29.11.2012

Antisemitismus, noch einmal

Jakob Augstein beklagt den inflationären Gebrauch des Wortes Antisemitismus. Broder stichelt zurück. Und ich versuche gerade, die Rhetorik dieser beiden Herren in den Griff zu kriegen.
Das ist übrigens von Mal zu Mal für mich schwieriger. Durch meine Beschäftigung mit der Logik in ihren „Feinheiten“ verkompliziert sich die Sache extrem. Früher habe ich vor allem rhetorische Figuren untersucht. Aber hier bin ich ein ganzes Stück weit den Trugschlüssen moderner, populärer Rhetoriken aufgesessen, die dieses Gebiet mit dem sprachlichen Schmuck gleichsetzen. Die zweite Phase der Redegestaltung, die dispositio, ist allerdings immer die Ausgestaltung der Argumentation und gehört damit zur Argumentationslehre, bzw. zur Logik.
Ich mag Broders Text nicht wirklich. Aber in einem hat er auf jeden Fall recht: Antisemitismus beginnt nicht erst mit dem Holocaust. Und der Begriff ist nicht gut definiert. Auch darin hat Broder recht. Auf der anderen Seite bin ich aber auch strikt dagegen, den jüdischen Glauben und die israelische Staatsräson gleichzusetzen. Hier müssen unterschiedliche Argumentationen geführt werden und diese müssen auch hinreichend scharf getrennt werden. Ich bin ja mehr und mehr davon überzeugt, dass in dieser schlechten Trennung der Begriffe, in diesem Durcheinander der Argumentation ein wesentlicher Grund für den seit Jahren unverhohlen schwelenden Antisemitismus des deutschen Kleinbürgers ist. Aber hier muss man mit dem Finger gerade nicht nur auf Broder zeigen, sondern auch wiederum auf Augstein.

27.11.2012

Mikrologik IVc: Chandlers Mord im Regen

Es hat etwas länger gedauert, bis ich einige schöne Stellen zur Analyse gefunden habe. Es geht mir immer noch um die Ebenen der Motiviertheit, wobei ich den Schwerpunkt auf die Mikroebene lege, also auf die Motiviertheit von Satz zu Satz.

Chandlers Erzählung Mord im Regen befindet sich in dem gleichnamigen Sammelband aus dem Diogenes-Verlag. Es ist ein brillanter, kleiner Krimi, voller scharfer Sätze und wundervoller Metaphern und zeigt, warum dieser Autor nicht nur Unterhaltung, sondern große Literatur geschrieben hat.
Die Makroebene der Motiviertheit betrifft, zur Erinnerung, den Plot. Schon hier erweist sich die Geschichte als ungewöhnlich, denn der Ich-Erzähler wird nicht in den Fall verwickelt, weil ein Mord passiert. Er wird angeheuert, um dafür zu sorgen, dass ein gewisser Steiner seine Finger von einem Mädchen namens Carmen lässt. Der Ich-Erzähler soll dies mehr oder weniger legal tun. Als er jedoch Steiner verfolgt, wird er Zeuge von dessen Ermordung, wobei er den Mörder nicht erkennt.
Anschließend macht er sich, zusammen mit einem Kommissar (Veilchen M'Gee) auf die Suche nach dem Mörder und dem Grund für die Ermordung.
Der Plot ist also in gewisser Weise konventionell: es gibt einen Toten, einen unerkannten Mörder und eine gewisse Motivation, diesen Mörder aufzudecken. Ungewöhnlich ist allerdings die Art und Weise, wie der Ich-Erzähler in den Fall hineingerät. Denn eigentlich ist sein Auftrag ein ganz anderer.
Die Szene, aus der ich meine Textstelle entnehme, beginnt auf Seite 27. Der Mord an Steiner ist passiert. Der Ich-Erzähler wird am frühen Morgen vom befreundeten Kommissar angerufen, weil dieser einen Cadillac mit jemand drin in der Brandung vor dem Fischereihafen gefunden hat. Die Szene ist deshalb so wichtig, weil sie aus dem privaten Auftrag eine Zusammenarbeit zwischen dem Erzähler und dem Kommissar macht. Auf der Ebene der Motiviertheit ist sie relativ konfliktlos. Der Kommissar ruft an, um den Erzähler zur Mitarbeit zu bewegen und der Erzähler ist hinreichend motiviert, um darauf einzusteigen. So ist die Hauptinformation dieser Szene, dass es einen weiteren Toten gibt und wo dieser gefunden wurde.
Schauen wir uns nun die Mikroebene an:
(1) Veilchen M'Gee rief mich am Morgen an, noch ehe ich angezogen war, aber erst nachdem ich mir die Zeitung angesehen und nicht das geringste über Steiner darin gefunden hatte. Seine Stimme hatte den munteren Klang eines Menschen, der gut geschlafen und nicht allzu hohe Schulden hat.
(2) »Na, wie geht's unserm Jungchen denn?« fing er an.
(3) Ich sagte, mir ginge es ganz passabel, bloß daß ich zu viele weiße Mäuse im Haus hätte. (4) Er lachte ein bißchen abwesend, und dann wurde seine Stimme um einen Grad zu beiläufig.
(5) »Dieser Dravec, den ich dir rübergeschickt hatte - schon was für ihn gemacht?«
(6) »Zu schlechtes Wetter«, antwortete ich, wenn das eine Antwort war.
(7) »Hm, hm. Scheint mir einer zu sein, dem dauernd was passiert. Ein Wagen, der ihm gehört, liegt vorm Fischereihafen von Lido in der Brandung.«
(8) Ich sagte nichts. Ich hielt den Hörer sehr fest.
(9) »Tja«, fuhr M'Gee fröhlich fort. »Ein schöner neuer Cad, total ruiniert jetzt von Sand und Seewasser ... Ach, das hab' ich ganz vergessen. Es sitzt jemand drin.«
(10) Ich atmete langsam aus, sehr langsam. »Dravec?« flüsterte ich.
(11) »Nö. Ein junger Kerl. Ich hab's Dravec noch gar nicht erzählt. Also erstmal ganz unter uns. Hast du Lust, mit mir hinzufahren und dir die Geschichte mal anzuschauen?«
(12) Ich sagte, das würde ich gern.
Veilchen ruft wahrscheinlich deshalb an, weil er vermutet, dass der Erzähler etwas weiß. Aber er drängt nicht darauf, dass dieser sein Wissen preisgibt. Dazu muss man auch wissen, dass es der Kommissar war (also Veilchen), der dem Erzähler den Auftrag verschafft hat (4). Er belässt also dem Icherzähler seine Ehre und gibt ihm trotzdem die Möglichkeit, sein Wissen in den Fall einzubinden.
Der ganze erste Abschnitt zeigt, unter welchen Bedingungen Veilchen motiviert ist: den Bedingungen der Sorglosigkeit.
Der Icherzähler weicht aus. Er beruft sich (3) auf zu viele weiße Mäuse (d.h., er hat zu viel Alkohol getrunken), (6) auf das Wetter (eine offensichtliche Fehlinformation) und schließlich (8) schweigt er ganz. Sein Mikromotiv ist, dem Kommissar auf keinen Fall die Wahrheit zu sagen, ihn aber auch nicht allzu sehr zu belügen. Und das Mikromotiv des Kommissars ist, dem Icherzähler nicht allzu sehr zuzusetzen, ihn aber doch zu einer freundlichen Mitarbeit zu bewegen. Der kleine Tanz zwischen den beiden führt schließlich dazu, dass der Kommissar den Icherzähler dazu einlädt, den Unfallort zu besichtigen.
Es gibt zwei Konflikte, die diese kurze Szene strukturieren: der erste Konflikt betrifft die Geschehnisse der vorangegangenen Nacht, die der Icherzähler nicht preisgeben möchte (1-7); der zweite Konflikt betrifft die Identität des Toten (8-12). Beide Konflikte werden undramatisch gelöst, der erste, weil Veilchen nicht auf der Wahrheit beharrt, der zweite, weil beide Personen an der Kooperation eigentlich Interesse haben.

Zu dieser kleinen Passage könnte man eine ganze Menge sagen. Hätte ich hier strenger wissenschaftlich gearbeitet, wäre mein Text dazu auch mindestens dreimal so lang ausgefallen. Viele der kleinen Motiviertheiten habe ich nicht angesprochen. Aber ich denke, sie lesen sich weitestgehend von selbst. Ich verweise allerdings noch einmal besonders auf den von mir mit (9) markierten Satz. Veilchen fährt „fröhlich“ fort. Zunächst gibt er nur die Nebeninformation, den ruinierten Cadillac. Dann allerdings setzt er die Hauptinformation hinzu, den zweiten Toten. Der Icherzähler reagiert dementsprechend. Er befürchtet zunächst, dass sein Auftraggeber ermordet wurde.
Die Szene verläuft vielleicht insgesamt eher banal. Auf der Ebene der Motiviertheit gibt es aber zentrale Spannungspunkte. Chandler verarbeitet diese in seiner gewohnt lakonischen Art.

Und, Nachtrag!, ich weise auch noch mal darauf hin, wie geschickt Chandler Bedürfnisse und Motive andeutet, durch Handlungen, durch die einzelnen Beiträge, ohne sie selbst erwähnen zu müssen. So trägt man den Leser hervorragend durch seine Geschichte.

»Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer gefährlich überfremdet.«

Es gibt manchmal so hässliche Sätze, wie zum Beispiel dieser hier. Was sagt dieser Satz? Im Prinzip nur: Überfremdung überfremdet. Er ist eine Tautologie.
Die wichtigen Aussagen in diesem Satz werden am Rande getroffen, zum Beispiel in dem Wörtchen „gefährlich“. Dabei geht es gar nicht darum, dieses Wörtchen generell abzulehnen. Die Frage ist nur: gefährlich in welcher Weise, durch was genau und in Bezug auf was? Ich bin an dieser Stelle immer bass erstaunt, dass dann große deutsche Schriftsteller herbeizitiert werden, die die wenigsten Deutschen jemals gelesen haben. Schon vor 30 Jahren nicht und heute erst recht nicht mehr. Und irgendwie entzieht das diesem Satz jegliche sinnvolle Basis.
Aber irgendwie habe ich hier sowieso das Gefühl, dass die Deutschen in Sachen Kultur recht debil sind. Es gibt nur noch wenige Menschen, die sich ernsthaft mit einem klassischen Literaten, einem Musiker, einem Schriftsteller beschäftigen. Gerade habe ich gesehen, dass die drei beliebtesten Liebesromane des vergangenen Jahres die drei Shades of Grey sind. Hatten wir da nicht auch: Kirchhoffs Die Liebe in groben Zügen? Walsers Dreizehntes Kapitel? Genazino?
Na gut. Da ich neulich die Leser von ChickLit als unkultiviert bezeichnet habe (allerdings in einem etwas eigenen Zusammenhang), hat eine dieser Damen beschlossen, dass ich arrogant sei und man mich nicht mehr lesen dürfe. Ich leide zwar noch nicht unter Leserschwund. Aber ab jetzt. Arrogante Blogger sind auf jeden Fall böse.

(Nachtrag, der etwas hinkt: Eben, 15.01.2013, schrieb mir ein Leser folgenden Satz: "Milchgeschmack ist durch die Zufuhr von Kakao gefährdet.". Im ersten Moment stimmt's noch, im zweiten nicht mehr. Aber er ist genauso absurd.)

26.11.2012

Was sind gute Metaphern?

fragt Barbara.

Liebe Barbara! Wenn ich das wüsste. Es gibt zwar so etwas wie grobe Richtlinien. Aber das sind eben nur grobe Richtlinien.

Früher hat man Metaphern unter anderem in tote, verblassende, lebendige und kühne Metaphern eingeteilt. Je nachdem, wie neuartig eine Metapher empfunden wurde. Eine tote Metapher wäre zum Beispiel "die Müdigkeit in seinen Knochen spüren". Sie sind zu Floskeln oder zu Redewendungen geworden und werden in ihrer Bildlichkeit kaum noch wahrgenommen.
Kühne Metaphern dagegen sind höchst "poetisch" und manchmal sogar unverständlich. "Sie schwamm im ausgefransten Nachtherz." Dazwischen ist dann sozusagen alles an Metaphern möglich.
Wie Metaphern gut ausgewählt werden, ist eine Sache der Textsorte.
Kühne Metaphern taugen nicht für Spannungsromane. Lebendige Metaphern können hier zur Verbildlichung von Landschaften oder Gegenständen eingesetzt werden ("eine diamantenhelle Luft"), auch zur Personencharakterisierung ("ein klebriges Buckeln"). Aber sie wirken, wenn sie zu häufig eingesetzt werden, als überpoetisierend. Und das sollte man in Spannungsromanen vermeiden. Deshalb sind Metaphern nicht die erste Wahl, was zum Beispiel Thriller angeht. Stephen King nutzt häufig Vergleiche. Crichton dagegen schafft es, durch sehr präzise Beschreibungen und einem insgesamt sehr nüchternen Sprachstil sogar weitestgehend auf die Metapher zu verzichten (was ich faszinierend finde: weil das Fehlen von Metaphern in erzählenden Texten normalerweise als schlecht empfunden wird).
Es ist also eine Frage des Geschmacks und des persönlichen Stils, was eine gute Metapher ist.
Es gibt, wie gesagt, zahlreiche Arten zu verbildlichen. Die Metapher, bzw. die Analogie sind zwei Formen davon. Und wie du diese einsetzt, ist eben eine Frage des Genres auf der einen Seite und eine Frage des Geschmacks auf der anderen Seite. Hier kann ich dann nur noch den Tipp geben: ausprobieren und herumexperimentieren, was für dich richtig ist.

