie Neues hervorbringen, dass sie Transfer leisten. Ihr großer Nachteil ist, dass sie verallgemeinern, Ähnlichkeiten falsch nutzen oder Kausalitäten "fälschen".

Bundestagsdebatte

Cedric ist da. Er schläft natürlich längst.
Um mir ein wenig Verschnaufpause zu gönnen, habe ich mich heute Abend an die Probleme induktiver Argumente gesetzt. Ein bisschen hatte ich vorher zu Fragmenten bei Nietzsche skizziert. Dann aber habe ich beschlossen, eine Bundestagsdebatte genauer zu betrachten. Als Vorlage habe ich mir - recht wahllos - die Aussprache zu zwei Gesetzentwürfen am fünften Dezember ausgesucht. Jetzt sitze ich seit elf Uhr am Computer und formuliere einige meiner Stichwortsammlungen zum ersten Beitrag - dem von Klaus Brandner - aus.
Gut, ich habe nebenbei noch einmal Luhmann Das Recht der Gesellschaft zu Rate gezogen und in Umberto Ecos Die Grenzen der Interpretation gestöbert.
Tatsächlich ist der Vergleich zwischen einer Bundestagsrede und einem narrativen Text wie etwa Donna Leons Vendetta sehr spannend, sowohl was Argumentationen angeht, als auch Attributionen oder Bildbereiche durch rhetorische Mittel.
Eines aber kann ich jetzt schon sagen: bisher habe ich die Bundestagsdebatten eher inhaltlich überflogen und mir nicht so viel Gedanken über die formalen Aspekte gemacht. Nur hier und da ist mir mal eine hübsche Metapher, eine krude Analogie aufgestoßen, oder ich habe neue Gedanken über gesellschaftliche Zusammenhänge erfahren. Aber das waren eher punktuelle Einsätze, die mich etwas zufällig oder lustbetont zu neuen Erkenntnissen geführt haben. Meine Arbeit der letzten fünf Stunden dagegen ist eine mittlerweile recht systematische Suchbewegung, die zu einer sehr umfassenden Distanzierung führt (so mein Gefühl).
Distanzierung? Die Funktion der Kritik ist nicht Wahrheit, sondern Desintegration. Kritik ist der Versuch, sich aus den latenten Zumutungen der Gesellschaft oder Teilen der Gesellschaft zu lösen. Und natürlich bedeutet diese Definition von Kritik, dass negative Urteile über Menschen, die sowieso als Gegner gesehen werden, keine Kritik ist. Desintegration definiere ich, mit Luhmann, als einen Prozess zu mehr Entscheidungsspielräumen, Integration als einen Prozess zu weniger Entscheidungsspielräumen. Beides lässt sich nicht per se als gut oder schlecht bezeichnen. - Es gibt natürlich eine andere Form von Integration, zum Beispiel die von Behinderten. Damit ist aber lediglich ein Aufenthalt von Behinderten in für sie eingerichtete Einrichtungen gemeint, und sei es eben der behindertengerechte Arbeitsplatz. Der Luhmannsche Integrations-/Desintegrationsbegriff zielt dagegen auf Entscheidungsmöglichkeiten ab, die man hat oder nicht hat. Wie dies moralisch zu bewerten ist, ist ein Entscheidungsspielraum, für den sich der Systemtheoretiker nicht entscheiden kann.

Erst hatte ich vorgehabt, die Rede von Klaus Brandner vollständig durchkommentiert in den Blog zu stellen. Das wird mir mittlerweile zu umfangreich. Stattdessen werde ich morgen nachmittag durchschauen, was ich von dem einen oder anderen meiner Kommentare als eigenen Beitrag umschreiben kann.

13.12.2008

"Wanted"

Dies ist mal eine Warnung vor einem schlechten Film. Habe gestern abend bei einem Freund "Wanted" gesehen, mit Morgan Freeman und Angela Jolie. Der Freund meinte: so gut wie Matrix.
OK. Die Optik war nett - aber der Rest des Filmes?
Das fängt schon damit an, dass der Film sich nicht entscheiden kann zwischen beständiger Action und dem ironischen Unterton, den er gerade zu Beginn verbreitet. Der ironische Unterton ist allerdings schon so ausgelegt, dass die Ironie durch eine Art "Unterschichtzugehörigkeit" geprägt ist, wobei der Protagonist Wes (James McAvoy) als Account Manager eindeutig ein Mittelschichtler ist, der mit Unterschichtsattributen garniert wird: Tablettenabhängigkeit, nervende Chefin, untreue Freundin, Wohnung neben der Hochbahn. Mehr als diese Art der Ironie schafft der Film nicht. Und die unironische Folie dieser Ironie ist der Mittelschichtler.
Dann gibt es einen zweiten, sehr störenden Aspekt. Der junge Wes zieht alle Motivation daraus, seinen Vater zu rächen. Als sich dann herausstellt, dass sein Vater nicht sein Vater ist, sondern der Killer, der seinen vermeintlichen Vater umgebracht hat, sein wirklicher Vater ist, als dann auch noch klar wird, dass nicht der Killer (also der echte Vater von Wes) die Regeln gebrochen hat, sondern die eigentlich Guten, in diesem Moment gerät Wes nicht ein bisschen ins Schwanken, sondern zieht sein Ding wie bisher durch, nur mit anderen Zielen.
Fazit: ein ironisch herabgesetzter Mittelschichtler auf der Suche nach seinem Vater findet sich selbst, d.h. den Killer in sich.

12.12.2008

Tannhäuser

Gestern war ich mit meinem Onkel im Tannhäuser, derzeit aufgeführt in der Deutschen Oper Berlins. Während der Ouvertüre war ich etwas zwiegespalten. Eine Ouvertüre ist für mich reine Musik (wie ich während der Aufführung öfter die Augen geschlossen habe). Stattdessen gab es ein - zum Glück - recht unaufdringliches Bühnenbild. Im gleichen Haus hatte ich Korngolds Tote Stadt gesehen, die von intellektuellem Überaufgebot glänzte - oder stank.
Ich mag die Botschaft des Tannhäusers mit einer Zwiespältigkeit, wie es nur geht: auf der einen Seite die Heilsbotschaft, auf der anderen Seite die Absage an die sinnlichen Freuden - eben die Zerrissenheit Tannhäusers zwischen Elisabeth und Venus.

10.12.2008

Plotten: Thesen & Prämissen

Gestern Nacht habe ich weiter an meinem Text zu Artemis Fowl geschrieben. Ich ordne die einzelnen Abschnitte alphabetisch an und erzeuge dadurch ein Geflecht, bei dem es nicht sinnvoll ist, am Anfang zu beginnen und am Ende aufzuhören. Zudem überschneiden sich die einzelnen Abschnitte, so dass man teilweise die Dinge doppelt liest, nur immer aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Grund für diese Überschneidungen ist sicherlich auch, dass eine Erzählung immer aus zahlreichen Ebenen besteht. Und wenn man eine Ebene von der anderen trennen möchte, kann man dies analytisch tun. Dann arbeitet man wissenschaftliche Begriffe gut aus. Oder man macht dies perspektivisch. In diesem Fall geht man von einem bestimmten Mittelpunkt immer wieder ins Umfeld und dem, was mit diesem Mittelpunkt zusammen hängt.
Da ich hier keine systematische Abhandlung der Erzählung liefern möchte, nicht am Beispiel von Artemis Fowl und nicht generell für Erzählungen, bleibe ich bei einer perspektivischen Trennung. Dadurch entstehen kleine Essays.

