26.10.2009

Techniken des wissenschaftlichen Verstehens

Das Coachen von wissenschaftlichen und journalistischen Büchern macht mir, mit leichten Schwankungen, immer noch Spaß. Umso mehr, als ich kaum Werbung machen muss.
Montags betreue ich zwei Jugendliche aus 'problematischen' Familien, vor allem in Bezug auf den Deutschunterricht, die beide in derselben Klassenstufe wie mein Sohn sind (nicht auf derselben Schule).
Hier wie dort eröffnen sich aber ähnliche Probleme. Es geht um das Lesen. Hier wird es im Media-Mania-Magazin in der Dezember-Ausgabe von mir einen kurzen, eher journalistisch gehaltenen Artikel geben, der gegen das sinnentnehmende Lesen argumentiert. Tatsächlich ist - so finde ich mittlerweile - der Begriff des sinnentnehmenden Lesens dermaßen missverständlich, dass ich ihn in meinen Giftschrank der dummen Begriffe gepackt habe.

Verstehen wird immer an Sinnentnahme angekoppelt. Fragen Sie ruhig mal nach: eigentlich weiß kein Mensch, was Verstehen ist. Zumindest kann niemand es definieren. Trotzdem wird es gerne und ständig verwendet. Auch hier empfehle ich: weg mit dem Wort, auch wenn man Wissenschaftler ist oder Student einer Wissenschaft.
Aber fragen Sie nach! Die Reaktionen sind wirklich erstaunlich. Vom verzweifelten Händeringen bis zu Wutausbrüchen können Sie hier alles erleben.

Trotzdem muss man ja irgendwie mit wissenschaftlichen Texten umgehen.
Zur Zeit arbeite ich mit Markus, meinem einen 'Schüler', an Inhaltsangaben von Balladen. Balladen eignen sich sehr, um Grundtechniken des wissenschaftlichen Verstehens einzuüben.

1. Technik: Fragen stellen
Beim Lesen eines wissenschaftlichen Textes sollten Sie immer ein Papier zur Seite liegen haben. Notieren Sie jede Frage, die Ihnen einfällt, auch die 'dümmste'.
Fragen zu stellen ist ein hervorragendes Training des 'Neugierverhaltens'. Wie man aus Fachbüchern der Emotionspsychologie und der Neurophysiologie lernen kann, ist Neugierverhalten eine der wohltuendsten Eigenschaften für ein erfülltes Leben. Und wenn man das Ganze nicht so esoterisch ausdrücken will: Neugier ist die Fähigkeit, ein Thema zu bearbeiten, ihm seine Geheimnisse zu entlocken, nicht, es zu besitzen.
Themen besitzt man nicht. Themen sind gesellschaftliche Konstruktionen. Und selbst wenn ich zu einem Thema alles mir bekannte Wissen bearbeitet habe, kommt irgend ein Hansel an und äußert dazu einen neuen Aspekt. Themen lassen sich nicht kontrollieren. Und genau dies korrespondiert mit der Neugier.
Fragen stellen beantwortet nichts. Fragen stellen öffnet die Themen.

2. Technik: Teilüberschriften finden
Ein Text besteht aus vielen Wörtern. (Sieh mal an!)
Das Gehirn speichert seine Informationen über das Nadelöhr des Arbeitsgedächtnisses. Dieses Arbeitsgedächtnis kann zwischen drei bis neun Informationen gleichzeitig speichern, wobei die meisten Menschen etwa fünf bis sechs Informationen behalten. Menschen, die circa drei Informationen gleichzeitig behalten, werden oft als lernbehindert bezeichnet, während Menschen, die neun Informationen behalten können, als hochbegabt gelten.
Trotzdem: ein Text besteht aus vielen Wörtern. Jedenfalls aus wesentlich mehr als neun.
Um sich einen Text übersichtlich zu machen, muss man sich den Text einteilen. Überschriften, Unter-Überschriften, usw. gliedern vom Autor her den Text. Ingeborg Kriwet - Professorin der Sonderpädagogik a. D. - hatte mir vor fünfzehn Jahren schon mal gesagt, das Wichtigste sei, zunächst beim Inhaltsverzeichnis zu bleiben und sich dieses gut anzuschauen. Man könnte fast sagen: darüber zu meditieren.
Wissenschaftliche Texte zeichnen sich meist durch lange Kapitel aus. Auch diese werden rasch unüberschaubar. Und genau hier greift dann die Technik, Teilüberschriften zu finden. Damit gliedert man sich ein Kapitel und zwingt sich dazu, den Kern eines Absatzes oder Abschnitts zu formulieren.
Mehr noch: hatte man sich zuvor auf die Abfolge durch den Autor verlassen, muss man sich jetzt die sinnhafte Abfolge selbst herstellen.
Deshalb ist diese 'Lesetechnik' äußerst intensiv. Zwar dauert das Lesen dadurch auch viel länger, aber die genaue Beschäftigung macht hier vieles wett.

3. Technik: Clustern
Cluster sind 'Ideenwolken', 'Ideenlandkarten' (Anleitung siehe hier). Weil Cluster die Assoziationen mit anderen Begriffen, Ideen und Phänomenen herstellen, sind sie eher analytisch als kreativ.
Zum Clustern gehört aber auch sehr notwendig das anschließende Essay. Gabriele Rico, die die Technik des Clusters entwickelt hat, spricht in ihrem Buch 'Garantiert schreiben lernen' sehr explizit von Übersetzungen. Clustern hatte ich in meiner Rezension zu diesen Buch folgendermaßen beschrieben:

Clustering bildet für Rico allerdings immer nur einen Zwischenschritt. Er ist enorm wichtig, aber nie als Endprodukt zu verstehen. Fast jede Übung beginnt zwar mit einem Cluster, endet aber mit einem Text. Diese Texte und einzelne ihrer Elemente sind Inhalt des fünften bis neunten Kapitels. Dabei häufen sich in diesen Kapiteln Wörter, die zum Übersetzen gehören. Nichts anderes ist das Clustern: eine Übersetzung. Nicht in eine andere Sprache, sondern in eine andere Form. Und nichts anderes sind die Texte, die aus den Clustern entstehen: wiederum Übersetzungen.