Analogie und Verbildlichung

Auch wenn dieses Buch nur bedingt populär geschriebenen ist, also vielleicht für den einen oder anderen Leser tatsächlich erstmal Probleme bereitet, möchte ich auf mein Buch Metaphorik. Strategien der Verbildlichung hinweisen. Besonders wichtig empfinde ich die Analogie, da diese sowohl eine Form der Logik darstellt, als auch den Übergang zu der Metapher. Aus einigen Anmerkungen, die Kant in seiner Anthropologie macht, kann man den Bezug zu einer flexibel genutzten Bildung herstellen, der durch die Analogie ermöglicht wird.
Und natürlich, aber nein: so natürlich erscheint das erstmal gar nicht. Die Analogie gehört wesentlich zu einem humorvollen Denken mit dazu. Nicht dem Ergebnis nach, aber auf dem Weg dorthin ist die Analogie eine wichtige Denktechnik, um Witze herzustellen.
Mir fällt allerdings auch auf, dass viele junge Schriftsteller die Verbildlichung wenig oder gar nicht nutzen, allerhöchstens in Form der Beschreibung. Nun will ich gar nichts gegen die Beschreibung sagen. Etwas gut beschreiben zu können ist eine hohe Kunst. Aber sie wird, wenn sie ganz ohne Redeschmuck daherkommt, recht bieder. Schließlich handelt es sich bei Romanen nicht um wissenschaftliche Darstellungen. Die Metapher, der Vergleich, die Analogie selbst, die Synekdoche und die Katachrese, all dies sind Figuren, mit denen man seine Texte lebendiger machen kann. Hier ist dann allerdings auch ein wenig Originalität und Kreativität gefragt.
Adlons Buch Ausradiert zum Beispiel hat im ersten Kapitel neun analogienahe Figuren auf ungefähr 1440 Wörter. Das ist für einen erzählenden Text schon extrem wenig. Keine dieser Figuren ist jedoch originell; es sind alles Floskeln, zum Beispiel „die Müdigkeit in seinen Knochen spüren“. Dadurch wirkt der ganze Schreibstil uninspiriert und belanglos.
Es ist natürlich immer ein Problem. In eher konventionellen Genres wie dem Thriller darf man auch nicht zu originell sein, weil sich sonst die sprachliche Ebene über die narrative Ebene stülpt und ein Thriller hat eben tatsächlich die Aufgabe, durch eine Geschichte zu unterhalten; die rhetorische Sprache muss geschickt zur Unterstützung eingesetzt werden, darf aber nicht die Aufmerksamkeit des Lesers an sich reißen. Es sei denn, der Leser will das (weil er zum Beispiel ein solches Buch literaturwissenschaftlich untersucht).
Jedenfalls ist es mir in den letzten Tagen wieder sehr aufgefallen: die Fähigkeit, sich Analogien auszudenken (bzw. sinnvolle und originelle Metapher), liegt bei vielen Schriftstellern brach. So urteilt die Berliner Literaturwissenschaftlerin Ina Hartwig über Shades of Grey: „Um auf E. L. James zurückzukommen: Sie ist literarisch gesehen völlig untalentiert, ihre metaphorische Begabung ist gleich Null.“ Ich nehme an, dass Hartwig mit metaphorischer Begabung etwas sehr Ähnliches meint wie ich mit der Fähigkeit, Analogien zu bilden.
Insofern rangieren viele der Thriller oder MommyPorn, die derzeit veröffentlicht werden, aber auch sogenannte "humorvolle" Literatur, zum Beispiel was man so als ChickLit bezeichnet, eher wie die Pornographie unter den Gebrauchstexten und haben weniger mit der literarischen Form des Romans, als mit einer Bedienungsanleitung zu tun.

24.11.2012

Loreley; Flickenteppich aus mythischen Frauen

Na, dieses kleine Stückchen zum Homo faber bekommt ihr jetzt auch noch:
Seite 152: Faber findet jetzt doch eine Situation, die er als Erlebnis schildert (im Gegensatz zu Seite 24); unter diesem Abschnitt liegt das Bild der Lorelei: Sabeth auf den Felsen, singend („Ich werde nie vergessen, wie sie auf diesen Felsen sitzt, ihre Augen geschlossen, wie sie schweigt und sich von der Sonne bescheinen lässt.“ (Seite 152)). Heine fängt seine Ballade bezeichnenderweise mit "ich weiß nicht, was soll es bedeuten …" an, wobei auch Faber immer wieder seine "Unfähigkeit, Bedeutungen zu verstehen" ausdrückt.
Irgendwo auf der via Appia kämmt Sabeth sich ihr Haar.
Ganz wichtig im Homo Faber: die zahlreichen, mythischen Frauengestalten (die Venus, die Sphinx, die Loreley, die Erinnye, die Eva: es ist ein Flickenteppich an mythischen Frauen aus allen möglichen Religionen).

Alfa Romeo; ein literarisches Alphamännchen und die Ironie

Zur symbolischen Schreibweise wollte ich mich (noch) nur am Rande äußern. Seit Monaten habe ich die meisten Werke von Jurij Lotman in meinem Bücherschrank stehen und diese noch nicht gelesen. Lotman nun äußert sich sehr ausführlich über diese symbolische Schicht. Ich habe also ein schlechtes Gewissen. Trotzdem möchte ich ein ganz besonders schönes Beispiel dafür geben, wie die symbolische Schicht funktioniert.

Das Beispiel stammt aus dem Homo faber. Walter Faber und seine Tochter (von der er allerdings nicht weiß, dass sie seine Tochter ist) übernachten in Rom in einem Hotel, nachdem sie in einer Pizzeria gegessen haben. In diesem Hotel werden sie von dem „blechernen Dröhnen“ eines Alfa Romeos belästigt: „…, es schien wirklich der gleiche Alfa Romeo zu sein, der uns die ganze Nacht lang umkreiste.“ (Seite 123)
Nun ist weder Romeo noch Alfa ein unschuldiger Name und ihre Zusammenstellung schon gar nicht. Romeo ist so etwas wie der Prototyp des tragischen Liebhabers; das Alfa verweist auf das Alphamännchen, auf das erste Männchen im Rudel. Nun ist es ironischerweise ein Stück Technik, das hier um Faber herumfährt, aber eines, das mythisch aufgeladen ist. Es zeigt, das die Technik nicht rein, nicht objektiv erscheinen kann, dass die Sprache hier sofort an dieser Objektivität mitgestaltet und aus ihr ein mythisches Moment erschafft. Dieses mythische Moment wird über Symbole hergestellt. Das Symbol dürfen wir hier ganz im Sinne seines griechischen Ursprungs verstehen: zusammenschmeißen (sym ballein).
Zusammengeschmissen wird hier die Technik (das Auto), die literarische Figur (Romeo), die Verhaltensbiologie (das Alphamännchen). Und schließlich gibt es eine Art räumlich-symbolische Bedeutung. Der Alfa Romeo umkreist Faber, was diesen sowohl in das Zentrum der Aktivität setzt (die Technik ist eine Art Satellit), als auch bedroht erscheinen lässt: der Räuber, der auf seine Beute lauert, der diese umkreist und sie nach und nach einkesselt.

Neben diesen Bezügen zu offiziellen Disziplinen gibt es aber auch noch einige Bezüge innerhalb des Romanes, die ständig wieder aufgegriffen werden. So ist das technische Geräusch ein wiederkehrendes Motiv. Ebenso gibt es mehrmals Beschreibungen von technischen Vorgängen, die bei voller Kraft trotzdem nutzlos sind. An dieser Stelle steht „Vollgas im Leerlauf“ (es handelt sich wohl um junge Halbstarke, die mit ihren Maschinen Krach machen). Gleich auf der ersten Seite (Seite 7) steht: „… so dass ich nicht sogleich schlief, … sondern einzig und allein diese Vibration in der stehenden Maschine mit laufenden Motoren …“. Diese Anspielung auf die Katatonie taucht noch mehrmals im Roman auf. Außerdem gibt es zum Beispiel eine Passage, in der Sabeth und Walter die Geburt der Venus betrachten. Die Venus ist so etwas wie das Alphaweibchen, vor allem in seiner berühmten Version von Botticelli.
Hier noch einmal eine grafische Zusammenfassung:
Ihr seht, dass die Analyse von Symbolen rasch sehr kompliziert werden kann. Sie bildet eine Struktur jenseits und hinter der Geschichte und wenn diese gut eingesetzt wird, wie bei Max Frisch, mehr als nur ein intellektuelles Begleitwerk.
Frisch allerdings setzt die symbolischen Bezüge auch wieder so vielfältig und hintersinnig ein, dass sie extrem ironisch wirken. Es ist gar nicht so einfach, hier überhaupt feste Aussagen über die Poetizität des Textes zu treffen. Weshalb ich mich wundere, dass dieses Werk zum schulischen Kanon gehört. Es ist ja für die meisten Erwachsenen zu kompliziert, jedenfalls, was die Analyse angeht.

23.11.2012

Die Klimax in Jurassic Park

Eine Klimax ist eigentlich eine rhetorische Figur, eine mindestens zweifache, häufig dreifache Steigerung in der Wortfolge, zum Beispiel: „wir haben gebittet, gefleht, beschworen …“. Man kann solche Figuren allerdings auch ganz gut in die Struktur von Narrationen übertragen, d.h. in die Erzählstruktur. Ich glaube, das muss man bei der Klimax nicht großartig erläutern.

Gerade schiebe ich meine Kommentare zu dem Film Thor in meinen Zettelkasten. Hier habe ich eine Zwischenanmerkung zu Jurassic Park gemacht, die ganz nützlich sein könnte, auch wenn sie nichts aufregendes bietet, sondern die klassische Struktur der Spannung einfach aus einem anderen Aspekt beleuchtet:
Die Klimax in Jurassic Parc könnte man ungefähr so beschreiben: drei Adjektive werden miteinander koordiniert, nämlich gefährlich, gefangen, instinktgesteuert; dann werden diese nach und nach umgedreht: zunächst gefährlich, frei, instinktgesteuert (der Tyrannosaurus Rex), dann gefährlich, frei, intelligent (die Raptoren).
Das erste Adjektiv (gefährlich) beschreibt die allgemeine Veranlagung, den grundsätzlichen möglichen Konflikt. Das zweite Adjektiv (gefangen) beschreibt die Maßnahme, die den Konflikt unterdrückt, im Laufe der Geschichte allerdings umgeändert wird. Und das dritte Adjektiv (instinktgesteuert) bezieht sich auf eine Steigerungsmöglichkeit, die erst gegen Ende der Geschichte zum Tragen kommt.

Bei Harry Potter kann man die Todesser folgendermaßen belegen: skrupellos, verfolgt, sterblich. Das letzte Adjektiv trennt (scheinbar) die Todesser von ihrem Meister (Voldemort)
Daraus könnte man nun eine Übung entwerfen: zunächst drei Adjektive, wobei das erste Adjektiv die grundsätzliche Bedrohung ausdrückt; das zweite Adjektiv beschreibt zunächst das, was den Konflikt unterdrückt; und das dritte Adjektiv beschreibt eine Steigerung, bzw. Steigerungsmöglichkeit des Konflikts.
Für die Geschichte dreht ihr als erstes das zweite Adjektiv um. Nehmen wir als Beispiel ein klassisches Genre: das Spukhaus. Nehmen wir weiter an, das Adjektiv heißt versiegelt, als versiegelt in dem Sinne, dass der tatsächliche Spuk hinter irgendeiner magischen oder technischen Barriere verschlossen ist. Das Umdrehen dieses Adjektives geschieht selbstverständlich in einer Handlung. Hier muss diese Barriere in irgendeiner Weise aufgebrochen werden. Besonders neu ist das allerdings nicht. Es ist ja nichts anderes als der Übergang von der Einleitung in die Durchführung, also der Übergang in den ersten richtigen Konflikt.
Als zweites wird dann das dritte Adjektiv umgedreht. Nehmen wir an, dieses lautet zunächst „nicht besessen“. Jetzt gibt es aus irgendwelchen Gründen einen Geist, der von den Menschenbesitz ergreift. Der wird nun auch freigelassen und sorgt erst recht für den typischen Splatter.
All das ist tatsächlich nicht sonderlich aufregend. Mit ein bisschen Übung allerdings könnt ihr diese Technik abwandeln und euch einfach an zufällig zusammengestellte Adjektive halten, sagen wir zum Beispiel: klug, nicht technisch, zerreißbar. Und jetzt wird es interessant: weil diese drei Adjektive nämlich nicht offensichtlich als Klimax funktionieren. Ich kann daraus trotzdem eine Klimax erschaffen, muss aber ein bisschen mit der Geschichte herumtricksen und herum probieren. Und hier ist diese zufällige Zusammenstellung ein großer Motor für die Kreativität. Die Geschichten, die daraus entstehen, solltet ihr allerdings nicht unbedingt eurem Publikum präsentieren, jedenfalls die meisten nicht.