Thesenromane

Heute abend habe ich übrigens an einem Abschnitt gearbeitet, der mich seit langer Zeit interessiert.
Es gibt ja sogenannte Thesenromane. Diese Romane "beweisen" eine These, oder machen diese "lebendig". Die Verbildlichung eines abstrakten Begriffs nennt man Hypotypose. Solche Erzählungen, die zuerst von einer These ausgehen, scheinen mir immer etwas schwerfällig. Sicher, es gibt wundervolle unter ihnen wie die Romane Brochs, Der Tod des Vergil und Die Verzauberung. Aber Broch ist eben Broch und von ihm gibt es nicht allzu viele Verwandte.
Nun finde ich bei Freys Wie man einen verdammt guten Roman schreibt mal wieder die Empfehlung, dass jeder Roman eine These haben müsse. Das ist eine Aussage, die mich eigentlich abstößt. Gleichzeitig übt sie aber einen Zauber auf mich aus. Dieser Zauber ist nun ähnlich gelagert wie der, den die Hypotypose auf mich ausübt. Im Prinzip sind ja auch Freys zentrale Aussage und die Hypotypose ähnliche Phänomene. Also habe ich mir ein Schema ausgedacht, wie man von einer zentralen Aussage zu einem Plot kommt.
Ich möchte das mal illustrieren, damit ihr euch vorstellen könnt, wie das Problem konkret aussieht.

Aus einer These einen Romanstoff entwickeln

Nehmen wir an, es gibt einen Autor mit dem Namen Stephen King. Dieser Autor liest ein Buch über die Evolution, von Stephen Jay Gould, und dieser wissenschaftliche Autor beschreibt die Mechanismen der dummen Evolution. Die dumme Evolution probiert aus und probiert aus. Einige Arten, die sich entwickeln, erweisen sich als nicht überlebensfähig und sterben aus. Andere Arten passen einige Zeit lang perfekt in ein Ökosystem. Und andere Arten wieder verändern sich zu neuen Arten, diese aber bleiben gegenüber dem Ökosystem indifferent.
Nehmen wir nun an, unserem Autor (Stephen King) fällt während des Lesens der Satz ein: Die dumme Evolution gebiert Monster.
Zufälligerweise ist der Autor nun Horrorschriftsteller und hat viel mit Monstern von Berufs wegen zu tun. Er hat jetzt eine Ausgangsthese und muss diese nur noch illustrieren. Und hier greift jetzt das Genre ein.
Das Gesetz des Genres erlaubt es nicht, auf jede erdenkliche Art und Weise mit der These umzugehen. Im Horrorroman gibt es immer den common man. Er ist das Opfer, aber auch die Gegenthese des Monsters. Damit dieser gewöhnliche Mensch den Horror begreifen kann, muss King zuerst eines tun: er muss die dumme Evolution, die sonst Jahrtausende und länger dauert, beschleunigen. Sehr beschleunigen. Und um der Leser Willen, sollte dieser Zeitraum sogar eher sehr kurz sein, sagen wir drei, vier Wochen. Um diese Beschleunigung plausibel zu machen, braucht King eine Ursache, einen Auslöser. Und was wäre in einem Horrorroman plausibler als ein außerirdisches Raumschiff? Dieses treibt die Menschen in der Umgebung recht rasch in eine solche dumme Evolution.
Jetzt gibt es allerdings ein anderes Gesetz im Horror, und das lautet: es muss ein finaler Kampf stattfinden. Und dieses Gesetz verträgt sich nicht mit der dummen Evolution. In der dummen Evolution verschwinden die Arten nach und nach, sei es durch neue Mutationen, oder weil sich die Art nicht durchsetzen kann. Doch das ist nicht so wichtig, wenn eine Zeit lang die zentrale These genügend Stoff liefern kann.
King hat übrigens noch einen glorreichen Einfall. Er bezieht sich nicht auf die Evolution von Arten, sondern auch auf die Evolution von Werkzeugen. Während ein ganzes Dorf mehr und mehr in den Bann dieser beschleunigten, dummen Evolution gerät, haben die Einwohner Einfälle. Sie fangen an, kleine Geräte zu bauen, die das Leben verbessern und die ihnen ihre Wünsche erfüllen. Diese Art der dummen Evolution ist nicht nur biologisch, sie ist auch sozial. Und hier schafft es King dann wesentlich besser gesellschaftskritisch zu sein: denn wer hätte sich nicht über die eine oder andere unnütze Erfindung geärgert, die sich rasch massenhaft verbreitet hat und die teilweise unverständliche, teilweise missbräuchliche Auswirkungen hat?
Auf diese Art und Weise formt sich aus der Ausgangsthese nach und nach ein Plot.

These und Ausnahme

Es gibt bei der Ausgangsthese noch einen Trick. Jede These stößt auf eine Art Widerstand. Bei der These Die dumme Evolution gebiert Monster muss es also Ausnahmen geben. King führt hier eine Person ein, die sich gegen die Auswirkungen des Raumschiffs als immun erweist: Jim Gardener. Jim hat durch eine Kriegsverletzung eine Metallplatte im Kopf. Er kann manchmal damit Radio empfangen und hört dann das Gedudel in seinem Kopf. Aber er kann nicht oder nur sehr schwach von dem Raumschiff beeinflusst werden. Jim Gardener ist also ein erster Widerstand gegen die These.
Dann gibt es noch die Außenwelt, die anderen Menschen, die weiter entfernt wohnen, und nur noch wenig oder garnicht von den Strahlen erreicht werden. Diese reagieren entsetzt oder auch feindselig, wenn sie durch das Dorf fahren. Diese sind der zweite Widerstand gegen die These.
Zugegeben ist dieses Beispiel nicht sehr plastisch, was die Widerstände angeht. Nehmen wir deshalb noch einmal eine These, die Frey anführt. Für den Roman Einer flog über das Kuckucksnest gibt er folgende Prämisse an: Selbst die unerbittlichste und grausamste psychiatrische Anstalt vermag den menschlichen Geist nicht zu brechen. Diese These hat auch eine gewisse Schwierigkeit, da sie doch schon einen Widerstand ausdrückt. Aber von hier aus können wir bestimmen, dass es eben doch Menschen gibt, die in der Psychiatrie zerbrochen werden. Und zu diesen gehören sowohl Patienten, als auch Pflegepersonal.
Wir haben also eine Prämisse oder These. Dann haben wir einen Widerstand, Ausnahmen, Fälle, da die These nicht greift. Beide Seiten können wir nun "bevölkern". Und schließlich können wir uns überlegen, wie wir dies in einen Plot umsetzen. Der Plot "illustriert" die Entwicklung von Personen. Die einen erscheinen am Anfang zerbrochen, befreien sich aber schließlich aus diesem Schein und leisten gegen die Unmenschlichkeit Widerstand. Andere zerbrechen vollends. Und wieder andere schaffen es von Anfang an nicht, sich zu bewegen.
Das sind natürlich nur gewisse Richtlinien für den Umgang mit Thesen/Prämissen.

Fazit

Ich habe in den letzten Stunden mehrere Thesen ausgebaut, um mein kleines Modell auszuprobieren. Es funktioniert ganz gut und es  sind einige hübsche Skizzen zu Plots entstanden. Aber mir ist noch nicht alles klar. Zum Beispiel habe ich oben das Gesetz des Genres erwähnt. Dieser Begriff ist ein Notbehelf.
Das Buch von Stephen King gibt es natürlich wirklich. Es ist Das Monstrum, eines seiner wirklich großartigen Bücher.
Falls Sie Prämissen zum Üben für das Plotten suchen, empfehle ich Zitatsammlungen oder Bücher aus der mittleren Phase von Nietzsche (Menschliches Allzumenschliches zum Beispiel).

08.12.2008

Publikums-Sturm

Gestern war es mal wieder soweit. Irgendwelche Besucher stürmten meinen Blog. Täglich kommen so um die fünfzig bis hundert Besucher auf meine Seiten. Gestern, am Sonntag, waren es fast sechshundert.
Vielleicht sollte ich hier nochmal erwähnen, dass die Besucher Kommentare schreiben dürfen. Gut - ich prüfe jeden Kommentar, bevor ich ihn veröffentliche. Vielleicht schreckt das ab. Tatsächlich möchte ich aber nur keine Beleidigungen lesen, auf Hochintelligentes lege ich dagegen nicht so viel Wert.
Ein vielbesuchter Artikel ist der zu Metonymien. Da ich damals noch nicht direkt am HTML gearbeitet habe, war er etwas unübersichtlich. Seit gestern glänzt er durch eine neue Gestaltung und hat ein verlinktes Inhaltsverzeichnis.
Ein anderer vielbesuchter Artikel ist der zum sinnentnehmenden Lesen. Ich wollte schon lange einen Folgeartikel schreiben. Vor allem wollte ich hier mehr Beispiele einbringen und auch einige Sachen zur Diagnostik des Lesens schreiben. Aber wie das so ist: man hat andere Sachen im Kopf und schreibt an denen weiter.
Nun, Textmuster und Textelemente sind ja im Dunstbereich des sinnentnehmenden Lesens, und haben zugleich auch viel mit Metonymien zu tun.

