31.01.2022

Böhmermann und die Ratten

Und weil sich gerade wieder mal ein gewisses politisches Spektrum über Jan Böhmermann aufregt: dieser habe nämlich, so ihrer Aussage nach, Kinder mit Ratten verglichen.
Sieht man sich aber diesen Vergleich an, stellt man fest, dass es sich um eine Verhältnisgleichheit handelt, also gerade nicht darum, dass Kinder wie Ratten seien, sondern dass sie ein gleiches Verhältnis einnehmen. Gleich aber ist eben nur das Verhältnis, bzw. gleichgesetzt. Logisch gesehen ist dies eine Analogie (= Verhältnisgleichheit), ein für den Humor wichtiges rhetorisches Mittel. Von der Logik her gesehen ist die Analogie allerdings eine schwache und kritisierenswerte Form des Schlusses.
Kinder also durchseuchen derzeit die Gesellschaft mit Covid, wie einstmals die Ratten mit Pest.
Würde man diese etwas widersinnige Logik der Böhmermann-Gegner auf andere Analogien anwenden, dann wäre die Taube Kants von diesem mit dem Bewusstsein gleichgesetzt worden; und wenn sich die Beine zum Hund wie die Räder zum Auto verhalten, dann doch nicht, weil irgendjemand auf die (idiotische) Idee kommt, dass Beine genau dasselbe wie Räder seien. Ansonsten müssten gewisse Herren aus der Welt-Redaktion damit zufrieden sein, wenn man ihnen statt eines Autos einen Hund in die Tiefgarage stellt.
Aber es gehört wohl zu einem gewissen politischen Spektrum auch dazu, logische Haarspaltereien dann zu betreiben, wenn es dienlich ist, und diese komplett zu vergessen, wenn es ebenfalls dienlich ist. Dann mag man immerhin das eine noch logisch nennen, auch wenn es haarspalterisch ist, doch die Idee der Logik, die subjektiven Interessen aus der Argumentation herauszuhalten, wird damit komplett ad absurdum geführt.
Mindestens wird aber diese Art von „Kulturkampf“ nie aufhören, ist doch jedes dichterische Werk, sei es tragisch, sei es komödiantisch, eine subjektive Betrachtung; und dort, wo dies noch in die Politik hineinspielt, bei der subjektive Interessen objektiv vermittelt werden müssen, stößt dies auf besonders umständliche und zum Teil auch schwer zu erfassende Bedingungen. Satire ist darin ein Freiraum, der sich in gewisser Weise von der Komplexität einer umsichtigen politischen Diskussion befreien darf; tragisch dagegen ist, wenn dieser Freiraum auf so unsinnige Weise in die politische Diskussionskultur hineingetragen wird. Dass sich eine Zeitung wie die Welt, vornehmlich auch ein solch politischer Stoffel wie Rainer Meyer (genannt: Don Alphonso), auch die ganzen, sonst nie um eine Herabwürdigung verlegenen AfD-Politiker*innen in gleichem Maße empört geben, zeigt vor allem, wer hier um echte Argumente verlegen ist und mit Gegenpositionen nicht umgehen kann.

30.01.2022

Ideologie

Ideologie ist zu einem abwertenden Begriff geworden, meist auch nur noch zu einer ausschließenden Floskel, die man dem Gegner vorwirft. Ursprünglich bedeutet Ideologie die Lehre von den Ideen. Ideen sind neben den Begriffen und den Urteilen Bestandteile des Bewusstseins. Begriffe werden durch Abstraktion vom Sinnlichen gewonnen. Sie haben immer einen sinnlichen Gehalt. Urteile verknüpfen das Allgemeine mit dem Besonderen, bzw. den Begriff mit der Anschauung. Ideen dagegen können nicht durch Abstraktion gewonnen werden; sie verwirklichen sich in Beispielen.

Vernunft

Laut Kant ist es die Vernunft, die die Ideen erschafft. Die Vernunft ist noch nichts besonderes, das einzelne Menschen mehr oder weniger auszeichnet (so jedenfalls im alten Gebrauch, nicht, wie heute die Vernunft willkürlich einem Menschen zu- oder abgesprochen wird). Sie ist jedem Menschen eigen; man kann aber die Vernunft gut oder schlecht, d. i. die Ideen gut oder schlecht gebrauchen.