Gauck, Joachim

Gauck, Joachim: Wurde nach der legendären Gauck-Behörde benannt, in der er am 24. Januar 1940 geboren ist. G. kann fliegen, riecht auch ungewaschen gut und ist aufgrund seines Alters sparsam im Ehrensoldverbrauch.

22.11.2012

ich hätte jetzt gerne noch einen Stromausfall, sonst fällt mein Hirn aus

Die Kanzlerin, deren verbale Kunst von uckermärkischem Temperament geprägt ist, gelang es wiederum, eine weitgehend präsidiale Gemeinsamkeitsrede zu halten.
Das, meine lieben Leserinnen und Leser, ist Qualitätsjournalismus aus der Welt. „Verbale Kunst von uckermärkischem Temperament“. Der Autor dieses Artikels sagt übrigens ziemlich wenig. Die Informationsdichte geht gegen Null. Dafür gibt es viel Beweihräucherung der Regierung.
Vor allem die ständig eingestreuten Attribute!

Nein, man darf gar nicht so genau hinschauen,was sich hier die Journalisten so zusammenschreiben. n-tv etwa titelt: „Westerwelle zeigt sich zuversichtlich gegenüber Waffenruhe“. Müsste doch eigentlich „angesichts“ heißen.

Sachlich, aber schön …

Merkel dagegen blieb betont sachlich, redete naturgemäß alles schön, ...
Das ist nicht nur eine unschöne Zusammenstellung. „Betont sachlich“ und „naturgemäß alles schön“, das ist schon fast Holzhammer-Rhetorik.
Vor allem scheint der Autor zu glauben, das betont sachlich nur noch eine Körperhaltung ist, nur noch eine Ausdrucksweise. Mit Inhalten hat das nichts mehr zu tun (anscheinenderweise).
Natürlich ist der Effekt hier, dass dieses „schönreden“ eine Täuschung wird. Es verhält sich zur Sachlichkeit vollkommen inkongruent, fast schon wie ein Oxymoron.


Spannung und Humor: Tortilla Flat, Pippi Langstrumpf, Schrecksenmeister

In den letzten Tagen habe ich mal wieder an der humorvollen Literatur gearbeitet. Ich glaube, ich habe es mittlerweile häufig genug erwähnt: diese ist viel flexibler und funktioniert teilweise komplett anders als Spannungsliteratur. Die Rhetorik des Humors halte ich für eine der schwierigsten Bereiche der analytischen Rhetorik.
Gerade habe ich für mich Tortilla Flat von John Steinbeck wieder entdeckt. Dieser bezaubernde Schelmenroman zeigt, wie unterschiedlich die Komposition zum Spannungsromanen verlaufen kann. Es gibt eine große Geschichte: Danny kehrt aus dem Krieg heim, hat zwei Häuser geerbt und verliert diese durch Sauferei und Prügeleien. Das ist keine wirklich spannende Geschichte. Der ganze Roman bekommt seinen Charme durch die Variationen, also durch verschiedene Episoden, die das gleiche Problem lösen, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Wer Tortilla Flat nicht kennt, der kann hier auch Pippi Langstrumpf nehmen. Pippis Problem ist etwas infantiler: was fange ich lustiges mit dem Tag an?
Ich habe für Teilgeschichten in Romanen zwei Begriffe: Einmal die Sequenz und einmal die Periode. Die Sequenz ist immer Teil einer größeren Geschichte, auch wenn sie in sich abgeschlossen wirkt. Die Periode dagegen steht ganz explizit als eigene Geschichte da und könnte auch komplett weggelassen werden. Natürlich sind das nur idealistische Begriffe, die so rein nie in der Wirklichkeit auftauchen.
Spannungsromane bestehen fast ausschließlich aus Sequenzen. Dagegen können humorvolle Romane beides gut benutzen. Die Montalbano-Krimis zum Beispiel sind Sequenzen aufgebaut und durch bestimmte Episoden (typisch: Montalbano geht Essen) aufgelockert. Ein ebenfalls vorwiegend als Spannungsroman aufgebauter Text ist der Schrecksenmeister von Walter Moers. Es gibt ein zentrales Ziel: der Protagonist (die Kratze) möchte überleben. Dieses zentrale Ziel wird allerdings durch vielerlei Episoden überwuchert.
Tortilla Flat nun ist ein typischer Schelmenroman, der ähnlich wie Till Eulenspiegel oder Münchhausen aus einzelnen Geschichtchen lebt. Er hat eine typisch episodische Struktur, die nur ganz am Rande durch die Gesamtgeschichte zusammengehalten wird.

Es gibt eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen dem humorvollen, episodische Roman und dem Spannungsroman. Ich wollte Steinbeck einfach mal als einen „großen“ Autor für die Ebenen der Motiviertheit anführen. Aber es funktioniert nicht. Selbst auf der Ebene der Sätze sind episodische Romane scheinbar komplett anders aufgebaut und müssen mit ganz anderen Funktionen belegt werden.

19.11.2012

Stromausfall

Gestern, kurz vor Mitternacht, ist in den Häusern um mich herum und natürlich auch bei mir der Strom ausgefallen. Das ist eine recht seltsame Erfahrung. Plötzlich ist es dunkel. Der Computer geht einfach aus und man suchte verzweifelt nach den letzten Teelichtern, die man irgendwo versteckt hat. Kerzen besitzt man natürlich keine. Jedenfalls ich nicht. Kerzen sind mir zu gefährlich zwischen all den schwankenden Stapeln von Papier.
Eine Stunde später war der Strom wieder da.

18.11.2012

Aus meiner Privatsphäre

Irgendwie komme ich nicht dazu, weiter zu schreiben. Eigentlich wollte ich noch einige Artikel für suite101 fertigstellen, aber es klappt nicht. Eigentlich wollte ich längst mit der Darstellung des Schöpferischen bei Raphael und seiner Kant-Kritik fertig sein, aber ich komme nicht dazu. 
Gestern war ich mit Gabriel, dem ältesten Sohn von Nico, im Computerspielemuseum. Abends hatte ich zu Lea Streisand gehen wollen, bin aber eingeschlafen und habe seitdem eigentlich auch nichts anderes gemacht als zu schlafen. Ich brauchte es wohl.
Seit Sonntag rauche ich nicht mehr in der Wohnung, und überhaupt habe ich meinen Zigarettenkonsum arg eingeschränkt. Mein Sohn ist heute nachmittag aufgetaucht. Er hat sich gleich an meinen Computer gesetzt und ich, ich habe weiter geschlafen.
Nebenher lese ich drei Bücher über die Sprechakttheorie, Mythen des Alltags und Sade Fourier Loyola.

13.11.2012

Xavier Naidoo und Kool Savas spinnen

"Ich schneid euch jetzt mal die Arme und die Beine ab, und dann ficke ich euch in den Arsch, so wie ihr es mit den Kleinen macht. Ich bin nur traurig und nicht wütend. Trotzdem würde ich euch töten. Ihr tötet Kinder und Föten und ich zerquetsch euch die Klöten. Ihr habt einfach keine Größe und eure kleinen Schwänze nicht im Griff. Warum liebst du keine Möse, weil jeder Mensch doch aus einer ist? Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer, wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt?"
So lautet ein Teil eines Songtextes auf der letzten CD dieser beiden Deutschrapper, zitiert nach queer.de. Sind die eigentlich noch ganz dicht? Die Linke hat jetzt eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Aufruf zur Selbstjustiz gestellt. Das kann ich nur unterstützen.
Ich habe Naidoo noch nie leiden können. Musikalisch finde ich ihn belanglos, weil supermarktmäßig weichgespült. Und leider entpuppt er sich nun als das, was einen "guten" Faschisten immer ausmacht: viel (scheinbare) Moral, ein schlechter Bezug zur Realität.
Besonders widerlich auch: die Reduzierung des Mutterseins auf das "Möse-haben". Das ist wahrlich widerlich.

Ist Marah Woolf eine der größten Schriftstellerinnen Deutschlands? - Ein Nachtrag

So habe ich neulich einen Artikel genannt, weil eine Kommentatorin mich dementsprechend korrigiert hat. Den Kommentar selbst habe ich gelöscht, weil er eine Beleidigung enthielt. Und ich weiß immer noch nicht, ob ich dieser Behauptung überhaupt einen Sinn entnehmen kann. Mittlerweile hat sich Frau Woolf dazu selbst gemeldet und diese Bezeichnung abgelehnt. Jedenfalls kann ich ohne mit der Wimper zu zucken behaupten, dass sie vielleicht nicht die größte, aber zumindest eine äußerst nette und sehr bodenständige Autorin ist.
Will man schlecht schreiben, ist ein egomanischer Charakter auf jeden Fall sehr hilfreich. Marah Woolf fehlt diese Egomanie. Was ein Zeichen dafür ist, dass man von ihr einen (relativ) guten Schreibstil erwarten kann.
Es ist doch immer wieder ein Zeichen für eine gute schriftstellerische Kompetenz, wenn ein Autor Selbstzweifel hat. Selbstzweifel sind nicht die angenehmste Charaktereigenschaft, vor allem nicht für den Autoren. Aber darin steckt eben auch die Frage: Habe ich einen Text für die Leser verfasst? Habe ich für den Leser geschrieben? Und das ist der einzige Grund, warum ein veröffentlichter Text existiert. Er ist Kommunikation.

Mein sehr geschätzter Kollege Dr. Gerald Albach zitierte gestern Wittgenstein, in einem anderen Kontext, aber sehr passend:
"Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt, so bricht ihre ganze Funktion zusammen." (aus den Philosophischen Bemerkungen; Seitenzahl muss ich euch schuldig bleiben, weil ich dieses Buch nicht (!) besitze)

Angenehm: dass die Argumentationslehre als Thema selbstverständlich wird

Vor drei Jahren, als ich verstärkt die Grundlagen des Argumentierens und die formale Qualität in den Blick meines Coachings gestellt habe, habe ich noch viele Missverständnisse geerntet. Argumentieren, so lautete ein häufiges Argument, könne man bereits. Mittlerweile setzt sich allerdings die Einsicht durch, dass die Argumentationslehre ein äußerst komplexes Gebiet ist und hier eine professionelle Sichtweise hilfreich sein kann. Eine solche professionelle Sichtweise biete ich; und scheue mich trotzdem nicht zu sagen, dass ich noch lange nicht am Ende meines Lernens bin. Es ist ein Zeichen von Vernunft, sich eine differenzierte Meinung zuzulegen. Es ist ein eben solches Zeichen von Vernunft, die Grenzen seines Verstandes zu akzeptieren. Ich hoffe, dass ich in diesem doppelten Sinne vernünftig bin.

Jedenfalls ist es sehr angenehm, dass ich heute nicht mehr meine Kunden dazu überreden muss, dass ein genauerer Blick auf die formalen Bedingungen der Logik sinnvoll sei. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass sich in der wissenschaftlichen Landschaft einiges ändert und nicht mehr so viele Menschen ein Diplom oder einen Doktortitel als Statussache betrachten, sondern ernsthaft am wissenschaftlichen Arbeiten interessiert sind.

Ich empfehle, für alle Interessierten und mit einer gewissen Vorsicht, die Logik von John Dewey. Wer Lust auf ein schwieriges, aber äußerst lohnenswertes Buch hat, dem sei Grundzüge der Logik von William van Orman Quine ans Herz gelegt, jenes Buch, mit dem ich mich während meines Studiums in die Argumentationslehre eingearbeitet habe. Für einen Einstieg ist dieses Buch allerdings nicht die beste Wahl.

Danke Johannes Flörsch! - Die kraftvolle Sprache.