Autor gesucht?

Da schaue ich mal wieder in die einschlägigen Internetseiten hinein, welche Jobs es gerade für Autoren gibt. Und was finde ich bei einer auf der ersten Stelle? "Qual. Tellerwäscher für Berlin, übliche Bezahlung" - Tja, ich sehe mich schon, wie ich von Haustür zu Haustür wandere und mich als qualifizierte Spülkraft anbiete. Garantiert ohne Rechtschreibfehler. Ich schwör's!

07.12.2008

Erzählen: Artemis Fowl

Seit gestern sitze ich wirklich und wahrhaftig an meinem Text zu Artemis Fowl. Ich habe jetzt seit einigen Wochen den ersten Roman auf Erzählelemente studiert. Das hätte nun nicht so lange gedauert, wenn ich nicht nebenbei noch weitere Autoren hinzugezogen hätte: Donna Leon, Martha Grimes, Andrea Camilleri, Joan Rowling und andere.
Zum zweiten mache ich mir die Mühe, die meisten dieser Erzählelemente nicht nur mit Beispielen aus der Literatur zu versehen, sondern selbst Beispiele zu schreiben. Damit werden die Erzählelemente hoffentlich plastisch.
Vor allem schreibe ich weiter an meinem Thema trickreiche Plots. In größeren Teilen ist also auch dieser Text dem Plotten gewidmet. Aber es gibt auch Abschnitte zur Psychologie der Personen, zu Personenkonstellationen, oder zum Spannungsaufbau und guten wie schlechten Erzählverfahren.
Gerade lese ich einen High Fantasy-Roman, der so einiges an schlechten Erzählverfahren mitbringt: er hat eine funktionslose Detailversessenheit und einen seltsam verwirrenden Perspektivwechsel.
Die funktionslose Detailversessenheit äußert sich zum Beispiel in peniblen Beschreibungen von Friesen und Kapitelen. Das ist nicht nur an sich ermüdend. Es zerreißt auch den Konfliktaufbau zwischen den handelnden Personen, ja lässt die Handlungen in dieser Detailgenauigkeit geradezu untergehen.
Und was die Perspektivenwechsel angeht, so wird zwischen den Angreifern und den Fliehenden hin- und hergeschwenkt. Da beide aber positiv geschildert werden, beide ihre guten Gründe haben, will ich mich nicht so recht mit dem Konflikt identifizieren. Genauer gesagt lässt er mich kalt. Denn in einem bin ich mir ganz sicher: wenn zwei Seiten beide vom Autor moralisch gut dargestellt werden, müssen diese beiden Seiten irgendwann zusammen kommen. Da es sich bei Fantasy aber um Epen aus zahlreichen Bänden handelt, wird dies nicht bis zum Ende meines Buches passieren. Und mehr als einen Band dieses Autoren ertrage ich nicht.
Vorsicht also mit Perspektivwechseln. Manche Schreibratgeber empfehlen diese zwar ausdrücklich, aber einfach nur die Perspektive zu wechseln macht einen Roman noch lange nicht zu einer glanzvollen Erzählung. Dazu gehört viel, viel mehr. Genau diesem spüre ich nach. Und dazu wird es demnächst dann wieder einen Download geben.

Lakonisch

Gerade stöbere ich wieder bei meinem Fontane herum und mag hier doch eine seiner wundervollen kleinen Anekdoten zitieren, die mich sehr erheitert hat:
... er [Herrmann Goedsche, alias Sir John Retcliffe] schrieb damals an seinen, vom buchhändlerischen Standpunkte aus berühmt gewordenen Sir John Retcliffe-Romanen, die, wie er selbst, eine Quelle beständiger Erheiterung für uns waren. Einer dieser Romane hieß »Nena Sahib«. Wenn nun eine ganz ungeheuerliche Stelle kam, wo die Schrecknisse sich riesenhaft türmten, so kriegte er es doch mit der Angst, und fühlend, dass er dem Publikum vielleicht allzuviel zumutete, machte er, mit Hilfe eines Sternchens, eine Fußnote, darin es in lakonischer Kürze hieß: »Siehe Parlamentsakten«. Er hütete sich aber, Band und Seitenzahl anzugeben.
aus Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig, 7. Kapitel, ohne Seitenzahl

05.12.2008

Rachel Caine: Sturm der Dämonen

Zur Zeit lese ich - für media-mania - Sturm der Dämonen von Rachel Caine. Der Titel ist irreführend. Im englischen Original heißt das Buch Ill Wind, Kranker Wind. Das trifft die Sache viel besser.

Worum es geht?
Joanna Baldwin ist eine Wetterwächterin. Sie hat die Fähigkeiten, in Wettervorgänge einzugreifen, Wirbelstürme zu verhindern, Dürre und Überschwemmungen zu verhindern. Doch diese Arbeit ist schwierig. Denn das Wetter ist ein komplexer Kreislauf und was auf an einem Ort verhindert wurde, kann an anderen Orten zu einer Katastrophe führen.
Nun hat Joanna aus zunächst nicht ersichtlichen Gründen einen Vorgesetzten umgebracht. Sie befindet sich auf der Flucht, verfolgt von ihren Arbeitskollegen und mit wenig Aussicht auf Entkommen.
Erst nach und nach zeigt der Roman die Gründe, warum Joanna zu diesem Mord getrieben wurde. Parallel dazu wird der Plot in ein großartiges Showdown getrieben. Und, als dritter Strang, wird eine Liebesgeschichte erzählt: Joanna gabelt unterwegs einen Anhalter auf. Erst ist sie sehr zwiegespalten, da sie den jungen Mann in große Gefahr bringt und sich auch noch in ihn verliebt. Als sie aber nach und nach merkt, dass dieser David nicht nur wesentlich mehr ist als ein Shakespeare lesender Tramper, sondern auch Joanna in ihren ganzen Zweifeln auf sehr lakonische Art trösten kann, lässt sie diese Beziehung zu.

Rachel Caine schreibt hier einen Roman, der sehr unterschiedliche Erzählstränge eng miteinander verknüpft. Das alles ist so hervorragend konstruiert, dass man sich nicht vorstellen mag, wie viel Arbeit und wie viel Schreiberfahrung in diesem Buch stecken. Doch genau das macht eine der Qualitäten dieses Romans aus: dass es so selbstverständlich auf den Showdown zuläuft, dass ich mich als Leser nicht manipuliert fühle.
Etwas anderes aber begeistert mich an diesem Roman noch mehr. Er ist durch und durch sinnlich. Alles, von den Regentropfen zur Straße, über die Joanne flüchtet, von der Haut ihres Geliebten bis zu dem Auto, das sie fährt, alles ist prägnant, vorstellbar, knackige, dramatische, erotische Realität. Dazu gehört, dass die Beschreibungen knapp und präzise sind. Es gibt kein detailfreudiges Herumgeeiere und keine Allgemeinplätze. Die Erzählung geht trotz dieser prallen Sinnlichkeit straff voran. Dazu gehört aber auch, dass die Personen stark charakterisiert sind und dadurch eine psychische Präsenz bekommen, die einfach umwerfend ist.
Wer Erotik schwülstig mag, oder wer findet, dass Erotik nicht in ein Fantasybuch gehört, sollte allerdings die Finger von diesem Buch lassen. Caine ist auch hier so eindeutig weiblich, wie unprätentiös.

Dass Rachel Caine mit diesem Roman ein Bestseller gelungen ist, kann ich nur als Glück betrachten. Denn Bestseller glänzen nicht immer durch einen zugleich raffinierten und spannenden Plot und eine hervorragende Erzählweise. Caine aber bietet all das.