(gesamte Rezension siehe hier)
Es sind also Übersetzungsprozesse, die eigentlich das Clustern ausmachen. (Zur Übersetzung ist nicht nur Walter Benjamins Aufsatz 'Die Aufgabe des Übersetzers', GW Bd. IV,1 S. 9-21, interessant, sondern auch die Sammelbände 'Übersetzen: Walter Benjamin': Hart Nibbrig, Christiaan (Hrsg.), Frankfurt am Main 2001, und 'Übersetzung und Dekonstruktion': Hirsch, Alfred (Hrsg.), Frankfurt am Main 1997, spannend zu lesen.)
Und damit dürfte auch klar sein, dass Cluster nur eine Form in einem Prozess sind.
Wenn Sie also clustern, dann schreiben Sie danach auch aus diesen Clustern Textchen. Diese dürfen ohne Anspruch sein. Denn zunächst sind die ja nur für Sie.

4. Technik: Zettelkästen
Kaum ein Uniprofessor nutzt noch Zettelkästen. Ein deutlicher Fehler, unter uns gesagt. Zettelkästen entwickeln, wenn man sie kontinuierlich füllt, ein erstaunliches Eigenleben. Sie verraten einem Ideen, auf die man ohne sie nicht gekommen wäre.
Einen guten elektronischen Zettelkasten finden Sie - kostenlos - hier.


23.10.2009

Aristotelische Zombies

Aristoteles propagierte für das Drama die Einheit von Zeit, Raum und Handlung. Der Film Pontypool, der den dämlichen deutschen Untertitel Radio Zombie trägt, schafft es, sich dieser Form wieder anzunähern. Schon immer haben Zombie-Filme mit klaustrophobischen Elementen gespielt. Hier jedoch wird der Senderaum einer Radiostation zum (fast) alleinigen Schauplatz des Films. Im Film gibt es kaum Splattereffekte. Trotzdem ist, dank einer hervorragenden Regie, gerade die ausgefeilte Dramaturgie und die enorme Spannung das, was diesen Film so außergewöhnlich macht. Nicht zuletzt liegt das an den brillanten Schauspielern, allen voran Stephen McHattie, der Jack Nicholson's besten Rollen Konkurrenz macht, und der wunderbaren Lisa Houle, die im realen Leben mit Stephen McHattie verheiratet ist.
Mehr noch: der Film ist so intelligent wie witzig gemacht.

Provozieren um jeden Preis

Ich verweise hier mal, nicht nur für Coaches, sondern sehr generell, auf den warmherzigen Video-Post von Monika Lohmann.
Weil ich immer wieder solche Erfahrungen in Diskussionsforen mache, habe ich mich seit längerer Zeit damit beschäftigt. Im weitesten Sinne greift dies auf meine Beschäftigung zu Empathie und Gewalt zurück.
Frau Lohmann habe ich dann folgendes in ihren Blog kommentiert:
Sehr geehrte Frau Lohmann!
Das ist mal ein sehr vernünftiger Kommentar. Der Thread war wirklich furchtbar. Zum einen aber bestätigt der Erfolg dieses Threads Luhmanns Ansicht, dass Konflikte gerade dadurch binden, weil sie auf der einen Seite hochselektiv sind, auf der anderen Seite höchst diffus. Beides geht deshalb zusammen, weil die Struktur eines Konfliktes primitiv ist, z.B. erfolgreich sein / nicht erfolgreich sein. Die Auflösung dieser Struktur jedoch läuft über ‘Verzeitlichung’ durch anderes und andere Themen, nicht durch Aktualisierung des Konflikts. (Im übrigens ist Ihr Beitrag wirklich klasse: die Majestät des Absurden betritt die Bühne, wenn ich mal mit Paul Celan so formulieren darf.)
Zum anderen erlebe ich diese Form der Diskussion immer wieder, gehe es nun um mailing-Listen zur Systemtheorie und zum kreativen Schreiben, um Nazi-Blogs, etc. Die Ursache finde ich unter anderem in der in der Linguistik altbekannten Spaltung zwischen formellen (grammatischen) und semantischen (bedeutsamen) Muster. Formelle Muster sind gleichsam Anordnungen der Materie, so, wenn ein Satz eine bestimmte Abfolge von Wörtern haben muss, um grammatisch korrekt zu sein. Semantische Muster sind gleichsam der Sinn, der entsteht, wenn ein Kopf mit diesem Satz zusammenstößt. Da wir zuerst den Sinn eines Satzes suchen, verwechseln wir gerne das semantische Muster mit dem formellen Muster. Doch wie heißt es so schon? “Das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.” Mein Gegenüber sieht eben nicht mein semantisches Muster, sondern nur das formelle. Und über diesen Trugschluss heizen sich solche Diskussionen auf.
Sie hatten das übrigens, mit anderen Begriffen, vor einigen Monaten ähnlich formuliert. Ich finde bloß gerade nicht Ihren Eintrag (ich gestehe: ich bin zu faul zum Suchen).
Liebe Grüße,
Frederik Weitz
In der Ethnologie, so scheint es mir, kann man hier auch zwischen Konfliktgesellschaften und Erzählgesellschaften unterscheiden. Erzählgesellschaften neigen sehr viel stärker zu ritualisierten Werten und Normen. Sie sind weniger pluralistisch. Dagegen pluralisieren sich Konfliktgesellschaften (z.B. moderne Demokratien) über diese Konflikte aus. Das liegt vermutlich daran, dass die wenigstens Konflikte rechtstauglich sind, sondern nur interaktionstauglich (vgl. dazu Luhmann, Niklas: Ausdifferenzierung des Rechtssystems. in ders.: Ausdifferenzierung des Rechts, hier S. 38f.; Luhmann spricht hier, in etwas anderer Bedeutung, von basaler Souveränität (Interaktion) und Entscheidungssouveränität (Rechtsinstitution)).
Interaktionstaugliche Konflikte werden sehr unterschiedlich gelöst, während rechtstaugliche Konflikte durch daran anschließende formelle Verfahren gleichförmig bearbeitet werden sollten. Nicht nur werden interaktionstaugliche Konflikte dadurch pluralistisch, weil sie durch Schweigen, Duldung, Rückzug, Kompromisse und ähnliches gelöst werden; auch rechtstaugliche Konflikte können pluralisierend sein, wenn der Absprung von der Interaktion in institutionalisiertes Recht an verschiedenen Stellen getätigt wird. So kann der gleiche Nachbarschaftsstreit (die auf das Nachbargrundstück laubende Weide) entweder gleich vor dem Kadi enden, oder erst dann, wenn schon Mord und Totschlag passiert sind. Diese Pluralisierung liegt allerdings nicht im institutionalisiertem Recht, sondern im Wissen um dieses und in seiner Relevanz für die Teilnehmer.