Johannes Flörsch verdanke ich folgenden Link, der so wunderbar zu meiner eigenen Klage passt: Kleinkunstpreis 2012 Ehrenpreis.
Georg Schramm spricht sehr deutlich und sehr scharf gegen die unverständliche Sprache. Es ist zwar etwas komplizierter, als er das darstellt, aber als Tendenz deutlich richtig.
Johannes ist übrigens selbst ein hervorragender Sprachkritiker. An ihm ist durchaus ein (politischer) Kabarettist verloren gegangen. Er ist Lektor. Und sehr zu empfehlen. Er weiß um die Kraft der Worte, um die kraftvolle Sprache.

Einer der schönsten Sätze in Schramms Rede: "Der Satz dient."

Martin Walser und Michel Friedman

Gerade habe ich, mit einigen Kopfschmerzen, einen Artikel zu dem aktuellen Antisemitismus-Vorwürfen Friedmanns geschrieben und hier veröffentlicht: Martin Walser verklagt Friedmann wegen Antisemitismus-Vorwurf.
Kopfschmerzen habe ich deshalb, weil zurzeit solche Artikel immer irgendwelche Leute zu beleidigenden E-Mails befleißigen. Solche E-Mails brauche ich nicht. Ebenso wenig brauche ich beleidigende oder auf falsche Weise lobhudelnde Kommentare.

Ich äußere mich zwar immer noch nicht ausführlich zur Argumentationslehre. Dazu sehe ich weiterhin zu viel Lernbedarf bei mir. Aber je intensiver und länger ich mich mit der Logik beschäftige (die Logik ist die Theorie der Argumentation und die Argumentationslehre die „gute“ Praxis), umso bewusster wird mir, wie vieles in unserer Gesellschaft alleine deshalb falsch läuft, weil die Menschen überhaupt nicht mehr wissen, was eine gute Argumentation ist und wie man sich an logische Formalien hält.
Dabei wollte ich eigentlich nur meinen Artikel über Krimis und Argumentation auf eine bessere Basis stellen. Die politische Argumentation, die mich zwar immer mal wieder beunruhigt hat, war gar nicht mein Ziel.
Und trotzdem genieße ich auch meine Beschäftigung mit der Rhetorik und der Logik, weil diese eher formalen Disziplinen (sofern man sich an die klassischen Darstellungen erhält und nicht anders, was heute Coaches und Trainer an Dummheiten in die Welt hinausplärren) so vieles einsichtig machen und eine schärfere Kritik ermöglichen.
Ich kann jeden Leser meines Blogs nur auffordern, sich, auch wenn dies zunächst sehr schwierig werden wird, mit den drei großen Kritiken von Kant zu beschäftigen. Er ist vielleicht nicht der modernste, er ist mit Sicherheit auch nicht einfach, aber wenn man ihn anfängt zu verstehen, merkt man, wie man nach und nach in einer anderen und auch besseren Welt zu leben beginnt.

10.11.2012

Wenn Blogger sterben - Nachruf auf Christof Zirkel

Bloggen ist ja noch ein recht junges Hobby, auch wenn ich mir mit meinem seit sechs Jahren geführten Blog schon wie ein Opa vorkomme. Dass Blogger sterben können, war mir irgendwie klar. Dass sie dann tatsächlich sterben, ist manchmal eine Katastrophe.
Christof Zirkel, der seit vielen Jahren den Blog schreibschrift geführt hat, ist bereits am 11. September 2012 einem Herzinfarkt erlegen. Mein Beileid geht an die Familie. Wir haben einen tollen Blogger und engagierten Menschen verloren.

08.11.2012

Mikrologik IVb: der Wandel der Bedürfnisse

Irgendwie bin ich seit einigen Tagen intellektuell sehr am Brummen. Das merke ich auch daran, dass ich zwar gestern Abend sogar relativ früh ins Bett gegangen bin, aber bereits seit 2:30 Uhr wieder wach, weil mir bestimmte Ideen einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Ich hatte in den letzten Teilartikel die Ebenen der Motiviertheit vorgestellt. Ich möchte als erstes ergänzen, dass diese Ebenen sich wundervoll für den Spannungsroman eignen, aber nur sehr bedingt für den humorvollen Roman. Für diesen braucht man andere Techniken.

Dieser Artikel ist nun ein Zwischeneinschub. Ein Bekannter hat mich gefragt, was es für Bedürfnisse gäbe. Hier habe ich noch keine wirklich gute Einteilung gefunden, jedenfalls psychologisch gesehen nicht. Das bekannteste Modell ist die Maslowsche Bedürfnispyramide. Diese ist für meine Zwecke nützlich. Psychologen sollten hier eine kritische Distanz bewahren.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Es gibt zwei Formen der Bedürfnispyramide, einmal mit fünf Stufen und einmal mit acht. Da wir die Bedürfnispyramide als Autoren nicht präzise einsetzen müssen, empfehle ich die Fünf-Stufen-Version. Auch um die Sache nicht zu verkomplizieren.

Die Bedürfnispyramide ist, wie der Name schon sagt, ein hierarchisches Modell. Die Basis bilden die ganz grundlegenden Bedürfnisse. Sie endet mit den hohen, individuellen Bedürfnissen. Ich habe nun an dieser Bedürfnispyramide herumgebastelt und sie in Bezug auf Handlungen umgeändert. Das ist ganz wichtig, da es in Romanen (aber nicht nur dort) immer auch um Handlungen, also um die Verwirklichung von Bedürfnisbefriedigungen geht. Hier ein übersichtliches Schema: weitere findet ihr massenweise im Internet:
Die erste Stufe bilden die physiologischen Bedürfnisse: dazu zählen Atmen, Essen, Wasser, Sex, Homöostase (damit bezeichnet Maslow das physiologische Gleichgewicht, insbesondere die Salze im Blut) und die Ausscheidung. Diese Bedürfnisse werden recht gleichförmig befriedigt. Zunächst. Auf die Handlung bezogen bilden sie die Voraussetzung, dass ein Mensch überhaupt handeln kann.

Auf der zweiten Stufe geht es um Sicherheitsbedürfnisse: die Sicherheit von Körper, Beschäftigung, Ressourcen, Moralität, Familie, Gesundheit und Besitz. Im einzelnen ist diese Aufzählung sehr kritikwürdig. Für Spannungsromane spielt sie aber eine wesentliche Rolle. Jedes Verbrechen am Anfang eines Krimis verletzt in gewisser Weise die Moralität eines Kommissars oder Detektivs. Thriller haben öfter die Bedrohung der eigenen Familie als einen Verstoß gegen diese Form von Bedürfnissen; aber auch den Verlust von Ressourcen (man denke zum Beispiel an den Diebstahl wichtiger Dokumente).
Auf der Handlungsseite ermöglicht diese Ebene eine Verlässlichkeit des eigenen Handelns und der Umwelt. Nur wenn die Umwelt verlässlich ist, kann ich mir der Folgen meiner Handlung sicher sein.

Die dritte Ebene stellt die Bedürfnisse der Zugehörigkeit/Liebe zusammen. Hierzu gehören Freundschaft, Familie und sexuelle Intimität. Wie ihr seht, wird Familie hier erneut als Bedürfnis bezeichnet. Auf der zweiten Stufe ist dies einfach die Sicherheit einiger Bezugspersonen. Auf der dritten Stufe dagegen bezieht sich Familie auf die Kommunikation und den Austausch, aber auch auf die (emotionale) Arbeitsteilung innerhalb von Familien. Sie bezeichnet weiterhin die Verlässlichkeit im Dialog und die Kontinuität der eigenen Persönlichkeit. Kontinuität der eigenen Persönlichkeit: das meint im Roman die Nachvollziehbarkeit eines Charakters. Als ein mögliches Beispiel, wie diese Ebene genutzt werden kann.

Mit der Achtung als Bedürfnis erreichen wir die vierte Stufe. Maslow zählt dazu die Selbstachtung, die Zuversicht, die Leistung, der Respekt durch andere und den Respekt für andere. Auf der Ebene der Handlung geht es um die sozial-kulturelle Ebene: um den Menschen als geschichtliches Wesen und um den Menschen, der nur im Zusammenhang mit anderen Menschen eine solche Geschichte entwickeln kann.

Schließlich, als letzte Stufe, die Selbstverwirklichung. Diese wird aufgeteilt in die Moralität, die Kreativität, die Spontanität, das Problemlösen, die fehlenden Vorurteile und das Akzeptieren von Fakten. Die Moralität ist doppelt (siehe Stufe zwei). Hier weiß ich noch nicht, wie die Abgrenzung genau läuft. Allerdings kann man sagen, dass auf der zweiten Stufe die Moralität Normen setzt, wie gehandelt werden darf und wie nicht mehr; auf der fünften Stufe geht es eher um die eigenen Leistungen, die man der Gesellschaft zukommen lässt, zum Beispiel, dass man Bücher schreibt, um andere Menschen aufzuklären oder ihnen für einige Stunden eine Entlastung vom Alltag zu bieten. Auf einem meiner Zettel bezeichne ich dies als (Achtung!) „gestaltete Mitgeschichtlichkeit aufgrund der eigenen Persönlichkeit“ (Wortschwall von eurem lieben Fredi). Einfacher ausgedrückt: die Selbstverwirklichung befriedigt persönliche Vorlieben kultureller Art.

Die Bedürfnispyramide in der Erzählung

Ganz grob können wir den einzelnen Stufen ein Genre zu ordnen. Ich lasse die physiologischen Bedürfnisse beiseite, die oft nur stellenweise auftauchen. Am häufigsten habe ich (bisher) das Bedürfnis des Atmens gefunden, nämlich ganz genau dann, wenn der Protagonist zu ertrinken droht. Doch auch das ist eher selten zu finden.
In Thrillern werden immer Sicherheitsbedürfnisse verletzt. Deshalb gibt es einen engen Bezug.
Die dritte Stufe gehört eindeutig den Liebesromanen.
Die Bedürfnisse der Achtung lassen sich gut mit dem Bildungsroman verknüpfen. Und die Bedürfnisse der Selbstverwirklichung schließlich mit dem Künstlerroman.
Wie zwischen den einzelnen Romanen keine klare Abtrennung herrschen muss, gilt dies natürlich auch für die einzelnen Bedürfnisstufen.

Der Wechsel der Bedürfnisse

Zu Beginn der Geschichte

Eine recht billige Feststellung ist nun, dass eine Geschichte mit dem Wechsel von Bedürfnissen beginnt. Oft gibt es ein Ereignis von außen, das diesen Wechsel notwendig macht - dies wird in der Creative Writing Movement auch als ›call to action‹ oder ›call to adventure‹ bezeichnet. In MondSilberLicht etwa ist dies der Tod der Mutter. Hier wird übrigens der Wechsel nur langsam vollzogen. Emma entwickelt erst nach und nach wieder deutliche eigene Bedürfnisse. Dies zeigt sehr schön, wie ein anderes Bedürfnis, das Bedürfnis zu trauern, handlungsorientierte Bedürfnisse in den Hintergrund schiebt. Maslow vergisst dieses doch eigentlich recht wichtige Bedürfnis des Trauerns und zeigt, wie schwach sein Modell ist. Mein Tipp: ergänzt die Bedürfnisse, soweit es euch notwendig erscheint!

Was eine Katastrophe ist (rein narrativ)

Manche Romane beginnen mit einer Katastrophe. Was ist eine Katastrophe? Es ist ein Ereignis, das die Bedürfnisse auf eine deutlich tiefere Stufe schiebt: eben noch wollte man den folgenden Tag während des Frühstücks durchdenken, jetzt kämpft man gegen Zombies. Eben noch hat man sich auf einer Party sehr amüsiert, jetzt versucht man dem flammenden Inferno im Hochhaus zu entkommen. Das ist die eine Möglichkeit, eine Katastrophe mit Maslow zu beschreiben. Die andere Form ist, dass ein konventionelles Bedürfnis durch ein bedrohliches und unkonventionelles Bedürfnis abgelöst wird. Eben habe ich noch Kartoffeln gesteckt (Sicherheit von Ressourcen), jetzt kämpfe ich gegen drei Wölfe (Sicherheit des Körpers). (O.k., das letzte Beispiel ist nicht gerade ein Beispiel für eine „gute Katastrophe“.)