Ausdruck

Die Idee lasse sich nur durch Beispiele ausdrücken; sie zeigt sich, wie sich ein Naturgesetz zeigt. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil ihn die Schwerkraft dazu veranlasst, sondern im Fallen des Apfels drückt sich die Schwerkraft aus. Und so verursacht eine Idee nicht ein bestimmtes Phänomen oder eine Situation, sondern diese drückt sich darin aus: Sie artikuliert und verwirklicht sich darin. Weil sie sich darin verwirklicht, weil sie immer wieder neu in anderen Situationen verwirklicht werden kann, ist die Idee unendlich. Weder weil sie angeboren, noch weil sie göttlich ist, ist eine Idee unendlich; hier widerspricht Kant älteren Ideenlehre.

Die konsequente Denkungsart

Die Vernunft, und somit die Ideen gut zu gebrauchen, weist Kant der dritten Denkungsart zu, die er konsequente Denkungsart nennt. Sie beruht auf den beiden anderen Denkungsarten, der vorurteilsfreien Denkungsart, d. i. die Denkungsart des Verstandes und der Begriffe, der erweiterten Denkungsart, d. i. die Denkungsart der Urteilskraft und der Urteile; und diese
»kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung desselben, erreicht werden.« (KU A 158)
Konsequent bedeutet bei Kant nun gründlich und fest, sich nämlich nicht mit dem ersten Augenschein begnügen zu lassen, und auch nicht mit dem ersten Beispiel. Gründlichkeit meint, sich jedes Beispiel (exemplum) aufs genaueste anzuschauen; da sich die Idee nämlich nur im Material ausdrückt, nicht aber selbst als materielles Element darin enthalten ist, bedarf es der Auslegung, d. i. der Erläuterung, warum dieses oder jenes Beispiel eine Idee gut oder schlecht oder auf halbem Wege ausdrückt. Diese Darstellung (Hypotypose) ist, wenn sie sich auf Ideen bezieht, analogisch, also durch eine Verhältnisgleichheit, nicht also dem Inhalte nach.

Das Exemplum

Wenn Kant den Verstand im Verhältnis zu Sinnlichkeit mit einer Taube vergleicht, die im luftleeren Raum nicht fliegen könne, da ihr der Widerstand unter den Flügeln fehle, so will er nicht damit sagen, dass der Verstand wie eine Taube sei, sondern dass die Sinnlichkeit auf der einen Seite im Verstande widersteht, ihm auf der anderen Seite aber erst zum Aufschwung verhelfe.
So plastisch dieses Beispiel auch ist, so irreführend ist es: Ideen verwirklichen sich nicht nur ausnahmsweise, sondern immer; sie sind ein integraler Bestandteil des Denkens – und insofern ist die Ideologie gar nicht politisch gemeint, sondern schlichtweg ein Teil der Selbstaufklärung und des guten Gebrauches seines Denkens. Die Vernunft allerdings erzeugt und reproduziert die Ideen spontan; Spontanität: d. i. bei Kant die Aktivität des Bewusstseins, die immer schon vor dem Bewusstwerden geschieht, also nur im Nachhinein bewusst gefasst werden kann; insofern bleibt vieles im Bewusstsein vorbewusst, nicht reflektiert. So ist es auch mit den Ideen. Sich über sich selbst aufzuklären heißt damit auch, sich seiner Ideen und ihres Gebrauches bewusst zu werden.

Tugenden

Mit Einschränkung ersetzen hier die Ideen die antike Tugendlehre: war diese noch stärker von äußeren Handlungen geprägt, d. h. zum Teil ritualisiert, wird bei Kant jede Handlung den Ideen gemäß prüfbar und der Prüfung verpflichtend. Dies ist aber zunächst eine Prüfung des eigenen Denkens, also eine Aufgabe der Selbstdisziplin. Die Tugend zeigt sich damit als gründlich durchdacht und in ihrer Ausführung fest.
Dies ist dann auch der Umgang mit Ideen: Gründlichkeit und Festigkeit.