"Mein Pop-3-Ausgangsserver",

so sagte ich zu einer Kollegin, "funktioniert doch gerade nicht."
Sie: "Du hattest doch schon seit Monaten keinen Sex, oder?"
Ich habe mich an das Oder geklammert.

P.S.: Mittlerweile kann ich wieder e-mails verschicken.


Nutzen des Coaching

Im dritten Teil wird die eigentliche «Black Box» beleuchtet. Punktuell werden im Rahmen dieser Tiefenbohrung dem Leser Zugänge in die geheimnisvolle Welt der objektiven Hermeneutik ermöglicht. Besonders spannend ist die zentrale und auch provokative Aussage, dass Supervisionen nach aussen hohe Kompetenz ausstrahlen, es sich dabei aber oftmals mehr um Schein als um Sein handelt.
So schreibt die NZZ über das Buch Black-Box Beratung? Empirische Studien zu Coaching und Supervision. Das ist ein Eindruck, der sich mir schon vor langer Zeit aufgedrängt hat. Es wird mehr auf die positive Außenwirkung geachtet als auf inhaltliche Fundierung.
Der letzte, groß angelegte Gag war und ist ja die emotionale Intelligenz. Die funktioniert alleine schon deshalb nicht so ohne weiteres, weil Emotionen, Affekte und Gestimmtheiten schärfer unterschieden werden müssen.



22.10.2009

Avatar

Vor etwas über einem Jahr habe ich 'Fluch der Karibik' auseinander klabüstert. Danach hatte ich mit 'Avatar - Der Herr der Elemente' eine Analyse begonnen, aber alles auf Eis gelegt, weil ... nun, andere Sachen passiert sind. Jetzt bin ich seit zwei Wochen wieder dabei. Mittlerweile sind mehr als hundert narrative Figuren in meinen Zettelkasten gewandert, ergänzt von weiteren Figuren aus Alan Dean Foster-Büchern, Harry Potter, Georges Simenon und - auch das hatte ich lange geplant, aber nie wirklich in Angriff genommen - Haruki Murakami.
Narrative Figuren sind äußerst fragmentarische Zusammenfassungen, hinreichend abstrahiert, so dass sie rasch in andere Geschichten einbauen kann, wenn man die abstrakten Stellen anders besetzt. Das habe ich auch teilweise gemacht: geplottet, wie man sagen würde. Allerdings war ich recht faul, was das Plotten angeht. Den zahlreichen Figuren stehen nur zehn halb ausgearbeitete Episoden gegenüber, bei denen acht noch nicht mal einem bestimmten Genre angehören.
Narrative Figuren sind deshalb 'schwierig', weil man sie zunächst recht willkürlich aus den Texten oder Filmen herausgreift. Man braucht dafür eine gewisse Gelassenheit und eine gelassene Gewissheit, dass man mit ihnen gut arbeiten kann. Tatsächlich besteht ihr praktischer Wert für mich, dass sie die Phantasie anregen und rasch neue Kombinationen zulassen, gerade weil sie abstrakt sind.

Ich notiere also - als narrative Figur -:
Schrift mit besonderer Information stehlen
  • Personen: Bruder (gegen Diebstahl), Schwester (für Diebstahl), Freund (weiß nichts davon), Händler (ein Hehler)
  • Ort: Antiquitätenladen
  • Ereignis: Schwester nimmt Schrift heimlich mit
Mit dieser Figur ist wenig gesagt. Weder weiß man, um was für eine Schrift es sich handelt, noch, wo der genaue Konflikt steckt, noch, was weiter passiert. Von hier aus kann man aber alle möglichen Konstellationen durchprobieren. Man kann die Personen ersetzen oder mit Hintergrundmotiven ausstatten.
Sagen wir zum Beispiel, dass der Hehler von einem unbekannten Freund Geld bekommen hat, dass er die Schrift auslegt, damit sie von der Schwester gestohlen wird. Damit hätten wir eine andere Geschichtsabfolge, als wenn der Händler die Schrift tatsächlich zum Verkauf angeboten hätte.
Auch innerhalb der Sequenz kann man spielen: wenn die Schwester mit dem Händler feilscht, aber nicht genug Geld hat, eventuell auch noch äußert, dass sie diese unbedingt haben will, vermutet der Händler hinterher mit größerer Sicherheit, dass sie für den Diebstahl verantwortlich ist, als wenn sie nicht ihr Interesse bekundet hätte.
Beim Plotten mit narrativen Figuren geht es (zunächst) nicht um fertige Geschichten, sondern lediglich um Keime, die man durch eine Sequenz ein wenig wachsen lässt. Mehr nicht. Allerdings bilden sich schnell umfangreichere Ideen.


21.10.2009

Blogger

Hier nochmal ein Blog-Eintrag zum Internet-Aufreger des Jahres 2007. Wir erinnern uns: Bernd Graff schrieb, das Internet verkomme zu einem Debattierclub von Anonymen, Ahnungslosen und Denunzianten. In Wahrheit sehe ich eher einen gewissen Qualitätsdruck, einen Qualitätswettbewerb zwischen den Bloggern, der zu regelmäßig guten Artikeln führt oder gute Artikel verbreitet.
Nein, ich mag mich nicht den sogenannten profilierten Journalisten anschließen. Gut, es gibt auch viel Unsinn im Internet. Aber erstens werden Blogs die üblichen Nachrichtensendungen und die üblichen Zeitungen nicht ersetzen, zweitens tragen gerade die Blogs, wie mir scheint, zu einem steigenden politischen Bewusstsein bei, der sich nicht auf vorgefertigte und erlaubte Fragen bei Pressekonferenzen erstreckt. Vor allem gibt es doch zahlreiche Blogger, die selbst auch Journalisten sind und hier die offiziellen Richtlinien ihrer Stammblätter nicht befolgen müssen.
Blogger müssen natürlich kritisiert werden. Auf der anderen Seite üben Blogger eben auch viel gerechtfertigte Medienkritik.