Wichtig: der Bedürfniswandel

Es ist jedenfalls wichtig, dass sich die Bedürfnisse wandeln. Es gibt einige Regeln, die man ganz gut befolgen kann. In Spannungsromanen kann man eine höheres Tempo solcher Bedürfniswandel gegen Ende des Romans feststellen. Und man kann einen Wechsel der Bedürfnisse auf tiefere Ebenen vom Beginn bis zum Ende des Romans erkennen. Nehmen wir als Beispiel noch einmal Lost World. Eines der wichtigsten Bedürfnisse zu Beginn dieses Romans ist das Problemlösen. Da passiert irgendetwas in der Welt; das könnte für mich wichtig sein, also mache ich aus diesem „etwas“ präzise Informationen. In dem Roman bezeichnet das natürlich, dass die Forscher feststellen, dass es eine zweite Insel mit Dinosauriern gibt. Und hier rutscht dann die Motivation auf eine niedrigere Stufe, die der Achtung. Die Forscher brennen darauf, weitere Forschungsergebnisse über das wirkliche Leben der Dinosaurier zu sammeln und planen eine Expedition.
Nach und nach kippt der Roman dann weiter nach unten in der Bedürfnispyramide, bis er in einer wilden Flucht und einem dramatischen Entkommen ausklingt. Dieser letzte Abschnitt stellt also die Sicherheitsbedürfnisse in den Vordergrund.

Zur graphischen Form

Natürlich ist diese Abfolge eher zickzackförmig als linear. In Lost World zum Beispiel gibt es zunächst den Angriff der Tyrannosaurier, die auf der Suche nach ihrem Kind sind. Dann folgt, durch einige Zwischenszenen getrennt, die Flucht vor den Raptoren (wer den Roman nicht kennt: das sind sehr bösartige, in Rudeln jagende Dinosaurier). Die Zwischenszenen sind ruhiger. Sie wechseln also zeitweilig auf eine höhere Stufe der Bedürfnispyramide.

Verschränkung zweier Handlungslinien

Eine andere Möglichkeit, mit Bedürfnissen umzugehen, ist die Verschränkung zweier Handlungslinien. Es geht zum Beispiel für den Protagonisten nicht nur darum, den Bösewicht zu besiegen, sondern auch, das Herz einer Frau zu erobern. Oder: der Protagonist muss nicht nur einer unschönen Situation die Stirn bieten, sondern auch herausfinden, was mit ihm selbst los ist. Dies wird zum Beispiel zu Beginn von Harry Potter gezeigt: Harry wohnt bei den Dursleys (unschöne Situation) und weiß nicht, warum ihm immer solch seltsame Ereignisse zustoßen (natürlich, weil er ein Zauberer ist). Dasselbe passiert am Anfang des ersten Filmes von X-Man. Eric Landser (der spätere Magneto) muss in ein Konzentrationslager (unschöne Situation) und findet heraus, dass er Kräfte hat, die er nicht erklären kann (natürlich, weil er ein Mutant ist).

Parallele Handlungen

Eine andere Form, Handlungslinien zu verschränken, ist die parallele Handlung. Ein Klassiker ist dieses Ineinander einer Krimihandlung und des Quidditch bei Harry Potter. Beim Quidditch (einem Zaubererspiel) geht es um Bedürfnisse der Achtung (der Leistung, des Respekts). In der Krimihandlung wird zum Ende immer Harry in seinem Leben bedroht. Zwischen diesen beiden Handlungssträngen gibt es natürlich einen Austausch, aber nur punktuell kann man den einen Handlungsstrang als notwendig für den anderen bezeichnen.

Bedürfnisse und Motive

Planung mit der Bedürfnispyramide

Die Bedürfnispyramide eignet sich also ganz gut, um die Dramatik von Geschichten durchzuplanen. Etwas sehr platt gesagt: im Laufe der Geschichte müssen immer notwendigere Bedürfnisse befriedigt werden und dazu muss der Autor die passenden Ereignisse finden. Beachtet bitte, dass Bedürfnisse noch keine Motive sind. Und dass wir, als Autoren, zwar die Bedürfnisse im Auge behalten sollten, aber vor allem die Motive schildern. Denn erst diese machen die Handlungen konkret. Es ist ein Unterschied, ob jemand als Leistung für sich selbst und die Gesellschaft eine neue Kunstform entwickelt oder einen bestimmten Virenstamm untersucht. Es mag dasselbe Bedürfnis befriedigt werden. Doch durch die sehr unterschiedlichen Motive sind die Handlungen natürlich ebenso unterschiedlich.

Übung

Für meine Kunden habe ich hier eine schöne Übung. Sie sollen, anhand der Bedürfnispyramide, für jede wichtige Person zu jedem Bedürfnis ein Motiv finden. D.h., wenn jemand einen Krimi schreibt und einen Kommissar charakterisieren möchte, dass er sämtliche Bedürfnisse, von den physiologischen bis hin zu denen der Selbstverwirklichung, mit Motiven versorgt.

Neurotisches Verhalten

Wenn ihr das macht, werdet ihr allerdings ein großes Problem feststellen. Es gibt nämlich, auch bei Romanfiguren, neurotisches Verhalten. Und neurotisches Verhalten kann man in Bezug auf Bedürfnisse als eine Befriedigung bezeichnen, die das entsprechende Bedürfnis gar nicht befriedigt. Wie häufig gibt es einen Protagonisten, der Probleme hat, sich auf Intimität einzulassen? Und zu ganz komischen Ersatzreaktionen neigt?
In Wirklichkeit hat der Protagonist Angst, erneut verletzt zu werden. Er beginnt also Motive zu entwickeln, die noch irgendwie sein Bedürfnis nach Intimität befriedigen, aber zugleich das Bedürfnis nach Integrität nicht verletzen. Solche innerlich gespaltenen Charaktere sind natürlich für den Leser besonders interessant. Doch genau hier bekommen wir bei der Planung eine Verdrehung der Bedürfnisse, die die Maslowsche Pyramide recht unpraktisch machen. Auch hier solltet ihr mit euch selbst großzügig sein. Probiert es aus! Ihr werdet merken, wie lästig das plötzlich wird.

Bedürfnisse auf der Satzebene

Was ich hier eher für die Mesoebene der Motiviertheit geschildert habe, funktioniert natürlich auch in einzelnen Szenen auf der Satzebene. Es gibt einen fortlaufenden Wandel der Bedürfnisse, der sich in den Handlungen der Figuren auf der Satzebene ausdrückt.
Jede Handlung verändert die Umwelt und schafft neue Ereignisse, die sich auf das nächste Handlungsmotiv auswirken. So gibt es eine ganz grundlegende Abfolge im Erzählen: Handlung - Ereignis - Handlung - Ereignis, usw.
Dieses ist auf keinen Fall eine Regel (siehe dazu das gelegentlich recht zwanghaft wirkende Buch Scene & Structure von Jack M. Bickham). Wenn zum Beispiel eine Haupthandlung auf einen anderen Charakter überspringt, gibt es einen Bruch. Es ist aber ein ganz gutes Raster, um die Logik der Handlungen zu überprüfen. Wenn man aus diesem Schema ausbricht, kann man noch einmal darüber nachdenken, ob dies an dieser Stelle sinnvoll ist.
Hier werde ich im nächsten Artikel etwas genauer werden.

Bedürfnisse und Konflikte

Konflikte mitentwerfen

Ein anderer Grund, warum ich die Bedürfnispyramide trotz all ihrer Fehler sehr schätze: damit lassen sich wunderbar Konflikte entwerfen. Wenn ihr, zumindest für die wichtigen Charaktere, eine Liste mit allen Bedürfnissen und den dazugehörigen Motiven angelegt, dann könnt ihr auch gleich dazu Konflikte entwerfen. Für handlungslastige Spannungsromane sind äußere Konflikte besonders wichtig. Nehmen wir zum Beispiel an, der Protagonist untersucht bestimmte Viren, um ein neues Medikament zu entwickeln und steht kurz vor einem bahnbrechenden Ergebnis. Nun tritt das Bedürfnis eines anderen Protagonisten mit diesem Motiv in Konflikt. Der andere Protagonist möchte sich die Forschungsergebnisse unter den Nagel reißen.
Ein anderer Konflikt wäre: Niemand, außer dem Forscher, erkennt, dass der große Durchbruch kurz bevor steht. Ihm werden die Gelder gekürzt oder er sogar entlassen und muss nun, auf eigene Faust, sich ein neues Labor aufbauen und seine Arbeit zu Ende bringen. Das Bedürfnis nach Leistung (Forschung) stößt konflikthaft mit dem Bedürfnis nach Ressourcen (Kürzung der Forschungsgelder) zusammen.

Sich Zeit lassen

Meine Erfahrung, bzw. die meiner Kunden, ist folgende: lasst euch bei den Möglichkeiten, Konflikte zu entwerfen, Zeit. Ihr werdet erstaunt sein, wie viele Konflikte euch einfallen, sobald ihr nur ein wenig Übung habt. Da Konflikte die Motoren des Spannungsromans sind, schafft ihr euch häufig einen ganzen kleinen Maschinenpark an. Fangt vor allem mit äußeren Konflikten an.

Innere Konflikte

Innere Konflikte entstehen dann, wenn zwei Bedürfnisse derselben Person sich auf zwei Motive beziehen, die nicht zueinander passen. In letzter Zeit lese ich zum Beispiel häufig folgendes Beispiel: junger Mann verliebt sich in homophober Umgebung in einen anderen Mann: er möchte der Moralität gehorchen (Homosexualität ist böse), aber ebenso seiner Liebe folgen (Homosexualität ist gut). Ebenso: Junge Frau will Ärztin werden, in einer Zeit, in der Frauen dazu noch nicht das Recht hatten; zudem möchte sie nicht ihre Familie aufgeben, die diesen Wunsch komplett ablehnt.
Innere Konflikte sind schwieriger zu entwerfen. Hier muss man wirklich herumprobieren. Ganz günstig ist es, sich zwei verschiedene Bedürfnisse zu wählen (bei einer Figur) und zwei konflikthafte Motive dazu zu erfinden. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass glaubwürdige Konflikte erst nach und nach entstehen. Viele eurer ersten Entwürfe werden euch sofort unsinnig vorkommen. Ihr solltet das trotzdem ausprobieren: man sagt ja so schön, dass ein Schriftsteller zu 95 % für den Müllkorb produziert. Dies gilt offensichtlich auch für die Konstruktion innerer Konflikte.

Vielfältige Konflikte nutzen

Schließlich kann man natürlich auch verschiedene Konflikte im Roman verwenden. Eine ebenfalls ganz günstige Technik ist, zueinander passende Konflikte zu einer Abfolge zusammenzustellen und darum herum seine Handlungen zu basteln. Dann benutzt ihr die Konflikte als eine Art erstes Gerüst für eine Geschichte, von der aus ihr euch an eine konkrete Ausgestaltung des Plots wagen könnt. Diese Technik ist nicht jedermanns Sache. Manche meiner Kunden kommen damit gut zurecht, andere empfinden sie als unpassend. Ob es euer Geschmack ist, müsst ihr ausprobieren.
Auf der anderen Seite sollten ihr aber auch vermeiden, zu viele Konflikte gleichzeitig ins Spiel zu bringen. Nicht nur sind diese schwierig zu handhaben, wenn auch für erfahrene Schriftsteller*innen nicht unmöglich, sondern sie können auch unerfahrene oder auf Kurzweil pochende Leser*innen überfordern. Hier orientiert ihr euch am besten an euren literarischen Vorbildern.

Mikrologik IVa: Ebenen der Motiviertheit

Ich entschuldige mich zunächst, dass ich doch relativ spät den nächsten Artikel zum Mikrologik veröffentliche. Ihr habt es ja mitbekommen: ich bin emotional und dann auch intellektuell von diesen Streitereien um die Qualität von Büchern abgelenkt worden.
Auch diesmal werde ich eher eine theoretische Betrachtung geben. Die praktische Seite möchte ich getrennt behandeln, also in einem späteren Artikel. Diesmal geht es mir um die Motive einer Geschichte und zwar auf der narrativen Ebene. Die narrative Ebene, ich erinnere daran, behandelt alles, was eine Geschichte als real aufbaut. Auf der narrativen Ebene ist ein Baum ein wirklicher Baum, eine Insel eine wirkliche Insel und eben das Bedürfnis des Protagonisten, seine Familie zu beschützen, ein wirkliches Bedürfnis.
Es ist also diese narrative Ebene, auf die sich Leser einlassen, wenn sie sagen: dieser Roman hat mich ganz in seinen Bann gezogen, ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Für einen Unterhaltungsschriftsteller ist das sogar das oberste Ziel. Wem es gelingt, den Leser in die Welt des Protagonisten hineinzuziehen, der hat ordentliche Arbeit geleistet und die schriftstellerischen Techniken hinreichend gut angewendet.