Gründlichkeit

Gründlichkeit meint, nicht nur eine, sondern viele Erscheinungen und Situationen nach einer Idee zu durchdenken und ihre Verwirklichung wertzuschätzen. Festigkeit dagegen ist weniger eine Hartnäckigkeit, aus der leicht eine Hartherzigkeit werden mag, sondern sich weder durch Widerstände noch durch die eigene Bequemlichkeit von der Interpretation der Phänomene abbringen lassen; man mag das so verstehen, dass dies zunächst ein schonungsloser Blick auf sich selbst und den eigenen Gebrauch der Ideen sei.
Nun gibt es zwei Formen der Gründlichkeit. Da jegliche Situation, jegliches Verhalten eine Idee nur ausdrückt, dies aber nie in materieller Form, lässt sich auch jede Situation oder Verhalten nach verschiedenen Ideen durchmessen. So ist die eine Form der Gründlichkeit, eine Idee auf vieles und Verschiedenes anzuwenden; die andere aber, viele Ideen auf das eine und gleiche als Maßstab zu legen. Dass dies nicht ungewöhnlich ist, sondern etwas alltägliches, sieht man überall dort, wo Menschen durch den menschlichen Verkehr in Konflikt miteinander geraten. Doch der Konflikt ist schon etwas Sekundäres; die eigentliche Anwendung der Ideen auf ein Phänomen mag auseinanderstrebend oder zusammenführend verlaufen, ist aber von einem Vorrang oder einem Machtinteresse befreit. So mag man die Waldstein-Sonate Beethovens nach ihrer Schönheit oder nach ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung beurteilen; die Ergebnisse müssen sich nicht notwendig ausschließen, ja noch nicht einmal für einander eine große Bedeutung haben – was man an all den Musikstücken sieht, die Menschen zwar als schön empfinden, die für die Musikgeschichte aber eine unbedeutende Rolle spielen.
Trotzdem gebührt die Betrachtung mehrerer Ideen am gleichen Sachverhalt insofern ein Vorrang, als sich hier nicht einfach nur das Maß der Verwirklichung diskutieren lässt, sondern die Ideen einander beeinflussen, kooperieren oder im Widerstreit stehen. Auch wo der Mensch sich nur auf eine einzelne Idee beruft, setzt er diese als absolut, d. i. eine fixe Idee.

Das Trügerische der Ideen

Insofern bleibt die Reflexion auf die Ideen auf doppelte Weise schwierig; sie ist, ihren Verwirklichungen nach, unendlich, diesem Zusammenhang nach, also ihrer empirischen Erscheinung nach, trügerisch, scheinhaft. Denn die Aussagen der Empirie führen immer nur zu Begriffen, die durch Abstraktion gewonnen sind, nicht zu Ideen, die durch Analogie erschlossen werden können. Hier spielt auch mit hinein, dass die Analogie ein schwacher und missbräuchlicher Schluss ist, also gerade nicht der Strenge eines rationalen Denkens zuträglich und deshalb der besonders strengen Beobachtung nötig.

Der schlechte Gebrauch der Ideen

Den schlechten Gebrauch der Ideen kann man wie folgt einteilen: durch unklare, monotone oder falsche Ideen. Die unklaren sind jene, die man nicht gründlich diskutiert, die monotonen jene, die man nicht in ein Wechselspiel mit anderen Ideen gesetzt hat. Von den falschen Ideen gibt es zweierlei; die ersten beruhen auf der empirischen Verwechslung. Ein schönes Bild drückt zwar die Schönheit aus, ist aber nicht die Idee selbst, so wie ein Verhalten aus Nächstenliebe noch nicht die Idee der Nächstenliebe selbst ist. Diese Verwechslung ist allerdings von minderem Schaden, solange sie sich in der Wirklichkeit als solche nützlich erweist.

Die theologische Verwechslung

Die andere beruht auf der theologischen Verwechslung; so sind Weltbilder, seien diese christlich, muslimisch oder säkularisiert, keineswegs Ideen, sondern Ideenspender. Wie sich das Christentum durchaus in sehr unterschiedlichen Ideen zeigt, zum Teil auch widersprüchlichen, so kann generell den Weltbildern keine Einheitlichkeit zugesprochen werden, da diese in der Benennung nur zusammenfassend, nicht aber definierend sind. Dies gilt für fast alle Ismen, sei es die Nationalismen, der Feminismus oder der Kommunismus. Wer also Gebrauch von diesen Weltbildern macht, hat wenig gesagt, wenn er nicht die Ideen benennt, die er sich daraus entnimmt.

Innere Freiheit

Freiheit nimmt unter den Ideen eine besondere Stellung ein. Zwar muss man bei Kant zwischen einer äußeren und einer inneren Freiheit unterscheiden, und gemeint ist hier nur die innere, d. i. intellektuale Freiheit, doch ist diese die Voraussetzung für die äußere, d. i. gesellige.
Freiheit sei a priori und die einzige Idee, die a priori sei. Um etwas konsequent zu durchdenken, muss ich dies wollen. Um etwas zu wollen, muss ich wählen können; dazu aber brauche ich die Freiheit (die innere, wohl gemerkt). Die Freiheit ist damit die Bedingung der Ideen und damit die einzige Idee, die nicht in Konkurrenz oder Kooperation mit anderen Ideen besteht, sondern die Bedingung ihrer freien, d. i. gewählten Anwendung.
Aber die Freiheit kann nur dann geklärt werden, wenn 1.) Ideen konsequent, d. i. gründlich und hartnäckig bedacht werden, und 2.) die Ideen sich aneinander gegenseitig beschränken und einschärfen. Nimmt man das erstere nicht ernst, so nutzt man seinen Willen nur auf schwache Weise, d. h. man bricht ab, bevor man die fiktionale Totalität der Idee erreicht hat, und bleibt inkonsequent; und im zweiten setzt man die eine Idee, die man gewählt hat, an die Stelle der Freiheit und wird damit unfrei.
Die beiden Tendenzen sind widerstrebig: einmal die fiktive Ganzheit der Idee, die nie erreicht und nie zu Ende gedacht werden kann, und einmal die „Absolutheit“ der Idee, die nur existieren kann, wenn sie sich von anderen konsequenten Denkweisen, also anderen Ideen absetzt.