13.10.2009

You say it best,

lieber Guido, so möchte ich dir heute mit Boyzone in dein Poesiealbum schreiben, when you say nothing at all.
Oder, um dich nicht ganz im Regen stehen zu lassen: Tu le dit mieux, quand tu ne dit que la silence. Herzliche Grüße aus den Innenland des Auslands des Innenlandes.


Sieben Dinge, die ihr vermutlich noch nicht über mich wisst:

Mein lieber Phantomscherz spielt das Stöckchen-Spiel und guckt mich dabei aus. Was das Stöckchen-Spiel ist? Da schreiben Blogger über etwas und schauen sich andere Blogger aus, die dann über dieselbe Sache schreiben und sich wieder weitere Blogger ausschauen. Ähnlich wie diese berüchtigten Kettenbriefe, bloß ganz thematisch.
Phantomscherz jedenfalls hat mich ausgeguckt, und nachdem er mich dabei dermaßen gebauchpinselt hat, dass ich dachte, ich hätte eine tödliche Gastritis, kommt hier also mein Stöckchen:

7 Dinge, die ihr von mir noch nicht wisst:
1) der Höhepunkt meines Hobby-Philosophentums: Jacques Derrida lacht über mich;
2) in meinem Flur steht ein Sack mit Kaninchenfutter;
3) zwei der drei Paketboten, die bei mir regelmäßig Pakete für Nachbarn abgeben, sind schwul und scheinen mich ganz dolle zu mögen: ich lasse sie, obwohl ich tolerant bin, ihr Päckchen alleine tragen;
4) ich habe mich mal entsetzlich in Anwesenheit eines Herrn Bom(m)sknecht blamiert;
5) ich war mal mit meiner Ex-Freundin in Bielefeld und habe versucht, Herrn Luhmann beim Spazierengehen zuzuschauen;
6) manchmal vermisse ich den Geruch vom Eau de Javelle und die krankhafte Rötung, die diese auf den Händen und Armen der Pariser Putzfrauen verursacht;
7) ich habe ein heimliches Faible für Guido Westerwelle: sollte ich mir mal einen Lampenschirm im Retro-Look kaufen, würde ich ein kleines Lavendel-Säckchen mit seinem Konterfei daran hängen.

Ich gebe dieses Stöckchen weiter an Alice Gabathuler, Henrike Heiland, DanielSubreal, Silke Maschinger, Thomas "Bluomo" Roeder.