Motiviertheit

Ich weiß: Motiviertheit ist wieder so eins meiner Wörter. Damit meine ich, wie sich die Motive des Protagonisten (und aller anderen Figuren) auf der narrativen Ebene darstellen. Es handelt sich also um „reale“ Motive und natürlich auch solche, die uns fesseln müssen, damit wir mit dem Protagonisten mitfühlen können.
Die erste Frage ist, was überhaupt ein Motiv ist. Ein Motiv ist ein Ziel für die Befriedigung eines Bedürfnisses. Wer Hunger hat, macht sich etwas zu essen. Das Bedürfnis ist der Hunger. Essen ist das Motiv, um dieses Bedürfnis zu befriedigen. Betrachtet man sich die Art der Motive genauer, dann kann man zusätzlich sagen, dass Motive nicht irgendwie ausgewählt werden, sondern so, wie die Kultur es nahelegt. Zwar können die ganz grundlegenden Bedürfnisse und deren Befriedigung als auf der ganzen Welt gleich angesehen werden, aber ein Bedürfnis nach Freundschaften wird in Deutschland mit Sicherheit anders ausgelebt als in Japan oder in Brasilien. Motive sind also bedingt kulturabhängig.
Bedürfnisse dagegen werden aus der Situation heraus bewertet und in den Vordergrund gestellt oder beiseite geschoben. Hat zum Beispiel ein Mensch seit Tagen nichts gegessen, dann ist sein Bedürfnis nach Nahrung besonders groß. Er wird in diesem Fall nicht fragen, wie er auch noch sein Bedürfnis nach Kreativität ausleben könnte. Ja, er würde sogar dieses Bedürfnis in diesem Moment als völlig unwichtig erachten.
Diese Ansicht ist psychologisch natürlich sehr problematisch. Aber für die Betrachtung von Romanen ist sie hilfreich. Wir können uns nämlich an dieser Stelle fragen, welche Bedürfnisse eine Romanfigur motivieren und wie er sie befriedigen möchte. Zudem können wir sagen, dass die Motive zwar in der Erzählung nicht ständig auftauchen müssen, aber sie etwas sehr wichtiges leisten: Sie geben einer Handlung eine Einheit. Nehmen wir an, ein Einbrecher möchte ein kostbares Gemälde aus einer Villa entwenden. Sein Bedürfnis ist zum Beispiel die Selbstverwirklichung: er sieht den Diebstahl eher als Sport an. Und sein Ziel/Motiv ist natürlich, in den Besitz des Gemäldes zu kommen. Damit ist allerdings auch eine Lücke zwischen dem Bedürfnis und dem Motiv gesetzt und diese Lücke muss durch Handlungen ausgefüllt werden. Aber jetzt sind es zielgerichtete Handlungen.

Drei Ebenen der Motiviertheit

Betrachtet man sich die Motive in einem Roman, so kann man ungefähr drei Ebenen unterscheiden: zunächst die des groben Plots, die ich Makroebene nennen werde und auf der sich das wesentliche Bedürfnis des Protagonisten widerspiegelt. In vielen Romanen ist dies die Idylle: die Anna ist schließlich mit ihrem Peter zusammen, Harrys Narbe hat seit vielen Jahren nicht mehr geschmerzt und alles ist gut, und der Kommissar hat den Verbrechern überführt und der Gerechtigkeit Genüge getan.
Eine zweite Ebene ist die der Szenenabfolge. Das große Motiv des Romans teilt sich hier in Teilmotive auf. Diese werden auf die eine oder andere Art und Weise in den Szenen und Szenenabfolgen behandelt. Um den Räuber Hotzenplotz zu überführen, basteln Kasperl und Seppel eine Kiste mit der Aufschrift „Vorsicht, Gold!“. Das Motiv ist also, die Kaffeemühle von Großmutter wiederzubekommen. Zwei Teilmotive sind, den Unterschlupf von Hotzenplotz zu identifizieren und vorher durch einen Trick Hotzenplotz zu einer unbedachten Handlung zu veranlassen.
Schließlich gibt es eine dritte Ebene. Jeder Mensch muss eine Reihe von Handlungen ausführen, um ein Motiv oder ein Teilmotiv zu erreichen. Er muss, wenn wir weiter beim Hotzenplotz bleiben, eine Kiste auswählen, diese mit Sand füllen, ein Loch in die Kiste bohren und es mit einem Streichholz verstopfen, die Kiste zunageln und mit roter Farbe einen Schriftzug darauf pinseln. Mit anderen Worten: die Teilmotive teilen sich weiter auf bis hin zu einzelnen Handlungen. In vielen dieser Handlungen muss, zumindest im Spannungsroman, das große Motiv der Geschichte durchscheinen.
Schauen wir uns aber diese drei Ebenen jede für sich an.

Makroebene: der Plot

Spannungsromane haben ein einheitliches Ziel, zumindest in den meisten Fällen. Am einfachsten lässt sich dies an Krimis erklären. Irgendjemand hat einen Mord begangen. Der Kommissar muss jetzt, zunächst nur von Amts wegen, diesen Mord aufklären. Sein Motiv ist also die Wiederherstellung der Gerechtigkeit (im weiteren Sinne) und den Täter vor Gericht zu bringen (im engeren Sinne).
Häufig findet man folgenden Ablauf: in einem ersten, kurzen Akt lebt der Protagonist noch in einem Gleichgewichtszustand, der dann aber massiv erschüttert wird; in einem zweiten, längeren Akt orientiert sich der Protagonist und plant seine Handlungen; in einem nächsten, dritten Akt handelt der Protagonist; und schließlich erreicht der Protagonist sein Ziel und kehrt mehr oder weniger zur ursprünglichen Idylle seines Lebens zurück.
Ein Beispiel: der Protagonist wacht morgens auf und bereitet alles für sein Frühstück vor (erster Akt); als er aus dem Fenster blickt, stellt er fest, dass draußen ein Riesenchaos herrscht, die Menschen sich wie irre benehmen und dann natürlich auch, dass sich plötzlich ein Großteil der Bevölkerung in Zombies verwandelt hat: der Protagonist flieht vor ihnen und sucht nach einem sicheren Unterschlupf (zweiter Akt); da sich die Zombies allerdings „irgendwie“ intelligent verhalten, reicht eine einfache Flucht nicht und nötigt den Protagonisten zu einem Gegenschlag (dritter Akt); dieser Gegenschlag gelingt zwar nicht vollständig, aber zumindest so, dass der Protagonist einen besseren Zustand herstellen kann (vierter Akt). Das ist nun keine besonders originelle Geschichte, zugegeben. Sie ist sogar recht primitiv und wer die üblichen Zombieromane und Zombiefilme kennt, hat sie schon 1000 mal gelesen/gesehen. Aber das Prinzip dürfte dadurch deutlich geworden sein.
Das Bedürfnis, das in Zombieromanen wesentlich verletzt wird, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Das Motiv des Protagonisten besteht zum Beispiel darin, sich mit anderen Menschen zusammenzutun und eine zombiefreie Zone zu errichten.
Nehmen wir ein etwas missglückte Beispiel für eine Geschichte: das erste Buch von Twilight. Im Prinzip handelt es sich um zwei Geschichten, die hintereinander erzählt werden. Die erste Geschichte ist jene, wie Bella und Edward ein Paar werden. Hier ist der Vorspann (der erste Akt) relativ lang; man kann ihn bis zu jener Szene in der Biologiestunde angeben, als Bella merkt, dass Edward offensichtlich großen „Abscheu“ gegen sie hegt. Allerdings könnte man den Wechsel in den zweiten Akt auch schon früher ansetzen, nämlich den Moment, in dem Bella Edward zum ersten Mal sieht. Wann genau man dieses Wechsel sieht, ist wohl eine Geschmacksfrage. Der zweite Akt spannt sich (meiner Ansicht nach) bis zu dem Moment, als Bella in der Stadt von einigen Jugendlichen verfolgt und durch Edward gerettet wird. Man kann allerdings auch die Restaurantszene mit dazunehmen. Ab hier gibt es dann einen „Tanz“, was für eine Beziehung die beiden führen können. Dies hängt im Wesentlichen davon ab, wer Edward ist. Als dies schließlich klar wird, wechselt der Roman (nicht der Film) in den vierten Akt und könnte abgeschlossen werden. Nun passiert hier aber Folgendes: in dem Moment der Idylle (erster Akt der zweiten Geschichte) bricht eine Art Katastrophe in die Welt der beiden ein: ein feindlicher Vampir, dessen Motiv eindeutig ist: er möchte Bella töten. Und nun wiederholt sich die ganze Struktur: es wird nach einer Lösung gesucht (zweiter Akt), die Lösung durchgeführt (dritter Akt), wobei es einige Komplikationen gibt, und schließlich der Feind besiegt (Übergang in den vierten Akt).
Missglückt (zumindest in einem gewissen Sinne) ist Twilight deshalb, weil die beiden Geschichten nicht eng genug miteinander verflochten sind. Es gibt sozusagen zwei große Motive, die das Handeln der Protagonisten motivieren, aber den Roman zerbrechen. Hier wäre eine engere Verflechtung günstiger gewesen. Auf der anderen Seite ist allerdings diese Zweiteilung auch nicht so schlimm, weil es einige Nebenkonflikte gibt, die dem Roman wieder eine gewisse Einheitlichkeit verschaffen: so zum Beispiel die Kabbeleien zwischen Bella und ihrem Vater oder der sich abzeichnende Konflikt zwischen Edward und Jacob. Der Film schafft es hier, die beiden Konflikte ein Stück weit parallel laufen zu lassen; so wird zum Beispiel relativ frühzeitig gezeigt, wie ein Mann von den drei fremden Vampiren gejagt wird und wie hier, über den Vater von Bella, dieser Tote zu einem Thema für Bella wird.

Mesoebene: die Szenen

Ein Plot teilt sich selbstverständlich in Szenen auf. Und zunächst kann man sagen, dass sich die Struktur des gesamten Plots auch in den einzelnen Szenen, aber auch in Szenenabfolgen wiederholt. Es gibt also dieselben vier Akte in manchen Sequenzen und in den Szenen selbst. Hier ist allerdings Vorsicht geboten! Während der Spannungsroman in seinem Plot am besten so aufgebaut wird, wie ich das oben geschildert habe, gilt dies für die Szenen nur teilweise. 95 % aller Szenen gehorchen dieser Regel, 5 % allerdings nicht.
Diese 5 % dienen zum Beispiel der Beschreibung von Ortswechseln (Reisen) und sind entsprechend nur kurz; viel wichtiger sind Szenen, die der charakterlichen Vertiefung dienen: so nutzt der italienische Krimiautor Camilleri solche Szenen, um seinen Commissario Montalbano irgendwo essen gehen zu lassen und ihn dabei als genusssüchtigen und knurrigen Menschen zu beschreiben. Die Szenen selbst tragen wenig oder gar nichts zum Fortgang der Geschichte bei und sind humorvolle Einsprengsel.
Im Allgemeinen aber kann man sagen, dass eine Szene immer in irgendeiner Weise ein Teilmotiv in Bezug auf das gesamte Motiv verwirklicht. Zu Beginn eines Romans sind diese Motive noch sehr lose mit dem Gesamtmotiv zusammenhängend. Bella aus Twilight zum Beispiel möchte sich einfach nur irgendwie in ihrer neuen Umgebung einleben; Harry Potter möchte vor allem aus dem Schussfeld seiner Ersatzfamilie kommen; und die Forscher aus Lost World (Michael Crichton) sind zunächst nur daran interessiert, die Gerüchte zu klären, ob es eine zweite Insel mit Dinosauriern gibt. Gerade Lost World zeigt uns aber auch, wie natürlich verschiedene Motive ineinandergreifen können: zunächst wird eine Information geprüft und bestätigt, was als nächstes die Reise auf die Insel motiviert; dort geraten die Forscher dann in allerhöchste Gefahr und ihr letztes Motiv ist die sichere Flucht aus der tödlichen Umgebung. Zusammengehalten wird diese Geschichte durch ein ganz anderes Bedürfnis, den Forschungsdrang.
Jede Szene verwirklicht also ein Teilmotiv. Und ein Weg zu einer guten Szeneabfolge besteht darin, das große Motiv gut aufzuteilen. Hier jedoch ist Vorsicht geboten.
Die meisten Spannungsromane enden damit, dass ein Motiv des Protagonisten befriedigt wird. Der Täter wird überführt, die Liebe erfüllt sich, der böse Herrscher ist besiegt. Genau das aber müssen Szenen nicht leisten. So kann in einer Szene zum Beispiel das Gespräch zwischen dem Protagonisten und einer Zeugin unbefriedigend ausfallen. Der Protagonist möchte Klarheit schaffen (Bedürfnis) und die Zeugin kann oder will dies nicht leisten. Auf der Ebene der Szenen also kann ein Bedürfnis enttäuscht werden. Das sind dann die berühmten Hindernisse, die Autoren von Spannungsromanen in ihrer Geschichte einbauen sollten. Eine andere Abweichung ist die Täuschung. Der Kommissar verfolgt eine falsche Spur und muss feststellen, dass er die Tatsachen missinterpretiert hat. Nehmen wir an, der Schriftsteller hat dies in 4-5 Szenen ausgeführt. Diese haben für sich die richtige Abfolge und bauen eine gewisse Spannung auf, enden aber mit einer Enttäuschung.
Trotzdem muss der Protagonist von Szene zu Szene ein Motiv haben, egal ob dieses erfüllt oder enttäuscht wird. Und eine der häufigsten Fehler junger Schriftsteller ist, dass ihre Protagonisten gerade keine solche Teilmotive haben und deshalb auch nicht handeln. Nicht handelnde Protagonisten, ich glaube, das muss man nicht weiter erklären, sind der Tod der Spannung. Hier ist es hilfreich, sich Szene für Szene ein Motiv zu setzen, auf das der Protagonist hin strebt und diese Motive als Teilmotive in Bezug auf den gesamten Roman zu entwerfen, mit den Einschränkungen, die ich oben genannt habe.