Meine gute Tat

Meine gute Tat für heute (d.h. eigentlich gestern) war, meinen Nachbarinnen einen Kuchen zu backen, da sie sich die Nächte zur Zeit mit ihrer Diplomarbeit um die Ohren schlagen. Also stand ich um einundzwanzig Uhr abends vor ihrer Tür, mit dem Erfolg, dass Rena ausgerechnet heute gerade ins Bett gehen wollte und dass Sabrina bei ihren Großeltern zu Besuch war.
Damit ist meine gute Tat in Sachen Diplomarbeit rasch verpufft. Aber der Kuchen sei trotzdem lecker, sagte Rena nach dem ersten Stück. Ihrem Betthupferl. Seufz.

Begriffsbildung: prozessuale Begriffe

Um noch einmal auf die Begriffsbildung zurückzukommen:
Begriffe bilden sich - vereinfacht gesagt - aus Sätzen, in denen sie vorkommen. Das ist so hübsch banal, dass es sich fast unsinnig anhört.

Betrachten wir folgenden Satz in Bezug auf die Empathie:
"Dementsprechend muss sich ein Ensemble von strategischen Kompetenzen (Empathie, Urteilskraft etc.) und Orientierungen (Vorsicht, Distanz, Gefasstheit usw.) sowie ein geschärftes und sich schärfendes biographisches Selbstbewusstsein bilden." (RH, 166 - Siglen wie immer am Ende des Artikels)
Zum einen wird hier die Empathie zu den strategischen Kompetenzen gerechnet, und der Urteilskraft zur Seite gestellt (dazu zählen des weiteren auch Geschick und Simulationsvermögen), zum anderen bündeln diese sich mit den strategischen Orientierungen und einem (im Gegensatz zu früheren Zeiten) geschärften biographischen Selbstbewusstsein. Zu was? Zu einer strategischen Lebenslaufkontrolle (RH, 166) in einer zunehmend komplexen Gesellschaft.
Indem in diesem komplexen Satz die Empathie in Bezug auf andere Begriffe benutzt wird, zugleich aber von diesen abgegrenzt wird, ordnet sich dieser Begriff ein. Ob diese Ordnung zu Recht auf diese Art und Weise geschieht, spielt erstmal keine große Rolle.
Es ist natürlich etwas anderes, ob ich einen Schwarzafrikaner zu den Menschen oder zu den Tieren zähle. Die Gewaltsamkeit der zweiten Einordnung ist zu offensichtlich und deshalb ohne Legitimation. Bei Begriffen spielt die Dinghaftigkeit eine große Rolle. Dinge lassen sich viel eher naturwissenschaftlich definieren und müssen sich dieser empirischen Basis stellen, sei es im physikalischen oder im biologischen Bereich.

Andere Begriffe, wie der der Empathie, sind zu prozesshaft, um sie mit Dingen verwechseln zu können. Prozesshafte Begriffe zeigen nicht auf absolute Phänomene, sondern auf Vorgänge, in denen sie meist nur zum Teil verwirklicht werden (können).
Es gibt - das sollte man mindest vermuten - keine absolute Empathie.
Gerade aber weil diese Begriffe nicht in Reinform in der Realität erscheinen, gerade deshalb sind Differenzen zu anderen Begriffen so wichtig. Dieses Ineinander von Zusammengehörigkeit und Abgrenzung drückt sich in genau solchen Sätzen aus. Indem wir also Sätze sammeln, in denen der Begriff der Empathie auftaucht, indem wir andere Begriffe in diesen Sätzen finden, die die Grenze der Empathie bezeichnen, indem wir die innere Struktur der Empathie herauskristallisieren (nichts anderes versuchen Definitionen), stellen wir ein schärferes begriffliches Denken her.

Wie gesagt geht es nicht um Wahrheit. Auch Realität ist hier keine Begründung für Begriffsbildung.
Zunächst geht es um Trennschärfe, um Differenzierung. Es mag sein, dass sich im Laufe der Zeit eine leichtere Gangart herausbildet und dass man rascher spürt, ob man jemanden als empathisch empfindet. Aber allgemein ist die Bündelung und Strukturierung von Begriffen deshalb wertvoll, weil sie das Denken strukturiert, weil schärfere Meinungen besser Konflikte anziehen, und mit diesen Konflikten soziale Erfahrungen erworben werden, weil mit Begriffen besser Inhalte vermittelt und wiederholt werden können. Begriffe dienen der Kommunikation und letztendlich auch der Stabilität in einer Gruppe. Werden Begriffe ordentlich gebraucht, regulieren sie auch Konflikte: man streitet sich nicht mehr im diffusen Raum, sondern um wesentlich präzisere Phänomene.
Allerdings ist der Streit um prozessuale Begriffe nur begrenzt hilfreich. Prozessuale Begriffe sind immer Problembegriffe. Das heißt, sie sind empirisch nicht tatsächlich überprüfbar, sondern werden durch ausgewählte Gesichtspunkte in die Welt hineinkonstruiert.
Ob also ein Mensch empathisch ist oder nicht, ist aus zweierlei Gründen kein echter Streitpunkt. Erstens muss man jedem Menschen in irgendeiner Weise die Möglichkeit der Empathie zugestehen. Vielleicht haben Sie schon die Erfahrung gemacht, dass manchmal ganz kranke oder weltfremde Menschen eine ungeheure Sensibilität aufweisen, wie sie ihr Gegenüber austricksen oder verletzen können. Auch das ist eine Form der Empathie, wenn auch eine sehr unangenehme.
Zweitens ist die Beobachtung von Empathie keine normierbare Wahrnehmung. Man kann noch nicht einmal ernsthaft behaupten, der andere würde sich täuschen, wenn er dort empathisches Verhalten sehe. Es kommt nur darauf an, ob man empathisches Verhalten durch seine Ursachen und Wirkungen begründen kann.
Wenn also Peter versucht, Anna zu trösten und Anna reagiert darauf nur wütend, weil sie zu diesem Zeitpunkt Trost nicht annehmen kann, dann ist Peter noch lange nicht unempathisch. Er ist eben nur nicht empathisch genug, um auf Annas Zustand angemessen reagieren zu können. Ja, es kann sogar sein, dass Anna zwar zunächst wütend reagiert, später aber zugibt, dass ihr Peters Trost sehr geholfen hat, und dass man als Außenstehender beobachtet, dass Peter genau mit dieser Wut gerechnet hat und trotzdem so gehandelt hat; weil seine Empathie sich nicht auf den kurzfristigen Zustand, sondern auf die langfristigen Folgen gerichtet hat.
Prozessuale Begriffe legen nicht ein für allemal fest. Ihre Anwendbarkeit kann im Nachhinein bestritten oder legitimiert werden. Sie sind definitiv unsicher.

Trotzdem brauchen wir natürlich auch für solche Begriffe Definitionen. Wir können die Empathie nur so als prozessbegleitende Größe neben anderen solcher Größen herauskristallisieren (ähnlich gelagert sind operationale Ziele).
Für das Beispiel mit Peter und Anna kann man dann sagen, dass Peter strategische Voraussicht, Konfliktfähigkeit und psychologisches Geschick beweist. In welchem Mischungsverhältnis das steht, ist unerheblich. Wichtiger ist, dass jemand, der die Szene zwischen Peter und Anna beobachtet, sagen kann, dass Peter empathisch ist, weil er Annas Trauer begreift, dass er konfliktfähig ist, weil er sich auf den Wutausbruch von Anna einlässt, dass er strategische Voraussicht besitzt, weil er damit rechnet, dass Annas Wut verpuffen wird, und dass er psychologisches Geschick hat, weil er Wutausbrüche als Notwendigkeit für die Trauerarbeit kennt und bejaht.
Gäbe es diesen Peter wirklich: vermutlich wird er nichts von dem, was wir hier gerade auseinander klabüsern, in dieser Situation gedacht haben. Wir konstruieren es in die Situation hinein, ohne eine letzte Gewissheit zu haben. Wir müssen uns auf die Plausibilität stützen, die unsere Beobachtungen haben. Ohne Begriffe aber würden wir die Plausibilität nicht mitteilen und nicht ansatzweise begründen können.
Darum
geht es selbst bei Begriffen, die nie dingfest gemacht werden können.