12.10.2009

Substrafrecht und Parapathologie

Das Gutachten zeigt, wie das Subjekt darin tatsächlich in der Form des Begehrens nach dem Verbrechen präsent ist. Daher sagt der Gutachter in seinen Ausführungen, wie ich sie Ihnen vorhin vorgelesen habe, in bezug auf die Person, die schließlich zum Tode verurteilt wurde: »Er wollte alle Vergnügen kennenlernen, alles sehr schnell genießen, starke Empfindungen verspüren. Dieses Ziel hatte er sich vorgenommen. Nur vor der Droge schreckte er zurück, sagt er, von welcher er abhängig zu werden fürchtete, und vor der Homosexualität, nicht aus Prinzip, sondern aus Unlust. Von seinen Absichten und Launen ließ er sich nicht abhalten. Er konnte es nicht leiden, dass man sich seinem Willen widersetzte. Gegenüber seinen Eltern arbeitete er mit affektiver Erpressung; gegenüber Fremden und dem Milieu setzte er Drohungen und Gewalttätigkeiten ein.« Anders gesagt, die Analyse des andauernden Begehrens, ein Verbrechen zu begehen, ermöglicht dasjenige zu fixieren, was man die radikale Position der Illegalität in der Logik oder in der Bewegung des Begehrens nennen könnte. Die Zugehörigkeit des Begehrens des Subjekts zur Übertretung des Gesetzes: sein Begehren ist grundsätzlich schlecht. Aber dieses Begehren des Verbrechens - und das begegnet einem regelmäßig bei diesen Erfahrungen [richtiger: Gutachten] - hat immer mit einer Kluft, einem Riss, einer Schwäche, einer Unfähigkeit des Subjekts zu tun. Deshalb stoßen Sie regelmäßig auf Begriffe wie »Nichtintelligenz«, »Misserfolg«, »Unterlegenheitsgefühl«, »Armut«, »Hässlichkeit«, »Unreife«, »Entwicklungsfehler«, »Infantilismus«, »Primitivität des Verhaltens«, »Instabilität« usw. In der Tat ist diese substrafrechtliche, parapathologische Serie, aus der sich zugleich die Illegalität des Begehrens und die Ohnmacht des Subjekts ablesen lassen, keineswegs dazu da, die Frage der Verantwortung zu beantworten; sie ist im Gegenteil dazu da, nicht darauf zu antworten und den psychiatrischen Diskurs daran zu hindern, diese Frage zu stellen, die dennoch implizit im Artikel 64 enthalten ist. Auf der Grundlage dieser Serialisierung des Verbrechens mit dem Substrafrechtlichen und dem Parapathologischen, auf der Grundlage dieser Inbeziehungssetzung, wird man um den Urheber des Verbrechens herum einen Bereich juridischer Unentscheidbarkeit anlegen. Man wird aus seinen Abweichungen, seinen Undurchschaubarkeiten, seinen Misserfolgen, seinen unermüdlichen und unendlichen Wünschen eine Serie von Elementen bilden, von denen aus sich die Frage der Verantwortung gar nicht stellt oder nicht mehr stellen lässt, da in den Begriffen dieser Beschreibungen das Subjekt entweder für alles oder nichts verantwortlich ist. Es wird zu einer rechtlich nicht fassbaren Persönlichkeit, deren sich folglich die Justiz, nach Maßgabe ihrer Gesetze und Texte, zu entledigen gezwungen ist. Das Subjekt, welches die Justizbeamten und Geschworenen vor sich haben, ist kein Rechtssubjekt mehr, sondern ein Objekt: das Objekt einer Technologie und eines Wissens der Wiedergutmachung, der Wiederanpassung, der Wiedereingliederung und der Züchtigung. Das Gutachten hat, kurz gesagt, die Funktion, den Urheber des Verbrechens, ob verantwortlich oder nicht, mit einem delinquenten Subjekt zu doppeln, welches das Objekt einer spezifischen Technologie sein wird.
Foucault, Michel: Die Anormalen, S. 39f.
Dieses Zitat korrespondiert mit der doppelten Referenz in der Systemtheorie. Systeme konstituieren ihre Elemente über die Doppelung in Fremdreferenz und Selbstreferenz. Selbstreferentiell gesehen müssen Systeme intern anschlussfähig bleiben, d.h. ein System reproduziert seine Elemente so, dass weitere Elemente folgen können. Dies ist im Prinzip die Grundlage der Autopoiesis und der Geschlossenheit selbstreferentieller Systeme.
Zugleich aber wird in den Elementen ein Stück Umwelt ausgeflaggt und plausibilisiert. Nie ist ein Element rein selbstreferentiell. Dieses Stück Umwelt hat nichts mit Wahrheit zu tun. Es besitzt eine mehr oder weniger große Plausibilität.
Dieses Ausflaggen der Umwelt geschieht auch in Institutionen, auch mit Hilfe von Gutachten und Akten. Jedoch leitet ein System dabei eben nicht die Wahrheit, sondern nur die Plausibilität, und auch hier kann das System nur deshalb weitermachen, weil es vorher und hinterher die Elemente unter die Bedingung eigener Operationen, eigener Selbstreferenz stellt.
Der hier zitierte Abschnitt aus der Foucault-Vorlesung zeigt recht deutlich, dass es eine 'Rekonstruktion' der Selbst-/Fremdreferenz beim 'Verbrecher' gibt: das Begehren zielt auf die Umwelt, schafft sich Umwelterwartungen; der Riss, die parapathologische Serie, die Ohnmacht des Subjekts zielt auf die Eigendynamik, die internen, unfassbaren Störungen.
Man kann dies ebenso kurzschließen mit dem heute Nacht von mir zitierten Spiegel-Artikel: der Amokläufer bekommt eine Art Double an die Seite gestellt, die die Unfassbarkeit (die, wie ich anderswo angemerkt habe, eine Metapher des Amokläufer-Diskurses ist) in das Subjekt einlagert, und zwar als pathologisches Phänomen. Ebenso kann man hier das Überschießende und das Beschränkte, das Bedrohliche und das Fragmentierte in Kombination finden. Amokläufer übertreten, sind zugleich aber zerrissen, zerstückelt, 'irgendwie' nicht ganz, oder, wie der Spiegel-Artikel schreibt: "Etwas hat in den Köpfen der Schul-Amokläufer nicht gestimmt."
Man müsste hier, an dieser Stelle, eine Analyse des Autismus in der Diskussion anschließen, die dem autistischen Begehren und der autistischen Beschränktheit des Diskurses etwas entgegensetzt (vgl. hier).
Das Problem bleibt nämlich ein allgemeines, eines, das sowohl bei der Entstehung von Gewalt als auch bei der Prävention von Gewalt eine wichtige Rolle spielt: die strukturelle Kopplung, bzw. ihr Aushandeln in der Narration (vgl. hier). Der Diskurs selbst verknappt durch die Pathologisierung der Gewalttäter die Sichtweise auf eine Identifikation, bzw. ein Bündel von Identifikationen, und behält darüber gerade nicht die systeminternen Leistungen im Blick.
Umso wichtiger ist es, dass sich hier problembezogene Analysen einhängen. Denn wie Luhmann schreibt (Soziale Systeme, S. 89) erscheint mit der Thematisierung eines Systems mit Hilfe funktionaler Analysen dessen (Selbst-)Simplifikation des Objektsystems; oder - konkret hier - die Thematisierung von Massenmedien, Gutachten, etc. verdeutlicht die Entstehung von Schul-Amokläufern als handhabbare Doppelgänger.

Ganz so einfach ...

..., schreibt der Spiegel - Peter Langman zitierend - könne man die Sache nicht sehen. Welche Sache? Die mit den Amokläufern.
Warum aber, wenn diese jugendlichen Amokläufer ein so komplexes Phänomen sind, hat man sich auf so simplifizierende Erklärungen wie Mobbing versteift?
Die Erklärung Langmans (und des Spiegels) ist dagegen wahnsinnig hochkomplex. Obwohl ich ja sonst in ganz seichten Gewässern fische, möchte ich diesmal meinen Lesern etwas Intellektuelles nicht vorenthalten:
Der folgende Punkt scheint auf der Hand zu liegen, aber man muss ihn aussprechen: Schul-Amokläufer sind gestörte Individuen. [...] Etwas hat in den Köpfen der Schul-Amokläufer nicht gestimmt. [...] Nach meiner Forschung gibt es drei unterschiedliche Gruppen von Schul-Amokläufern: psychopathische, psychotische und traumatisierte.
Noch Fragen?