Mikroebene: die Handlungen

Genauso gibt es allerdings auch eine Motiviertheit, die sich von Satz zu Satz entlanghangelt. Hier möchte ich noch einmal auf den Roman MondSilberLicht eingehen und ein relativ unverfängliches Beispiel geben:
(1) Ich war trotz der Kälte eingeschlafen. (2) Ich erwachte, weil jemand meinen Namen rief. (3) Verwirrt sah ich mich um. (4) Gleich darauf fiel mir ein, was passiert war. (5) Vorsichtig stand ich auf, doch meine Beine wollten nicht richtig gehorchen.
(6) »Ich bin hier«, flüsterte ich und versuchte es gleich noch einmal etwas lauter. (7) Da stand Calum plötzlich neben mir. (8) Seine Augen glitzerten mich an. (9) Erleichtert zog er mich an sich.
(Position 1211)
Wir können nun diese Passage Bedürfnis für Bedürfnis und Motiv für Motiv zerpflücken. Das ist eine etwas lästige Aufgabe, leider aber sehr hilfreich, um diese Mikroebene der Motiviertheit zu veranschaulichen.
Satz (1) bezieht sich auf das Bedürfnis, seine Müdigkeit zu „befriedigen“. Dieses Bedürfnis muss man aus dem Kontext nicht erwähnen und da das Motiv die übliche Art und Weise ist, wie man mit Müdigkeit umgeht, kann die Autorin die Sache rasch abhandeln. Konventionelle Bedürfnisse oder solche, die in der Geschichte keine große Rolle spielen, müssen nicht weiter erklärt werden. Auch Satz (2) ist unproblematisch. Hier kommt die Motiviertheit aus der Alltagslogik: wer einschläft, wird irgendwann aufwachen. Der Satz (3) ist auch konventionell, basiert aber auf psychologischem Alltagswissen: kurz nach dem Aufwachen ist man orientierungslos. Das muss zwar nicht immer so sein. Aber es ist nachvollziehbar und genau darauf verlässt sich die Autorin auch. Satz (4) nutzt wie Satz (2) eine Alltagslogik: wer desorientiert ist, orientiert sich; hier durch eine Erinnerung, die die Situation klärt. Woolf kürzt allerdings diese Klärung komplett ab. Sie erinnert durch eine „Floskel“ („… was passiert war“) an das, was der Leser eben gelesen hat. Dadurch vermeidet sie Verdopplungen.
Auch der fünfte Satz beruht auf einer Konvention: wer schläft, der liegt, und muss aufstehen.
Ab hier beginnt eine recht hübsche Verflechtung. In Satz (2) erwacht Emma, weil sie gerufen wird. Der Satz drückt ganz direkt eine Motiviertheit aus. Er begründet, warum Emma sich so verhält. Dies wird nun in Satz (6) wieder aufgenommen und zwar auf der Ebene der konventionellen Handlungsabfolge: wer gerufen wird, antwortet. Im Satz (7) steht Calum zwar plötzlich neben Emma, aber auch dies beruht eigentlich nur auf einer konventionellen Handlungsabfolge: wer gesucht wird, wird gefunden. Und noch etwas erbsenzählerischer: jemand hat ein Bedürfnis, jemanden zu finden (Calum und Emma), sucht deshalb (Teilmotiv) und wird gefunden (Motiv). Etwas kompliziert ausgedrückt, ich weiß. Manchmal ist es allerdings sehr hilfreich, sich diese winzigen Funktionen deutlich zu machen, die alle zusammen in eine große und gute Geschichte münden.
Die letzten beiden Sätze beziehen sich auf die Motiviertheit von Calum und lassen zwischen den Zeilen lesen, dass er sie liebt. Emma erscheint hier passiv. Das ist allerdings kein erzählerischer Fehler. In Liebesromanen findet man solche Passagen häufiger, gerade wenn der Protagonist verunsichert und schüchtern ist. Hier muss der Autor dann zwischen einer einheitlichen Charakterisierung als verunsichert und der Notwendigkeit, dass der Protagonist auch handeln muss, abwägen. Woolf schafft dies sehr gut.
Zunächst können wir also an der ganzen Passage feststellen, dass von Satz zu Satz Motive beachtet werden, auch wenn diese nicht hingeschrieben werden. Sie lassen sich nur zwischen den Zeilen und Sätzen lesen. Oft werden sie vom Leser ergänzt. Der Leser kann sie leicht ergänzen, weil sie (die Motive) konventionell oder psychologisch gut nachvollziehbar sind.
Vielleicht wird jetzt auch deutlich, warum ich auf diese Ebene so beharre: die konventionellen Motive machen Handlungen und Handlungsabfolgen nachvollziehbar. Wir erinnern uns: einschlafen - aufwachen. Und die psychologisch nachvollziehbaren Motive gestalten den Charakter mit. Der Charakter ist besonders wichtig, wenn es um die Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten oder der Protagonistin geht.

Erbsenzählerei

Es ist natürlich schon ganz schön penibel, was ich dort oben gemacht habe. Und, soviel kann ich verraten, ich habe die ganze Sache abgekürzt. Ich hätte noch umständlicher und ausführlicher beschreiben können.
Trotzdem empfehle ich euch, euch die eine oder andere Stelle eines Romans auf genau diese Art und Weise anzusehen, sie nämlich nach Bedürfnissen und Motiven durchzukommentieren. Angenehm ist diese Arbeit nicht. Ich habe hier ein gewisses wissenschaftliches Selbstverständnis. Eine der ersten Regeln dabei ist, eine Sache so präzise wie möglich zu beschreiben. Spaß allerdings macht das nicht so wirklich. Warum aber ist dieser Arbeit ganz sinnvoll? Ihr entwickelt eine Sensibilität dafür, wie und wann ihr solche Motiviertheiten präziser einsetzt. Um diese Sensibilität geht es. Sie ist dort hilfreich, wo man (bei seinen eigenen Romanen) über einen Missklang stößt und nicht genau weiß, woher dieser kommt.
Wenn ihr allerdings einen Roman schreibt, dann solltet ihr diese Techniken komplett vergessen. Wenn ihr euch nämlich hier versucht, penibel daran zu halten, könnt ihr sicher sein, dass ihr vor allem eins schreibt: hölzerne Literatur.
Nicht die Techniken sind zuallererst wichtig, sondern das Gefühl für ihren angemessenen Einsatz. Manche Menschen bringen dieses Gefühl aus ihrem Leben mit; andere können sich dies, zum Beispiel durch die Analyse, erarbeiten. Solltet ihr mit eurem Schreibstil unglücklich sein oder jemand daran herummeckern, dann sind diese akribischen Kommentare ein ganz gutes Mittel, um sich zu verbessern.
Ihr solltet euch Zeit lassen und gerade am Anfang mit euch selbst großzügig sein. Wenn ihr keine Lust mehr hat (was zuerst häufig nach zwei, drei Kommentaren passiert), dann folgt eurer Lust und hört auf.

Fazit

Seit Jahren bin ich auf der Suche, was gute Techniken des Spannungsaufbaus ausmacht. Diese Techniken sind natürlich irgendwie schon längst bekannt. Häufig werden sie in Form von Empfehlungen (Maximen) gegeben, wie zum Beispiel: baue Hindernisse in deine Geschichte ein!
Allerdings sind solche Maximen auch wieder recht handlungsleer. Denn Hindernisse allein machen noch keine spannende Geschichte aus. Deshalb liegt mein Schwerpunkt darauf, diese Techniken nicht nur präziser zu identifizieren, sondern auch ihre Verflechtung zu beschreiben. Dabei ist die analytische Trennung in die drei Ebenen der Motiviertheit (Plot, Szene, Handlung) eine ganz hilfreiche Konstruktion.
Auf keinen Fall sollte man aber diese Techniken überbewerten. Ein technisch einwandfrei geschriebener Roman kann trotzdem langweilig sein. Und sofern diese Techniken nicht ständig misshandelt werden, kann man sich auch den einen oder anderen „Schnitzer“ leisten. Sofern die Geschichte im Großen und Ganzen gut funktioniert, sind Leser meist so freundlich, hier die Lücken aufzufüllen. Und meist merken sie das selbst gar nicht.

Ich werde auf dieser Technik noch ein wenig herumreiten. Es wird also weiterhin um Sätze gehen und um die Verflechtung von Sätzen. Und es wird um solche „realen“ Mikromotive in Erzählungen gehen.

Kleiner Tadel an einige meiner Leser und an mich in Sachen Andreas Adlon

Ich hatte es schon einmal gesagt, allerdings nur nebenbei (Kleines Eigenlob: Besucherzahlen): an dieser Stelle möchte ich noch einmal deutlich darauf hinweisen, was ich überhaupt zu Adlon sage und was nicht. Denn die Zustimmung, die ich hier erfahre, wird meinen Argumentationen nicht gerecht. Und eben auch dem Autor von Ausgehandelt nicht.
Ja, ich habe mich sehr geärgert. Ich gebe es zu! Aber das ist bitte kein Grund, jetzt so massiv auf ihm herumzuhacken. Und sei es nur in lobenden E-Mails an mich.
Ich habe zum Beispiel geschrieben, Adlon verstehe zu wenig vom guten Erzählen. Er lasse seine Leser „manchmal komplett orientierungslos zurück“. Ich habe bereits geschrieben, dass dies so, wie es dort steht, ein unbegründetes Geschmacksurteil ist. Nicht einer meiner Leser, die mir dann eine E-Mail geschrieben haben, ist aber auf die Idee gekommen, mich aufzufordern, mein Urteil an Beispielen zu begründen. Das allerdings wäre fair gewesen! (zur guten Orientierung in Texten: Den Charakter verorten)
Derzeit wird auf Amazon, aber auch auf Facebook, in einer Art und Weise aufeinander herumgehackt, die einfach nur noch verletzend ist. Und hier zeigt sich, dass die Leute, die im Hintergrund am meisten lästern, auch die Leute sind, die am wenigsten begründen können, was „objektiv“ nun gut oder schlecht sei. Ich bitte meine Leser, über das, was sie sagen, ein wenig nachzudenken.
Ein anderer Grund, warum mein Artikel unvorsichtig ist: er suggeriert, dass die „seltsame politische Ansicht“, die sich in dem Wort Hassprediger ausdrückt, etwas mit seinem Erzählstil zu tun hat. Genau das unterschreibe ich aber nicht. Das sind zwei sehr unterschiedliche Gebiete. Und vor allem müssen die beiden Gebiete unterschiedlich argumentativ behandelt werden. Hier war ich in meinem Artikel viel zu unklar (siehe zum Beispiel den Abschnitt zur ethischen Disjunktion in meinem Artikel Disjunktion: ausschließende und alternative Urteile).

Ich entschuldige mich also an dieser Stelle öffentlich bei Andreas Adlon. Nicht, weil er nun doch ein guter Autor ist (oder ich meine Meinung gewechselt hätte), sondern weil er ein Mensch ist und egal, wie sein Werk nun qualitativ zu beurteilen ist, einfach einen grundlegenden Respekt verdient. Den verdiente er sogar, wenn er, scheinbar, diesen Respekt selbst nicht zeigt oder zeigen würde.
Es ist nun so, dass ich natürlich gerne an Texten herumkritisiere. Oder an Wörtern. Aber: ich hätte auch die Reichweite meiner Kritik bedenken dürfen. Und die habe ich nun anscheinend nicht bedacht. Ich bin immer noch etwas erschrocken, was ich ausgelöst habe. Und lösche zum ersten Mal Kommentare, die mich selbst gar nicht angreifen. Was viel schlimmer ist: ich hätte es wissen müssen. Ich habe ja Erfahrung damit gemacht. Und so richtig ich es finde, Ruprecht Frieling an dieser Stelle zu unterstützen, so falsch ist es, dann auch noch die ganze Sache durch einen Nebenschauplatz und einen gewissen spöttischen Ton anzuheizen. Das war von meiner Seite aus höchst unprofessionell. Und auch dafür entschuldige ich mich bei dem Autoren.