RH = Willems, Herbert: Rahmen und Habitus, Frankfurt am Main 1997

Zitieren, Kritisieren, Transfer

Vorhin habe ich mit Sebastian telefoniert. Der Bereich der sogenannten Soft-Skills interessiert uns beide sehr. Sebastian geht mit diesen ganzen Konzepten zum Glück sehr gelassen um. Mich beschäftigen vor allem die klassischeren Konzepte, die dahinter stehen. So findet sich unter dem Begriff der Einfühlung ein ganzer Schwarm an Konzepten in der klassischen Literatur, die dem modernen Begriff der Empathie nahe stehen.
Jedenfalls fallen mir immer wieder zwei Sachen auf.
Zum einen werden Begriffe nicht ordentlich ausgearbeitet. Ich habe es immer mal wieder hier im Blog beklagt. Begriffe sind ja nicht nur wissenschaftlich. Das bezweifle ich sogar am meisten. Begriffe sind vor allem kognitive Muster, die relativ stabil sind und deshalb das Denken und Handeln stabilisieren. Ohne Begriffe also kein strukturiertes Denken und ohne strukturiertes Denken kein tiefer Charakter. Begriffsarbeit ist Charakterbildung.
Begriffe entwickeln sich nicht wahllos. Zwischen Gebrauch und Kritik von Begriffen liegt kein Gegensatz, sondern eher ein Verhältnis gegenseitiger Steigerung: je mehr ich einen Begriff gebrauche, umso mehr kann ich ihn kritisieren. Kritisieren heißt in diesem Fall ja auch: ich kann den Begriff in seine Schranken verweisen. Und damit kann ich umso eher seine Funktion innerhalb meines Denkens, innerhalb einer Theorie, innerhalb des Handelns erfassen. Denn indem ich einen Begriff in seine Schranken verweise, kläre ich gleichzeitig ab, was andere Begriffe leisten und kann so die jeweils passenden Begriffe benutzen.

Zum anderen: Um Begriffe "professionell" zu bilden, ist ihr historischer Gebrauch wesentlich. Damit ist vor allem die Definition und Verwendung eines Begriffs gemeint, sei es in der jüngsten, sei es in der ältesten Literatur. Nun verweist man auf andere Literatur durch Zitate. Und hier findet man wieder eine recht dämliche Marktstrategie: in Coaching- und Beratungsbüchern wird eher schlecht oder gar nicht zitiert, als habe man sich alles selbst ausgedacht. Auch die Unart vieler Pädagogikbücher, nicht mehr seitengenau zu zitieren, sondern nur noch pauschal auf ein Buch zu verweisen, gehört hierher.
Damit werden Zitate aber schlecht oder gar nicht überprüfbar. Begriffsbildung im historischen und kulturellen Kontext findet nur noch lax statt. Denn niemand kann wirklich nachvollziehen, ob hier genau gelesen wurde. Was in anderen wissenschaftlichen Bereichen noch gang und gäbe ist, schaffen die modernen Ratgeber ab. Vergleiche aber sind nicht nur für die Kritik, sondern auch die Differenzierung des Denkens wichtig.

All dies - fehlende Begriffe, fehlendes Zitieren - ist aber blind: Begriffe, deren eine Seite, die Kritik, wegfällt, verlieren auch rasch ihre andere Seite: die Anwendbarkeit. Begriffe lösen sich zu Worthülsen auf.

Sebastian erzählt immer mal wieder, dass manche Trainingsteilnehmer wenig bis garnichts aus den Seminaren mitzunehmen scheinen (vgl. dazu auf seiner Homepage unter Downloads Coachingarbeit mit den neurologischen Ebenen). Anders als Sebastian sehe ich hier den Schwerpunkt des Problems in den fehlenden Begriffen. Begriffe sorgen für Transfer, indem sie abstrahieren. Die Abstraktion ist vorrangig keine Methode, um zu Oberbegriffen zu kommen, sondern um eine konkrete Situation so weit zu entkleiden, dass ich sie auf andere Situationen anwenden kann.
Wenn ich am 24.05.2003 um 15.23 Uhr in einem kleinen Bach in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen eine Forelle gesehen habe und zufällig vor mich hingedacht hätte: Dieses Wesen nenne ich jetzt, wie es zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort schwimmt, Forelle, dann könnte ich diese Erfahrung nicht übertragen und jede andere Forelle bräuchte einen anderen Namen. Indem ich aber von den konkreten Umständen abstrahiere, kann ich sehr ähnliche Fische ebenfalls als Forellen benennen, kann sogar noch weiter abstrahieren, kann die Forellenartigen und die Fische als Klassifikation entdecken, die Wirbeltiere, und so fort.
Und ähnlich ergeht es uns mit Begriffen in der sozialen Umwelt. Mit grundsätzlichen Begriffen wie Norm, Rahmen, Habitus kann ich das Verhalten meiner Mitmenschen in einen Erklärungszusammenhang bringen, ohne auf jeweils neue Theorien zurückgreifen zu müssen.

Warum brauchen wir diesen Transfer zum Beispiel im Training?
Nehmen wir an, dass die Teilnehmer des Trainings nicht wirklich am Training interessiert sind. Das ist bei betrieblichen Veranstaltungen des öfteren so. Dann muss man gerade diesen Teilnehmern Möglichkeiten bieten, die trainierten Inhalte auch in Bereiche zu transferieren, die diese wirklich interessieren. Im Bereich der Kommunikation sollte das sogar ein Selbstgänger sein, denn Menschen ohne Kommunikation gibt es nicht. Diesen jeweils einzelnen Transfer kann ein Trainer natürlich nicht leisten. Aber er kann Begriffe vermitteln, handlungsleitende Begriffe, die sowohl für den Betrieb als auch für das Privatleben wichtig sind.
Für ein Training mit teilweise trainingsunwilligen Teilnehmern bedeutet das, dass man didaktisch so vorgeht, dass Inhalte erstens abstrahiert und zweitens transferiert werden. Im Vortrag sollte der Trainer also eine gute Mischung aus betriebsrelevanten und alltagsrelevanten Beispielen bringen. Wie wir Kommunikationsberater den Teilnehmern beibringen, sie sollten die Sprache ihrer Kunden sprechen, d.h. Wörter, Inhalte, Stimme, und - in den Bildern - Lebensbezüge übernehmen, so müssen Trainer das ihrerseits für die Mitarbeiter tun. - Das ist übrigens keineswegs einfach. Es gibt ja diesen Spruch: Hol' das Kind dort ab, wo es steht! Und ähnliches, so sieht es hier jedenfalls aus, fordere ich für das Training von Erwachsenen. Nur ist erstens dieser Spruch durch eine so arge räumliche Metapher verunstaltet, dass es mich als Linguist ziemlich schüttelt. Und jede Diagnose ist zweitens bereits mit Handeln verbunden. Würde ich mit dem Training erst dann anfangen, wenn ich wüsste, wo die Teilnehmer stehen, wäre das zunächst wie Waschen, ohne jemanden nass zu machen: ich muss aber mit einem Menschen Umgang haben, wenn ich ihn kennen lernen will. Training und Diagnose greifen ineinander. Sie können fehl gehen, weil man als Trainer nicht jedem Faden folgen kann, nicht jede Regung beachten kann. Und wenn ich - um zum Thema zurückzukommen - Transferbeispiele gebe, dann wird dadurch natürlich nicht jeder Teilnehmer angesprochen.
Mit dem Transfer wird den Teilnehmern jedenfalls die Möglichkeit gegeben, Strategien und Funktionen der Kommunikation dort zu trainieren, wo sie ihnen wichtig sind. Und dadurch wirken diese auf die geforderten Leistungen der innerbetrieblichen Kommunikation zurück.