09.10.2009

Sozialkürzungen in Berlin

Aus aktuellem Anlass veröffentliche ich folgenden Aufruf:
Liebe Betroffene von den Sozialkürzungen in Berlin, liebe AktivistInnen!
Seit Wochen leisten wir gemeinsam mit großer Solidarität untereinander Widerstand gegen geplante Kürzungen, unerwünschte Bebauungspläne, Schließungen und Stellenstreichung. Am 15. Oktober wollen wir berlinweit gemeinsam auf die Straße gehen und deutlich machen, dass wir die Kürzungen und Vorgaben der Politiker, die unsere Lebensqualität in Berlin weiter einschränken sollen, nicht hinnehmen.
Was ist genau am 15.10 geplant und wie soll es danach weitergehen? Um diese Fragen zu diskutieren, trifft sich das Bündnis "zur Rettung der Kinder- und Jugendarbeit" bzw. Widerstand Mitte am Samstag, den 10 Oktober im Linkstreff in der Malplaquetstraße 12, 15:00 Uhr
Gemeinsam mit euch wollen wir überlegen, was wir der Berliner Kürzungs- und Kommunalpolitik entgegensetzen können. Bitte leitet die Mail an weitere Betroffene weiter und kommt zahlreich!
Mit solidarischen Grüßen,
Anne Engelhardt
Bündnis zur Rettung der Kinder- und Jugendarbeit in Mitte, BV V (Verordnete der LINKE in Mitte)
Leider laufen offensichtlich alle Bemühungen, mal die offiziellen wie die PISA-Studie, mal die wissenschaftlichen wie die von Wilhelm Heitmeyer oder Frank Robertz, und leider auch die politischen, wie die von Grünen und Linken, die Integration in Deutschland wenigstens auf einem bisher erreichten Maß zu halten, ins Leere. Berlin kürzt die Sozialausgaben im Jugendbereich.
Muss das sein?
Es ist zwar nicht der Hauptgrund, um die Hilfen im Jugendbereich deutlich zu verstärken, aber haben wir nicht gerade dieses Jahr eine für Deutschland geradezu erschreckend hohe Zahl an jugendlichen Einzeltätern, die vor Tötungsdelikten nicht zurückschrecken?
Kopfschüttelnd und mit der Bitte, gegen diese geradezu kranken Maßnahmen mobil zu machen,
(und diesmal ganz persönlich)
Euer Frederik


07.10.2009

Zeichensetzung und Pornografie


Soeben schickt mir mein jüngerer Bruder (kleiner darf ich nicht mehr sagen) folgendes lehrreiche Material zu, das die Bedeutung der Zeichensetzung noch einmal unterstreicht.


06.10.2009

Der Beruf des Wissenschaftlers

Zu lernen, ein Wissenschaftler zu sein, ist nicht dasselbe, wie eine Wissenschaft zu lernen: Es bedeutet vielmehr, sich eine Kultur anzueignen, mit all den damit verbundenen, »nicht-rationalen« Sinnbildungen und Bedeutungskonstruktionen, die zu einer kulturellen Praxis gehören.
Bruner, Jerome S.: Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktion, S. 51f. in Straub, Jürgen: Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein, Frankfurt am Main 1998
Was implizit in dieser Aussage steckt, ist, dass Wissenschaft ohne ein "Außen" nicht auskommt. Dabei steckt dieses "Außen" nicht nur in dem Unbegriffenen, sondern vor allem in dem Begreifenden (dem Wissenschaftler) selbst.



05.10.2009

Peter Petersen

Nun also soll es aus sein mit Peter Petersen, dem Autor des Jenaer Plans. Er soll überzeugter Nazi-Ideologe gewesen sein.
Darum werde ich mich auch nicht streiten. Nur empfehle ich hier, wie auch gestern im Fragment zur Gefühllosigkeit, die Geschwindigkeit herauszunehmen und sich die Reaktionen anzuschauen. Es gibt bestimmte Themen, und die national-sozialistische Ideologie gehört dazu, die in der Öffentlichkeit kaum etwas zulassen als eine moralische Reaktion, die eine Anti-Nazi-Haltung zur Norm macht. Normen sind Differenzen, deren eine Seite sanktionierbar ist: in diesem Fall wird das Nazi-Sein sanktioniert.
Man muss sich keineswegs darüber streiten, ob man mit dieser Norm richtig liege. Der Hebel muss ein ganzes Stück weit vorher angesetzt werden.

Gelebte Innerlichkeit

Erstens geht es bei einem Menschen wie Petersen nicht um Innerlichkeiten. Petersen wird hier so dargestellt, als verstünde man, was in ihm vor sich ginge. Und wiederholt damit im Prinzip in ähnlicher Weise etwas, das Petersen über die Juden schrieb: "Weil es dem Juden unmöglich wird, unsre Art innerlich mitzuleben, so wirkt er in allem, das er angreift, für uns zersetzend, verflachend, ja vergiftend und tritt alles in den Dienst seines Machtstrebens." (zitiert nach den online-Artikel)
So, wie es dem Juden abgesprochen wird, die deutsche Art 'innerlich' mitzuerleben, so wird in der Diskussion durchaus so getan, als könne man Petersen innerlich erleben. Gerade Petersen scheint ja auf der anderen Seite mitzumeinen, Deutsche könnten ihre eigene Art gegenseitig innerlich miterleben. Das Problem liegt zunächst nicht darin, dass den Juden etwas abgesprochen wird, das sie eigentlich haben, sondern schon in dieser Differenz von miterleben-können/nicht-miterleben-können, die hier so selbstverständlich gehandhabt wird.

Empathie

Empathie ist, sobald man damit ein leichtfertiges, unreflektiertes 'Nachvollziehen' dessen meint, was in fremder Menschen Köpfe passiert, eine Zumutung. Eine Zumutung, die übrigens notwendig ist, denn die ganze Kommunikation besteht darin, sich auf solche Zumutungen verlassen zu können (folgt man Luhmann). Aber Zumutungen sind keine Wahrheiten, sondern Probeschüsse. Und genau damit hat Empathie umzugehen. Das Nachvollziehen von Innerlichkeit ist eine Kompaktzumutung, deren wissenschaftlicher Wert überaus zweifelhaft ist.
Es steht also zur Debatte, ob Petersen strammer Nazi-Ideologe war. Nun hat sich Petersen in seinem Jenaer Plan gerade nicht durch wissenschaftliche Glanzleistungen hervorgetan, sondern sowieso schon durch ideologisches Gedankengut. Pädagogik muss, wenn sie sich auf langfristige Handlungsprogramme einlassen will, Werte und Normen etablieren. Wissenschaft stört dabei nur, ja, wissenschaftliche Pädagogik ist gerade dazu da, vor der praktischen Pädagogik zu warnen und diese zu verunglimpfen. Ideologien sind in der Moral das für Werte und Normen, was Theorien in der Wissenschaft für Begriffe sind. Ideologien bringen Werte und Normen zueinander in Stellung, wie Theorien Begriffe zueinander in Stellung bringen. Und während wissenschaftliche Begriffe Tatsachen tendenziell problematisieren, schließen Werte und Normen solche Problematisierungen generell aus und bilden stabile Erwartungen aus. Um handeln zu können, brauchen wir Erwartungssicherheiten, also Werte und Normen. Wir können also nicht einfach Ideologien ausbremsen, wollten wir nicht in Handlungsunfähigkeit erstarren. Selbst die Wissenschaft braucht Normen und Werte, etwa die Genauigkeit (=Wissenschaftlichkeit) oder den Neuheitswert.
Zugegeben sind Petersens Aussagen unschön. Aber die Frage ist doch - zweitens -, ob seine antisemitischen und rassischen Äußerungen einen Bruch zum Jenaer Plan darstellen oder nicht unterhalb der Inhalte strukturelle Bedingungen perpetuieren, die man als Ideologien bezeichnen muss; die Frage ist doch, ob die explizite Kritik an Petersen (nicht die von Ortmeyer, sondern derjenigen, die sich an Ortmeyer dranhängen) nicht immer noch implizit eine Komplizenschaft mit der Ideologie ist (und was daraus konkret zu folgern wäre); die Frage ist schließlich, ob die Namensänderung von Schulen nicht eine rein kosmetische Operation ist, sinnvoll, aber nur ein kleinster Teil dessen, was hier sinnvoll wäre.