Im übrigen kann ich nur davor warnen, ein solches Werk einfach als schlecht zu bezeichnen. Beim Lesen ist es wichtig, welches Ziel ich habe. Und sich unterhalten zu lassen ist eben nur ein Ziel. Mich hat das Buch von Adlon nicht unterhalten. Ich bin zu häufig aus dem Lesefluss rausgestolpert, weil mich die logischen Zusammenhänge, die er konstruiert, verwirrt haben. Doch genau dies wäre zum Beispiel ein Ziel, mit dem man dieses Buch fruchtbar lesen könnte: warum verwirrt mich diese Erzählweise? Ließe sich dies objektiver ausdrücken? (siehe auch: Singularität der Erfahrung)

Und falls jetzt jemand auf die Idee kommt, Herr Adlon habe mich verklagt und eine öffentliche Stellungnahme von mir gefordert: Nein, das hat er nicht. Hier einen Rückzieher zu machen, zumindest in gewissen Bereichen, bin ich nicht nur Herrn Adlon schuldig, sondern auch mir selbst. Und in gewisser Weise vielen anderen Autoren, die auf Kindle veröffentlichen und sich heftigen Anfeindungen ausgesetzt sehen.

05.11.2012

Der Service bei Dragon NaturallySpeaking

Letzte Woche ist mein Computer abgestürzt und hat mir meine Sprachdatei von Dragon NaturallySpeaking aufgefressen. Zumindest ließ sie sich nicht mehr öffnen. Das ist immer ziemlich ärgerlich, weil es recht lange dauert, bis ich die Wörter, die ich brauche, wieder eintrainiert habe.
Da ich bereits einmal im Service von Dragon hervorragend beraten worden bin, habe ich dort angerufen und mein Problem geschildert. Auch diesmal wurde mir rasch und äußerst freundlich geholfen. Und die Frau am Telefon hat mir sogar einen Tipp gegeben, wie ich mir die ganze Sache noch weiter erleichtern könnte. So dass ich bereits alle Wörter, die ich in den letzten drei Monaten eintrainiert hatte (und die mir verloren gegangen sind), wieder in meinem Sprachprogramm zur Verfügung habe: in drei Tagen.
Ich empfehle ja die neue Version des Dragon NaturallySpeaking sowieso. Den Service und vor allem die Servicemitarbeiter kann ich bisher nur über den grünen Klee loben.

unbedingt lesen: Rhetorik-Blog

Hans Hütt, Autor des Rhetorik-Blogs, darf sich in letzter Zeit getrost feiern: wunderbare Analysen und das in einer qualitativ selten zu findenden Sprache; mit einem Wort: äußerst empfehlenswert. Wie zum Beispiel sein neuester Artikel: Eine riesengroße schwarze Null.

Ich habe heute hübsch viel Luft. Ich werde nun zu meinem lieben Max Raphael zurückkehren und zu seinem Buch Von Monet zu Picasso. Darin ist natürlich auch eine Drohung eingeschlossen, dass ich demnächst mehr über Kunst schreiben werde.

Wie man manchmal Bücher lieben lernt

Es gibt Bücher, die würde man so gar nicht lesen. Und wahrscheinlich auch nicht lieben. Harry Potter zum Beispiel hat mich nicht interessiert, damals, als der Hype darum losging. Aber wenn man seinen kleinen Sohn auf dem Schoß sitzen hat und er einem ungeduldig mit der Hand gegen die Brust klopft und schon halb einschlafend murmelt: Los! Lies weiter! — Wer verbindet mit solchen Erinnerungen nicht die schönsten Momente seines Lebens? Und die Bücher, die eben genau darin eine Rolle spielen?

Blogger und Beleidigungen, auch Amazon-Rezensionen

Gerade in letzter Zeit wieder spielen wohl einige Leute komplett irre. Kirsten Wendt ist aufs übelste beleidigt worden: ein Rezensent wirft ihr Abzocke und Betrug vor, weil sie Texte aus einem Buch schon einmal vorher veröffentlicht hat und diese immer noch, und zwar kostenlos, zu lesen sind. Erst als Wolfgang Weitzdörfer noch einmal deutlich gesagt hat, dass der Rezensent hier Kirsten eine Straftat unterstellt und das selbst eine Straftat wäre, hat der betreffende Rezensent dann seine Rezension abgemildert. Ich hatte ihm auf seine Rezension einen Kommentar geschrieben, halb wütend, aber auch halb belustigt, weil die Begründung in der Rezension nun wirklich dämlich war.

Lake Hermanstadt, alias Anubis, berichtet von ähnlichen Erfahrungen in seinem Artikel Das Ende der Buchblogs. Zu den Problemen, die Vanessa hat, habe ich mich bereits geäußert: Äußerst dumme Menschen. Muss ich an John Asht echt erinnern?
Ich glaube, dass es an der Zeit ist, dass die Blogger sich untereinander stärker vernetzen und mindestens seelische Unterstützung geben. Ich finde es großartig, wie viele Menschen zum Beispiel Vanessa Beistand angeboten haben. Genau dasselbe erlebt zurzeit Kirsten und das ist nur richtig so.

Mir wird übrigens vorgeworfen, ich würde Kirstens Bücher nur deshalb gut rezensieren, weil ich sie (also Kirsten) kennen würde. Aber daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht: ich kenne Kirsten. Wer meint, die Motive meiner Rezension überprüfen zu müssen, kann leicht nachgoogeln und feststellen, dass wir schon längere Zeit einen sehr guten Kontakt miteinander haben.
Was die Bücher von Kirsten angeht: es ist ja nicht meine Literatur. Meist lese ich andere Bücher. Aber sie sind witzig geschrieben. Warum sollte ich das nicht honorieren? Ich gebe auch anderen jungen Schriftstellern fünf Sterne, auch mal, wenn diese noch nicht so tolle Werke geschrieben haben, ich aber merke, dass grundsätzlich ein gutes Gespür für den Leser da ist und was man ihm anbietet. Und außerdem: weil ich es schon lange mal lesen wollte, habe ich mir am Freitag Bücher von Erma Bombeck aus der Bibliothek ausgeliehen. Sie hat mit Werken wie Nur der Pudding hört mein Seufzen und Wenn meine Welt voller Kirschen wäre, was tät ich mit den Kernen weltweite Bestseller gelandet. Ich kann das gar nicht nachvollziehen. Die Witze erscheinen mir nicht witzig, die Ironie herbeigequält und die Geschichten sind eindeutig zu lang und zu wenig rhetorisch ausgefeilt. Von der Vielfalt der Humortechniken ist Kirsten Wendt meiner Ansicht nach eindeutig besser und deshalb auch vergnüglicher. Mein großes Humorbuch ist übrigens, wer es wissen will, Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Ich darf hier unterstellen, dass das den meisten Menschen nicht einfallen würde.

Bloggen ist eine wunderbare Möglichkeit, unterhalb der offiziellen Kultur zu bleiben. Blogs bieten Vielfalt an, interessante Nischen, neue Einsichten. Es wäre schade, wenn das durch Schreihälse und halblegale Meinungen ausgedünnt würde.
Deshalb rufe ich jeden Leser auf: mischt euch ein! Unterstützt die Blogger! Natürlich nur so lange, solange sich der Blog im demokratischen Rahmen bewegt. Unterstützt auch die Kindle-Autoren, vor allem die unbekannten. Ich habe zum Beispiel Liz Ambros Buch Allgäugewitter rezensiert. Das wäre nie ein Buch gewesen, dass ich mir einfach so gekauft hätte. Auf die Autorin bin ich über eine Freundin aufmerksam geworden, die mir gerade vorletzte Woche über das Mobbing erzählt hat, welches gegen diese Autorin auf Facebook stattfindet. Darum habe ich mich aber gar nicht gekümmert. Ich habe mir einfach nur angesehen, dass irgend ein anderer Rezensent dieses Werk mit einen einzigen Stern beurteilt hat. Die Beurteilung ist schon sehr hart. Ich kann sie in gewisser Weise nachvollziehen, weil die Komposition des Buches deutlich komplexer ist als bei vielen anderen Kriminalromanen. Oftmals sind die Leser mit solchen komplexen Geschichten eigentlich nicht überfordert, wenn sie es erwarten. Und das Problem ist einfach, dass die Erwartungshaltung nicht erfüllt wird und dann das Buch enttäuscht. Was allerdings eigentlich gar nicht das Problem des Buches ist.
Jedenfalls habe ich das Buch durchgelesen. Es hat mich nun nicht vom Hocker gerissen, obwohl ich die Komposition mutig finde und auch insgesamt gelungen. Und stehe selbstverständlich dazu, das vier Sterne in gewisser Weise freundlich, aber durchaus für mich vertretbar sind.

02.11.2012

Die Ontologie ist auch nicht mehr das, was sie mal war, außerdem: Sprachgeschichte

Während wir also intuitiv zu wissen scheinen, wer cool ist, wird es bei der Frage nach der Ontologie schon schwieriger: Was genau ist dieses Cool eigentlich? 
Das musste ich gerade auf science.ORF.at lesen. Äh? Ontologie ist doch die Lehre vom Sein. Die Wortbedeutung ist Sache der Semantik (also der Bedeutungslehre).

Übrigens hatte ich einen Grund, nach der Etymologie des Wortes "cool" zu suchen. Ein besonders besserwisserischer Rezensent hat Kirsten Wendt ein Sternchen angedeihen lassen, weil sie angeblich keine Ahnung von dessen Gebrauch hat. Das wäre, selbst wenn das stimmen würde, eher ein lässlicher Fehler.
Leider aber trifft Kirsten Wendt hier den Kern sehr gut. Cool wurde wahrscheinlich aus dem Jazz in die Jugendsprache übernommen. Während der Jazz vorher vor allem Straßen- und Tanzmusik war, die aufheizen sollte, schlugen ab ungefähr Mitte der vierziger Jahre immer mehr Jazzer einen "intellektuellen" Weg ein. Gefördert wurde das durch moderne Klassiker, die Jazz-Elemente in ihren Klavierkonzerten, Sonaten, Symphonien verarbeiteten. Man denke nur an Ravels 1. Klavierkonzert, Milhauds La création du monde, an den coolen 3. Satz aus Prokofievs 7. Sonate.
Miles Davis veröffentlichte dann Mitte der 50er Jahre sein bahnbrechendes Album Birth of the Cool. Damals hieß cool in etwa "ernstzunehmend". Zwar war der Jazz, unter anderem auch durch George Gershwin, längst populär geworden. Doch er galt immer noch, und für manche weiterhin, als anrüchig und nur in veredelter Form, also höchstens orchestriert, als hinnehmbar.
Wie das Wort cool dann nach Deutschland gekommen ist, habe ich nicht so genau nachvollziehen können. Vermutlich durch die amerikanische Besatzung. Es hat hier noch seine amerikanische Bedeutung aus dem Jazz behalten: als ernstzunehmend, seriös. Und ab hier verwirrt sich die ganze Sache. Dass cool sich als Jugendwort für vorzüglich popularisiert hat, ist wohl regional unterschiedlich. Wie das immer bei solchen Wörtern passiert. In den 70ern jedenfalls soll es in den Hitparaden aufgetaucht sein. Hier wird es aber eher in dem Sinne gebraucht: ungewöhnlich, da traut sich jemand was.
Durchgesetzt, deutschlandweit, hat sich die Bedeutung von cool erst Anfang der 80er Jahre. Damit wurde aus dem Protestwort nach und nach ein Modewort, was ebenfalls ein häufiges Phänomen ist. Und wurde in der Jugendsprache durch andere Wörter abgelöst, zum Beispiel "geil". Heute scheint sich der Gebrauch von cool wieder zu verschieben. Vor über einem Jahr benutzte ein junger türkischer Verkäufer (ich habe nicht nachgefragt) eher im Sinne von zweifelhaft, dubios.

Cool gehört wohl zu den Chamäleons in der Sprachgeschichte. Mehr als andere Wörter wechselt es seine Färbungen. Und zeigt, dass es eine doppelte Sprachgeschichte der Wörter gibt: einmal die der äußeren Wortgestalt, einmal die ihrer Bedeutungen.

Übrigens auch ein Erlebnis. In der berliner U-Bahn flachsten einige Jugendliche sehr herum. Während sie lachten, meinte der eine: "Is ja voll die Trauer!" - Ironisch? Oder schon eine Bedeutungsverschiebung?

01.11.2012

Warum dicke Bücher ein Zeichen für Dummheit sind

Dienstag war ich bei einer Freundin (zum Babysitten). Der kleine Kerl (drei Jahre) begutachtete das Buch, das ich mir zum Lesen mitgebracht hatte, interessiert und sagte dann zu mir: „Meine Mutter versteht auch Bücher, in denen nicht so viel Wörter drin stehen müssen.“
Da hatte ich es wieder!