Kehren wir zu den Begriffen zurück: unausgearbeitete Begriffe verlieren ihren Halt und werden für das Denken unbrauchbar. Sie haben weder Trennschärfe noch Tiefenschärfe, blähen sich zu allmächtigen Beschwörungsformeln auf und verpuffen zu ohnmächtigen Nichtigkeiten. Selbst die Sprache wird an ihnen schwankend. Sie lassen sich nicht mehr gut vermitteln. Und wer kennt das nicht, diese Trainings, die sich durch schauerliche Begeisterung von einem Wirrwarr zum nächsten hangeln, und nach denen selbst der Trainer vor lauter durchgehaltener Glücksseligkeit ausgelaugt ist?
Arbeit an den Begriffen also ist notwendig. Die Coaching-Literatur unterminiert diesen Anspruch, indem sie ihre Quellen teilweise garnicht mehr offen legt, um, das ist wahrscheinlich, der Kritik zu entgehen.

01.12.2008

Gender Marketing

Das ist wirklich eine drollige Sache: es gibt ein Gender Marketing.
Unter Doing Gender hatte ich bisher immer abgehandelt, dass das biologische Geschlecht in seiner Bedeutung abgebaut und die kulturellen Geschlechter vervielfältigt werden, insgesamt also ein Auflösen aller Kategorien. Jedem sein eigenes Geschlecht!, wie Gilles Deleuze sagt und hier das Frau-, Tier- und Unsichtbar-Werden empfiehlt.
Nun stoße ich auf eben dieses Gender Marketing. Es nehme die Frau als Kundin und als kaufentscheidende Kraft ernst. Ja ja. Und es setze eben eine neue Gleichheit durch. Ja ja. Wundervoll! Wirklich!
Da entstehen für mich dann nur dieselben alten Fragen. Denn die Frau an sich gibt es ja erstens nicht, und zweitens ist das Durchsetzen von Gender Marketing nur auf Frauen gerichtet, die als Konsumentinnen gelten können, also all jene Frauen, die einen sowieso schon gehobenen Status haben. Die enabled bodies theory kritisiert dann auch genau, dass man mit seinen Vorzeige-Schwulen, Vorzeige-Negern und Vorzeige-Frauen eben noch lange nicht durchgesetzt hat, was anti-homophobe, anti-rassistische und anti-sexistische Kampagnen wollen, nämlich die Unbedeutendheit dieser Differenzen.
Marketing kann aus seinem Wesen heraus nicht individuell ansprechen, ist auf die Konstruktion von Kundengruppen angewiesen und damit auf die Konstruktion von Stereotypen.
Wie man in einem Artikel des Feministischen Instituts Hamburg lesen kann, kehren hier aber nicht nur die Undeutlichkeiten zwischen sex/gender massiv zurück, mithin also eine Biologisierung des kulturellen Geschlechts, sondern auch eine Funktionalisierung der Frau aus rein strategischen, d.h. ökonomischen Interessen: es geht um Konsum-Bedürfnisse und Kaufinteressen und nicht um Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die abgebaut und aufgelöst werden.
Skoda umwirbt zum Beispiel den Mann als Vater. Peinlich ist nur dabei, dass der Sohn eine Parodie auf die nörgelnde Ehefrau darstellt, und damit den Vater als den unterdrückten Pantoffelheld, der trotzdem macht, was er will, gerade nur bestätigt. Das eben kommt dabei heraus, wenn man Gender-Marketing macht. Eine Verschlimmbesserung.
Mit dem Slogan Your pussy's clapping wirbt ein Tamponhersteller. Man stelle sich da ein Äquivalent für Männer vor.

Motivation und Problemorientierung

Wie oft habe ich erlebt, dass sogenannte Motivationstrainer oder Teamleiter durch Lob ihre Mitarbeiter zu motivieren versuchen. Gerade lese ich wieder den wunderbaren Satz von Sprenger, dass Belohnung zwar motiviere, nicht jedoch zum Arbeiten, sondern zum Belohnt-Werden. Und ähnlich ist es doch mit dem Lob: dieses motiviert vor allem zum Gelobt-Werden. Dreikurs - ein amerikanischer Vertreter der Adlerschen Individualpsychologie - hat deshalb das Lob als eine Form der Manipulation angesehen, und diesem die Ermutigung entgegengestellt.
Ich trage seit Jahren eine ganz andere Idee mit mir herum: man muss sich die Dinge interessant machen. Was aber heißt das?
Geht man von der Neurophysiologie aus, dann ist unser Gehirn darauf gepolt, neue Informationen zu sammeln. Dabei gibt es einen goldenen Mittelweg: weder zu viele Informationen noch zu wenige. Man kann also ganz allgemein davon ausgehen, dass jeder Mensch lernen will, weil sein Gehirn lernen muss.
Interessante Dinge sind folglich Dinge, die genügend Neuheiten versprechen. Betrachtet man die Motivation, so kann diese aus zweierlei Gründen versagen: entweder gibt es zu viel Neuheit oder zu wenig. In beiden Fällen aber hilft es, hier auf eine Problemorientierung umzusteigen.
Denn sowohl wenn man aus zu viel Neuheit vor einer Sache zurückschreckt, als auch, wenn man durch zu wenig Neuheit gelangweilt ist, kann die Arbeit an Problemen zurück zum Lernen führen, und zwar einfach dadurch, dass man die Probleme ausarbeitet und differenziert. Für den Überforderten strukturiert sich damit das Problem und wird überschaubarer, für den Gelangweilten ergeben sich hier Möglichkeiten des Mitdenkens, Mithandelns.
Natürlich wird dies nicht immer so funktionieren. Um sich mit einem Thema über Jahre zu beschäftigen, sollte es sich schon um "ein weites Feld" handeln. Und wenn es nicht so ist, dann hilft nach einiger Zeit auch die beste Problemorientierung nicht mehr.

30.11.2008

Vendetta (Donna Leon)

Ich habe heute nachmittag das Buch Vendetta von Donna Leon fertig gelesen. Ich bin immer noch ein wenig atemlos. Der Krimi ist hervorragend konstruiert, vom ersten bis zum letzten Moment, in der ganzen Hoffnungslosigkeit, die in dem Fall steckt, in dem Zynismus, den die Autorin in das Geschehen hineinkonstruiert und natürlich in dem Appell, der in der Geschichte steckt, ohne dass sich Leon ins Moralisieren ergehen muss.
Bücher, die ich mehrmals gelesen habe, und die mich immer wieder so ergreifen, kann ich nur als meine Lieblingsbücher bezeichnen. Die Krimis von Donna Leon gehören, obwohl sie Krimis sind, dazu. Da ich jetzt die Geschichte auf ihre rhetorischen Strategien hin analysiere, werde ich demnächst nicht mehr viel mit Leon zu tun haben. Das ist ein übliches Phänomen bei mir. Ein gutes Buch zu erklären, macht das Buch nach und nach langweilig, ähnlich wie man einen Witz erklärt und das keineswegs lustig wird.
Warum ich trotzdem so mit Büchern umgehe? Weil sich dadurch mein eigenes Schreiben verbessert. Und das ist mir wesentlich wichtiger, als Lieblingsbücher zu besitzen.