It-Boys

Wenn man die Macht ausdrücklich als abstoßend, gemein, ubuesk oder einfach lächerlich vorführt, geht es, wie ich denke, nicht darum, deren Wirkungen zu begrenzen und durch Magie denjenigen zu entthronen, dem man die Krone verleiht. Mir scheint es im Gegenteil darum zu gehen, eindeutig die Unumgänglichkeit und Unvermeidbarkeit der Macht vorzuführen, die auch dann noch in aller Strenge und in einer äußerst zugespitzten gewaltsamen Rationalität funktioniert, selbst wenn sie in den Händen von jemandem liegt, der tatsächlich disqualifiziert wird.
Foucault, Michel: Die Anormalen, S. 29
Was den seltsamen Widerspruch erklären könnte, mit dem manche Menschen wählen gegangen sind. Siehe dazu auch - im Umfeld - Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, S. 82ff.



Gefühlslosigkeit

Gestern ist im sog. Fall Kassandra - so berichtet die FAZ - gegen einen "vierzehn Jahre alte[n] verhaltensgestörte[n] Jugendlichen" ein Haftbefehl erlassen worden. Er habe das neunjährige Mädchen schwer misshandelt, verletzt und dann in einen Gullischacht geworfen. Der Jugendliche wirke, so die FAZ weiter und Polizei und Staatsanwaltschaft zitierend, "völlig gefühllos".

Die Gefühllosigkeit ist ein Krankheitsbild, das mal als Soziopathie, mal als Psychopathie, mal als schizoide Persönlichkeitsstörung (nicht zu verwechseln mit Schizophrenie) bezeichnet wird. Beschrieben werden die Menschen als durch Empathie nicht zugänglich, bzw. als gespalten zwischen ihren Gefühlen und ihren Kognitionen. Häufig seien die Menschen rational, würden aber bisweilen von Affekten überschwemmt, die häufig Wutaffekte seien (mit zum Teil massiver Gewalt), manchmal aber auch Trauereffekte (wobei eines der Symptome ein unmotiviertes hysterisches Weinen sei).
Diese Krankheitsbeschreibung hat einige Brisanz. Laut Izard (zit. nach Ciompi: Die affektiven Grundlagen des Denkens, S. 93) basieren Gefühle auf diskreten Emotionen, also Emotionen, die gerade nicht 'fühlbar' sind. Diese diskreten Emotionen haben dagegen eine funktionale Wirkung auf unser Denken. Sie leiten Selektionen von kognitiven Mustern, und sind nicht mit den Gefühlen zu verwechseln, die sozusagen als Sekundärgefühle aus diesen diskreten Emotionen entstehen. (Diese Stelle habe ich etwas freier paraphrasiert und zwischen den diskreten und den fühlbaren Emotionen einen Bruch gesetzt, der keineswegs bewiesen ist. Selbst Izards Annahme der diskreten Emotionen ist umstritten. Die Neurophysiologie gibt hier, auch zehn Jahre nach Ciompis Buch, keineswegs Aufklärung über diesen Sachverhalt.)
Aber gehen wir erst mal davon aus, es verhalte sich so. Die diskreten Emotionen liegen dann gleichsam unterhalb der fühlbaren Emotionen und selegieren kognitive Strukturen, d.h. weitestgehend Begriffe und Begriffsordnungen.
Wären Soziopathen nicht zu Gefühlen in der Lage, dann könnten sie - folgt man den Voraussetzungen - ihre Körperbewegungen nicht auf die Umwelt abstimmen, d.h. sie würden kein Verhalten entwickeln und schlichtweg lebensunfähig sein. Man darf also die impliziten Gründe dieses Krankheitsbildes in Zweifel ziehen, gerade weil die Wissenschaft uns noch nicht darüber aufklären kann.

Zweifellos ist die Tat, die an Kassandra begangen wurde, eine bitterst schreckliche. Zweifellos wäre es ebenso schlimm, sollte sich dieser an sich schon auffällige Junge als der Täter erweisen (wobei der andere Fall nicht unbedingt beruhigender ist).
Doch sieht man sich die Kommentare zu dem Artikel an, fühlt man sich geradezu verpflichtet, diese moralinsauren Ego Shooter auszubremsen. Ja, diese Schnellschüsse von irgendwelchen Menschen, die das Gesetz anscheinend für sich gepachtet haben, sind durchaus mit dem Geballer von Splatter-Spielen vergleichbar.