Kritik

Kritik ist die Verneinung am Leitfaden einer Idee; hier zuvorgegangen sein muss die gute Einübung, die gründliche Diskussion. Da immer eine Mehrzahl an Ideen auf ein Phänomen anwendbar sind, ist auch die Kritik mehrfach; so wie sich die Ideen in ihrem positiven Gebrauch nicht ausschließen, so schließen Kritiken einander nicht aus, gleichwohl sie sich gegenseitig erhellen können. Verneinung bedeutet, dass ein Sachverhalt eine Idee schlecht oder gar nicht verwirklicht; sie ist von der empirische Verneinung abzugrenzen, die besagt, dass ein Sachverhalt nicht vorliegt oder zwei Sachverhalte zueinander anders stehen, als bisher angenommen. Von Interesse sind solche ideellen Verneinungen, also Kritiken, allerdings erst, wenn sie zugleich eine Klärung ermöglichen, d. i. sie vergleichend, begründet, gründlich und umsichtig sind.

Schluss

Diese Zusammenstellung ist als Übersicht gedacht. Sie ist dogmatisch formuliert, um sie knapp zu halten; aber auch, weil ein wesentlicher Teil ihrer Begründung auf eine umfassendere Darstellung Kants referieren müsste, insbesondere auf die sehr hintersinnige Verbindung der Begriffe und der Ideen (die Kant auch Verstandes- und Vernunftbegriffe nennt, weil die empirischen Begriffe dem Verstand, die ideellen Begriffe oder Ideen der Vernunft zugehören).

02.01.2022

Selbstdenken

»Jeder trägt einen Prüfstein bei sich, den er nur anzuwenden braucht, um Wahrheit und Schein zu sondern.«
(J. Locke, Über den richtigen Gebrauch des Verstandes, Leipzig 1920, S. 8)
»Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst.«
(Kleist, Heinrich von: Der zerbrochene Krug, Z. 5-6)

Selbstdenken bei Kant

Jüngst ist der Begriff des ›Selbstdenkens‹ wo nicht zu einem Miss-, so doch zu einem sehr einfältigen Gebrauche gekommen. Blind aber, wer per se anderen Menschen überhaupt Gedanken abspricht. Denn mit dem Selbstdenken ist nicht das Denken-können gemeint, sondern letzten Endes das Verhältnis der Gedanken zu sich selbst, zu denen anderer Menschen, schließlich der Menschheit insgesamt.
Dabei ist der Begriff nicht unschuldig, denn im ersten Moment möchte man glauben, dass es neben dem Selbstdenken auch ein Nicht-Selbstdenken gäbe. Immanuel Kant jedoch hat dazu eine ganz andere Erläuterung. Es lohnt sich, diese genauer anzuschauen. In einem Einschub in seiner Kritik der Urteilskraft, genauer: § 40, legt Kant zunächst dar, was er unter dem gemeinen, bzw. gesunden Menschenverstand versteht, um dann auf drei Maximen zu verweisen, die diesen gesunden Menschenverstand ausmachen. Wohl gemerkt handelt es sich hier um Maximen, also »praktischen Grundsätzen«; diese Feinheit lässt aufhorchen: das Selbstdenken ist demnach weder eine allgemeingültige Beschreibung, noch eine Art Begabung, die dem einen mehr, dem anderen weniger zukommt, sondern etwas, um das man sich aktiv kümmern muss.
Selbstdenken ist also nur ein Emblem; wichtiger ist die Erläuterung, die Kant dann dazu gibt.
Kant teilt zunächst den ›gemeine Menschenverstand‹ auf:
»1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.« (KU 226)