Diplomarbeit schreiben

Eine Diplomarbeit zu schreiben ist nicht ganz so einfach. Weiß jeder, der eine vor oder hinter sich hat. OK, ich rede nicht von den beiden grauslichen Doktorarbeiten, die ich neulich gelesen habe, und die beide dermaßen unstrukturiert und banal waren, dass ich nur entsetzt war. Nein, ich rede von ehrlichem Handwerk und einer ehrlichen wissenschaftlichen Gesinnung, die eben neue Erkenntnisse zu Tage fördern will.
Wie also fängt man an?
Eigentlich ganz einfach: man stellt eine These auf, die bewiesen werden soll. Eine These ist - wenn man sie so benutzt - ein Ziel, und mit einem Ziel, von dem man nicht weiß, wie man zu ihm kommen soll, hat man ein Problem. Toll, werden Sie sich sagen, jetzt weiß ich also, dass das, was für mich vorher ein Problem war, auch hinterher ein Problem ist. Klar, mit dem Unterschied, dass die These genauer festlegt, welches Problem man hat.
Das Ziel vor Augen kann man sich jetzt Gedanken um den Weg dorthin machen. Hier geht es darum, mögliche Schritte zu sammeln und zu ordnen. Ordnen wird übrigens von den meisten Menschen so verstanden, dass man alle Schritte eingeordnet hat, dass ein Weg entworfen worden ist, auf dem man von a nach b nach c und so weiter kommt. Gerade das ist aber mit Ordnen (noch) nicht gemeint. Hier geht es eher darum, dass man Sequenzen entwirft, also Schritte, die man schon einmal gliedern kann, aber nicht, bereits alles zu gliedern.
Dazu braucht man ein wenig Gelassenheit. Logisch!
Mit dieser Teilordnung kann man sich ans Brainstorming machen. Man schreibt zu jedem Arbeitsschritt alle Dinge auf, die einem einfallen. Und hier kann man sich dann (endlich auch) an das Lesen von Sekundärliteratur machen. Erst das Brainstorming, dann das Lesen, dann das Brainstorming ergänzen und umschreiben.
Und jetzt, jetzt erst kommt man wieder auf den großen Plan zurück: Welche Begriffe und Voraussetzungen habe ich zu klären? Welche Quellen benötige ich? Welche Teile der Arbeit sind die Teile, in denen ich etwas Neues schreibe und nicht nur Quellen zusammenfasse, erläutere und kritisiere? Kann sich meine erste These auch nach dieser ersten Bearbeitung halten oder muss ich sie umformulieren?

Da ich zur Zeit drei Diplomarbeiten inoffiziell betreue (und - zum Glück! - keine Romane), sehe ich das größte Problem immer noch darin, dass es bei den Studenten wenig Schreibstrategien gibt. In den USA gibt es regelmäßige Pflichten zu Essays. Das ist eine sehr sinnvolle Einrichtung. Denn einen Essay zu schreiben ist nichts anderes, als eine Teilsequenz einer größeren Arbeit mit einer gewissen Launigkeit auszuformulieren. Der Essay fängt nicht bei Adam und Eva an und endet nicht mit dem jüngsten Gericht. So hat es schon Adorno konstatiert.
Eine tägliche Schreibpraxis gehört also dazu, und eine Schreibpraxis, in der man zu nichts verpflichtet ist, als dort anzufangen, wo man Lust hat und dort aufzuhören, wo einem das Weiterdenken zur Last wird. Ähnlich, wie ich es hier in meinem Blog halte.

29.11.2008

Plotten: Machination (und der Sinn von Krimilektüre)

Noch eine kurze Zwischenbemerkung (die wahrscheinlich wieder jeden meiner Leser wild machen wird: nicht, weil sie so sehnsüchtig die Abschlussbemerkung erwarten werden, sondern weil sie so undeutlich ist):
Bei der Arbeit an Artemis Fowl (Donna Leon als kleine Nebenlektüre) bin ich auf das Thema des Planens gestoßen (sagte ich ja bereits). Fowl, das kleine, geniale Verbrechergenie, plant ziemlich trickreich seine Coups, und dem muss man erstmal auf die Spur kommen, wie Colfer (der Autor von Artemis Fowl) dies schafft.
In der Literaturwissenschaft nennt man diesen Zusammenhang von Hinterlisten auch Machination.
Seit zwei Jahren beschäftige ich mich mit diesem Aspekt von Krimis, Abenteuergeschichten, Thrillern und anderen Geschichten. Zwar werden meine eigenen Geschichten immer schärfer und genauer, was den Einsatz von List und Strategie angeht, aber erklären kann ich es immer noch nicht gut. Ein Grund, warum ich noch so wenig darüber in diesem Blog schreibe.
Jedenfalls kam ich jetzt zu dem Thema Planung, einfach dadurch, dass das Planen ein Element in den Geschichten um Artemis Fowl ist. Und durchforste meinen Zettelkasten, insbesondere aber die Luhmannsche Systemtheorie.
Bei der Arbeit sind mir noch einmal wesentliche Probleme beim Plotten aufgefallen: Plotten ist ja der Entwurf einer Geschichte, und zwar bevor man die Geschichte schreibt (nicht, wie manche glauben, währenddessen, oder - ganz schlimm - hinterher: dabei kommen immer nur Rechtfertigungen heraus, nicht Pläne).
Jedenfalls ist das Plotten dem Verlauf eines Krimis oder einer trickreichen Geschichte sehr ähnlich. Man muss als Autor den Leser durch eine dramatische Szene packen, ihn dann - durch die Geschichte - auf eine Spurensuche schicken und schließlich alles in einer großen Auflösung (dénouement) enden lassen. Ob dies ein Krimi ist oder ein erotischer Roman, ist hier ziemlich gleich. Wichtig ist vor allem die Spurensuche, die hier Stück für Stück, also Szene für Szene das Puzzle darstellt und ineinander verbindet. Eben, wie das ein Hercule Poirot für einen Mord macht. Sogar die romantischen Thriller von Shirley Busbee (ich würde sie ja eher als pseudo-pornographisches Gewaber bezeichnen) funktionieren so, und, es wundert nicht, auch Stiller von Max Frisch.
Das geht? Nun, wichtig ist, was sozusagen anstelle des Mordes steht. Bei Stiller ist es die Identität und ihre ganze Fragwürdigkeit. Das ist dann "philosophisch" ausgeführt. Bei Shirley Busbee dagegen ist es das Glück der sexuellen Blendung (denn letzten Endes sind all diese Frauen so klassische Doofhühner mit einem starken Hang zur Hörigkeit, dass kaum etwas anderes herauskommen kann als ein vertrotteltes Ende (nur um den Unterschied zwischen Frisch und Busbee deutlich zu machen)).
Trotzdem: Spurensuche, mal mehr, mal weniger stringent durchgezogen, mal nach und nach erhellend (zum Beispiel bei Donna Leon), mal auf ärgerliche Weise überraschend (wie bei Sebastian Fitzek), mal grotesk sich zweimal um sich selbst drehend (wie bei Artemis Fowl oder auch Commissario Montalbano).
Deshalb scheint es mir mehr und mehr sinnvoll, dass Autoren sich viel mit (guten) Kriminalromanen beschäftigen: diese führen in der Geschichte und als Geschichte vor, wie man als Autor eine Geschichte spannend anlegt.

27.11.2008

Ziele und Probleme

Planen ist, wenn man sich diese Tätigkeit ansieht, ein faszinierendes Geschäft. Man plant ja, um ein Ziel zu erreichen. Bei Luhmann fand ich nun fast den umgedrehten Gedankengang: Man legt ein Ziel fest, um ein Problem zu erzeugen, das man dann wegplanen kann.
Wenn man in die neuere Geschichte der Unterhaltungsliteratur schaut, dann wird man ein berühmtes Beispiel für diesen Weg finden: Harry Potter. Joan Rowling schrieb zuallererst das Ende der Geschichte, um dann alles, was vorher kommt, zu entwerfen. Sie sagte, sie brauche etwas, auf das sie hinschreiben könne. Nun ist es tatsächlich so, dass sie sich also ein Problem entworfen hat, allerdings ein gut strukturiertes Problem, denn das Setting und die ungefähre Einteilung der Geschichte standen ja ebenfalls fest.
Dies ist die zweite Leistung eines Ziels: es trifft eine Vorauswahl aus dem, was für uns problematisch sein soll. Wenn es mein Ziel ist, meinen Hunger zu stillen, dann werde ich nicht losgehen, um Kinder zu erschrecken (es sei denn, ich hoffe, dass sie ihre Pausenbrote aus lauter Angst wegwerfen). Ziele treffen hier eine konventionelle Vorauswahl: ich kann aus meinen Kühlschrankinhalt (ein Ei, ein Blauschimmelkäse, drei Tomaten und ein Hähnchenbrustfilet) etwas zu kochen versuchen, oder in den Aldi gehen, oder zum Imbiss an die Ecke. Ungewöhnlichere Methoden kommen mir vielleicht nicht so in den Sinn: ich überrede meine Nachbarin, dass ich auf ihr Kind aufpasse, damit sie ins Kino gehen kann und plündere dann ihren Kühlschrank.
Zielsetzungen leisten also hier zweierlei: sie treffen eine Vorauswahl an Lösungsmöglichkeiten für ein Problem, das sie geschaffen haben.