Was mich an der ganzen Geschichte sehr viel eher interessieren würde, ist, wie stark Geschichten in der Familie des Jungen gepflegt werden, wie sehr bestimmte, evtl. traumatische Ereignisse verschwiegen werden, wie offen in der Familie mit der 'Verhaltensauffälligkeit' umgegangen wird. Erfahrungsgemäß werden verhaltensauffällige Kinder eher in ein Netz von gut gemeinten Manipulationen eingespannt, angefangen bei überbehütendem Verhalten, Verschweigen, Schuldvorwürfen gegen sich und andere, 'erlernter' Hilflosigkeit, etc.
All dies sind Variablen, die im Hintergrund von Alltagserzählungen mitwirken. Erzählungen sind nicht nur Probeläufe für Verhalten, Reflexionsmöglichkeiten für Verhalten, sondern auch Basis für den Aufbau von Begriffen. Ja, man kann vermuten, dass Begriffe gleichsam 'entzeitlichte' Erzählungen sind (dies legt z.B. Jürgen Straub nahe, in: Geschichten erzählen, Geschichte bilden, S. 106, in ders. (Hrsg.): Erzählung, Identität und historisches Bewusstsein). Begriffe erfassen die Welt in kleinen Stücken, machen sie gleichsam handhabbar und distanzierbar. Wer sich distanzieren kann, kann sich entscheiden. Das sind zwar keine absoluten Entscheidungen, keine sozusagen existentiellen Wählbarkeiten, aber mit mehr Begriffen sind mehr Entscheidungen möglich (womit nicht verschwiegen werden soll, dass mehr Entscheidungen auch mehr Risiken bergen können).

Im Fall von Soziopathen (oder schizoiden Persönlichkeitsstörungen) scheint mir vor allem eine sprunghafte Selektion von Weltstrukturen zu sein, also eine Kluft zwischen Lebensbereichen, die kognitiv und emotional nicht verarbeitet werden kann. Daher kommt es, folgt man dieser Sicht, an bestimmten Stellen zu einem Kippen der Verhaltensstrukturen, von einem eher angepassten zu einem eher unangepassten Verhalten.
Und immer wieder - doch vielleicht bin ich da auch gerade zu beeindruckt von meinem eigenen Thema - erscheint hier die Erzählung auf der Bildfläche. Erzählungen sind polyreferentiell. Sie eignen sich besonders gut, Verhalten und symbolische Medien (Sprache) zu verschränken. Erzählungen sind Kommunikation. Nach Luhmann tauchen Gefühle in der Kommunikation nur als Themen auf. Was Erzählungen aber leisten können, ist, sowohl den Personen als auch der Interaktion die Verschränkung von Emotionen, Kognitionen und Volitionen (Gefühle, Gedanken, Willen) zuzumuten. (Ich bin hier etwas knapp: die Polyreferentialität von Erzählungen ist ein Kernstück meiner derzeitigen Arbeit, aber eher eine Hypothese als eine gesicherte Erkenntnis. Trotzdem glaube ich, so viel sagen zu können, dass Gewalt immer mit einem langwierigen und gravierenden Ausschluss von bestimmten Erzählungen einhergeht und dass Erzählungen explizit das Modell für Bewältigungsstrategien liefern.)
Ich arbeite mich hier nur langsam vor. Aus eigener Erfahrung ist mir eine in ihrer Kindheit wohl schwer traumatisierte Frau bekannt (gewesen), die ihre Umwelt mit einem Netz von Erzähl- und Erinnerungsverboten und künstlichen Ereignissen (sog. Lügen) überzogen hat. Auffällig an dieser Frau war auch, dass sie 1) ihre Gefühle immer in einem fordernden Ton ausgesprochen hat, bzw. diese sofort mit einer Funktion versehen hat, in der der andere etwas tun musste und 2) die Menschen in ihrer Umgebung - obwohl sonst eher friedlich oder konfliktscheu - äußerst reizbar, bzw. streitsüchtig erschienen. (In der Neurophysiologie werden die Ursachen in mnestischen Blockaden gesucht. Dort allerdings wird nicht untersucht, wie sich mnestische Blockaden in der Interaktion auswirken. Gedächtnislücken widersprechen explizit der Kontinuitätsannahme, die Menschen in der Gesellschaft zugemutet wird. Traumatisierte Menschen müssen also mehr oder weniger konfliktreich zwischen Erinnerungslücken, traumatischen Weltorganisationen und einem von außen eingeforderten Kontinuitätszwang vermitteln. Das dürfte nicht einfach sein. Zu den mnestischen Blockaden siehe Markowitsch, Hans J.: Das Gedächtnis, S. 64ff.)
Sprunghafte Wechsel in der Weltstruktur sind möglicherweise traumatisch. Traumatisierte Kinder erfahren wohl so etwas, wenn das schlimme Ereignis ihre Sinnstrukturen 'verwüstet'. Sprunghafte Wechsel sind aber auch konflikthaft. Konflikte sind zunächst Weltstrukturen, die sich nicht gut vermitteln lassen. Diese Vermittlung wird von Erzählungen massiv gestützt, jedenfalls kann man so zahlreiche Therapieprogramme mit traumatisierten Menschen und Gewaltpräventionsprogramme auf eine gleiche Perspektive hin lenken (vgl. zum Umfeld auch mein Fragment zum Nicht-Wissen).
Soziopathie müsste - vielleicht gibt es hierzu schon Literatur - auf Erzählungen hingelenkt werden.
Es wäre zu klären, ob 'erzählnahe' Familien Kinder mit höherer 'emotionaler Intelligenz' ins Leben entlassen als 'erzählferne' Familien. Es wäre zu untersuchen, ob Gewalttäter besondere Arten des Erzählens haben oder auch besondere Arten des Ausblendens von Erzählungen, bzw. Erzählaspekten. Insbesondere aber wäre zu klären, ob Erzählungen Gefühle 'einpflegen' können (wobei mir noch keineswegs klar ist, wie Gefühle in der Kommunikation geordnet sind: dort sind es ja zunächst nur Themen). - Also ein umfangreiches Programm.
Spannend ist vor allem, ob die Mikro-Selektionen bei Kommunikation und die diskreten Emotionen bei kognitiven Inhalten Kopplungstendenzen aufweisen. (Zu den Kopplungen siehe mein Fragment zum Trauma.)

Zuallererst aber wird ein genaueres Modell des Erzählens notwendig sein, eines, das sich auf die systemtheoretische Begrifflichkeit und nur auf die systemtheoretische Begrifflichkeit einlässt. Danach lassen sich Einzeluntersuchungen anschließen und die eng an Kommunikation angelehnte Diskussion wieder auf psychische Systeme (=Menschen) ausdehnen.