Handwerker-Ernst

Da ich zur Zeit 1. an einem Artikel über Artemis Fowl bin, 2. zu Werten, Regeln und Grenzen in Gruppen sammle, durchforste ich auch wieder meinen Zettelkasten.
Dabei bin ich auf ein Nietzsche-Zitat gestoßen, das mir sehr gelegen kommt. Die Arbeit zu Artemis Fowl wird sich zwischen zwei Polen aufspannen: einmal der kurzen Schreibweise, wie Barthes sie verwendet (obwohl ich mich hier nicht mit ihm vergleichen möchte), zum anderen dem Einüben von Erzählelementen, die Christof amerikanische Schreibdidaktik nennt. Nietzsche nun schrieb in seinem Buch Menschliches, Allzumenschliches I folgendes:
§ 153 Der Ernst des Handwerks. - Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten! Es sind große Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie bekamen Größe, wurden "Genie's" (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Teile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein großes Ganzes zu machen; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten, als an dem Effekte eines blendenden Ganzen.

25.11.2008

Trainieren

Matthias Pöhm - um hier mal auf ihn zurückzukommen - schreibt, dass man neues Verhalten trainieren müsse, sonst ändert sich nichts.
Nun hatte ich neulich geschrieben, dass man Elemente des Erzählens mehrfach einüben sollte. Warum? Damit man sie beim Schreiben in den Text einbauen kann. Hier immer nur auf kreative Methoden zurückzugreifen, ist nicht sinnvoll. Zahlreiche kreative Methoden sind einfach zu wenig strukturiert.
Dazu zwei Anmerkungen:

1. Pöhm geht davon aus, dass man Verhalten trainieren müsse. Dem stimme ich voll und ganz zu. Wenn man immer nur mit guten Ratschlägen kommt, ändert sich nichts. Aber: ich würde das Ganze noch ein wenig tiefer legen. Man muss auch die Beobachtung und die kognitive Verarbeitung trainieren.
Beobachtungen und kognitive Verarbeitungen lernt man, indem man Begriffe und Modelle immer wieder anwendet. Das geschieht zum Beispiel durch Analysen und Argumentationen.
Deshalb ist mir neben dem Einüben von Textelementen die Analyse von Texten wichtig. Und deshalb empfehle ich jedem Autor, nicht nur regelmäßig Fragmente aus Texten zu schreiben, sondern sich seine Beobachtungen zu Texten zu notieren und diese durchzukommentieren.

Ich nutze dazu mein Arbeitsbuch. Dieses ist eine Art Tagebuch, enthält also auch persönliche Dinge, aber eben alles, was mir persönlich auffällt, auch zu Romanen. Übrigens schreibe ich hier ohne großen Druck etwas Intelligentes zu produzieren, sondern einfach das, was mir gerade einfällt.

2. Ich habe oben geschrieben, kreative Methoden seien zu wenig strukturiert. Das ist natürlich ein Pauschalurteil.
Wenn man sich zum Beispiel Gabriele Ricos Buch Garantiert schreiben lernen ansieht, dann hat sie nicht, wie man das oft hört, die Methode des Clusters eingeführt, sondern die Methode, Cluster zu entwerfen und in Gedichte oder kleine Essays zu übersetzen. Es geht also nicht nur um den Ideenpool, sondern um die Übersetzung in einem strukturierteren Zusammenhang.

Warum aber ist das Strukturieren so wichtig?
Aus einem ganz einfachen Grund. Ein strukturierter Sachverhalt lässt sich einfacher merken. In der Intelligenzforschung misst man zum Beispiel einen Aspekt der Intelligenz daran, wie viele Elemente einer Menge sich ein Mensch merken kann, bevor er diese gruppieren muss. Wenn ich zum Beispiel eine Menge von Tieren habe - Kolibri, Dackel, Lachs, Truthahn, Siamese, Perser, Schleie, Setter -, und soll diese in zehn Sekunden auswendig lernen, teile ich mir die Menge in Gruppen ein. Ich nehme zum Beispiel alle Hunde und Katzen zusammen, und alle Vögel und Fische. Gruppen mit vier ungeordneten Elementen lassen sich leichter merken als Gruppen mit acht ungeordneten Elementen. Wer sich sieben ungeordnete Elemente merken kann, gilt als Gedächtniskünstler. Sieben ist nun nicht viel, und wir können erahnen, wie rasch wir beim Auswendiglernen anfangen müssen, Gruppen zu bilden.
Darum strukturieren wir also, darum brauchen wir auch Begriffe, Modelle, Abstraktionen. Nicht, um Theorie zu machen, sondern um besser zu behalten.

Übrigens kann man sich solche Listen wie die mit den Tieren auch noch anders merken: ich stelle mir aus diesen kleine Bilder zusammen, die die Elemente vereinigen. So habe ich für die ersten vier Elemente mir einen Dackel mit Kolibrischnabel und Truthahnschwanz vorgestellt, der ein Wehr hochspringt. Albern, aber extrem wirksam. Noch besser ist es, wenn man beide Raster hat: einmal indem man die Tiere in ihre regulären Klassen einteilt: Hunde, Katzen, Fische, Vögel, plus eben den Bildern.

Wenn ich eine andere Menge habe, die sich nicht in Bilder umsetzen lässt, dann suche ich nach einer anderen Lösung.
Telefonnummern merke ich mir, indem ich sie in eine kleine, mathematische Formel packe. Zum Beispiel: 41790227 (habe ich gerade erfunden, also bitte nicht anrufen) - darüber lege ich solche Sätze wie "Die dritte Zahl (7) ist die Summe der ersten beiden plus zwei." Hier kommt es nicht auf den Gesamtsinn an, sondern auf die Versprachlichung. Indem man ein Netz aus Sätzen um die Nummer spannt, bleibt sie besser im Gedächtnis haften. Auch hier nutze ich aber ein zweites Raster, nämlich das melodische. Ich singe mir (im Kopf) die Nummer mehrmals hintereinander vor.

Ein drittes Beispiel: als ich mich intensiv mit der Aufteilung von Geschichten in Szenen beschäftigt habe, habe ich drei grundlegende Szenetypen gefunden, die Handlungsszenen, die Informationsszenen und die Situationsszenen. Nimmt man die Anfangsbuchstaben der drei Szenetypen zusammen, dann erhält man das Wort HIS.
Nun gibt es verschiedene Funktionen von zum Beispiel Handlungsszenen in Romanen. Manche Szenen beginnen eher ruhig und enden mit einem konfliktreichen Höhepunkt. In einem meiner amerikanischen Schreibratgeber heißen diese Szenen increasing action scenes. Umgekehrt gibt es Szenen, die sich steigern, aber auch wieder abflauen, und deshalb decreasing action scenes heißen. Weiter gibt es Szenen, die schildern, wie etwas vorbereitet wird, umgebaut, aufgebaut wird, die manipulation scenes. Und schließlich gibt es Szenen, in denen Handlungen beobachtet werden, die observation scenes. Auch hier kann man sich aus den Anfangsbuchstaben ein Wort zusammenbasteln: IDMO.
Dasselbe habe ich dann für die Informationsszenen und die Situationsszenen gemacht und bekam dann eine Art sinnlosen Satz, der sich aber gut merken ließ: IDMO PRICED JED.

Trainieren besteht also nicht nur aus dem Einüben von anderem Verhalten, sondern auch aus dem Einüben von Beobachtungsrastern und Strukturierungsmöglichkeiten. Und natürlich muss man auch Beobachtungen und Strukturierungen wieder umfassend einbinden.
Es ist zwar nett, wenn man sich eine Menge aus vierzehn Wörtern rasch einprägen kann. Aber wenn man mit dieser Menge nichts weiter anfangen kann, führt dieses Auswendiglernen zu nichts.
Andererseits habe ich, als ich mich mit der Typologie von Szenen beschäftigt habe, nicht nur verschiedene Romane in ihrer Szenenabfolge analysiert, sondern auch selbst jeweils kleine Szenen zu jedem Typ geschrieben, also sowohl analytisch als auch kreativ gearbeitet. Und von diesem Training profitiere ich heute noch.