Die Maxime des Selbstdenkens

Die erste Maxime, die uns hier insbesondere interessiert, führt Kant auch unter dem Begriff der vorurteilfreien Denkungsart auf. Nun ist der ganze Witz an dieser Stelle, dass uns Kant nie die Maxime direkt sagt, sondern diese nur umschreibt:
»Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft.«
Dieser Satz lässt sich zweifach lesen, bzw. auf zweierlei Arten in eine Maxime umwandeln. Die erste ist »Denke stets aktiv« oder auch »Nutze deine Vernunft stets aktiv«; die zweite dagegen »Beachte, dass du immer (und ausschließlich) aktiv denkst« – ein passives Denken wäre demnach eine Selbsttäuschung, oder, wenn es von anderen vorgeworfen wird, eine Fremdtäuschung. Obwohl die folgenden Sätze dann zunächst die erste Lesart zu bevorzugen scheinen, wird die zweite nicht ausgeschlossen.
Kant definiert dann das Vorurteil und den Aberglaube, bevor er zur (Nicht-) Erläuterung der zweiten Maxime kommt. Er bleibt also bei seiner indirekten Definition des ›Selbstdenkens‹.

Vorurteil und Aberglaube

Das Vorurteil sei »der Hang […] zur passiven Vernunft«, also gerade nicht aktiv zu denken. Nun gibt es ein zweites Missverständnis, welches wir hinreichend klären müssen, um den Unterschied zwischen einer passiven und einer aktiven Vernunft zu verstehen. Etwas weiter unten korrigiert Kant sich nämlich und nennt die erste Maxime die Maxime des Verstandes. Der Verstand ist nun das Vermögen eines Menschen, Wahrnehmungen zu Begriffen zusammenzufassen; und auf der Rückseite bedeutet dies, dass der Verstand in der Lage ist, Einzelheiten wegzulassen, also zu abstrahieren. Erst dadurch ist es möglich, solche Begriffe zu bilden, die mehrere Objekte zu einer gleichen Menge ordnen. Der Kern dieser Tätigkeit besteht allerdings in der (durchaus naiven) Wahrnehmung alldessen, was die Sinne einem zu bieten haben.

Aktive und passive Vernunft

So gewendet bildet die aktive Vernunft auch aktiv Begriffe, während die passive Vernunft nur Begriffe von anderen übernimmt. Die passive Vernunft kümmert sich also, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, zu wenig um die sinnliche Wahrnehmung; dies erinnert an Kants wohl berühmtesten Satz
»Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV A 51),
um daran anzuschließen:
»Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).«
Damit ist dann aber eine doppelte Aufgabe bestimmt: die Begriffe zu versinnlichen, die sinnlichen Anschauungen zu verbegrifflichen.
Dadurch erklärt sich auch, warum die passive Vernunft als Quelle der Vorurteile gesehen wird: denn wenn sich die passive Vernunft weder um Veranschaulichung noch um Verbegrifflichung kümmert, entleert sie die Gedanken und wird blind für die reale, vor einem sinnlich und greifbar liegende Welt. Die Begriffe, so sie einfach übernommen werden, bezeichnen nichts mehr. Sie werden unbrauchbar. Schlimmer noch bezeichnen sie nicht mehr das, was ein Mensch durch aktives Denken erschaffen hat. Wozu ein solcher, freilich doch unangenehmer Zustand nützlich sein sollte, liefert Kant dann gleich mit:
»… indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfnis, von anderen angeleitet zu werden, mithin den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht.«

Anschaulichkeit und mediale Vermittlung

Man kann, als Zwischenhalt, festhalten, dass die mediale Vermittlung von Wirklichkeit, also Zeitungen, Fernsehen, Blogs und Video-Kanäle, trügerisch ist. Sie vermittelt uns die Wirklichkeit durch die Augen anderer, und leider auch allzu oft durch deren Rhetorik und der darin liegenden Zweckentfremdung. Zweifelsohne lässt sich die Komplexität der Welt von einem einzelnen schlecht erfassen, oder, um es mit Kant zu sagen, gibt es so viele Begriffe, dass wir uns dazu zu selten zu einer gründlichen Anschauung verhelfen können.
Gehen wir auf die aktuelle Situation zurück, so lässt sich zunächst nur sagen, dass die Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Corona nur von den wenigsten anschaulich erschlossen werden kann. Den Bürger*innen liegen im allgemeinen nur medial vermittelte Sachverhalte vor, also ›leere Gedanken‹; und dies gilt sowohl für all diejenigen, die die gravierenden Folgen von Corona-Erkrankungen leugnen, wie diejenigen, die auf sie hinweisen. Bedenkt man nun, dass es sich ja eigentlich um eine wachsende Kluft zwischen Begriff und Anschauung handelt, kommt man nicht umhin, in den verhärteten Parteien der ›Leugner‹ und ›Befürworter‹ genau jenes Auseinanderdriften wiederzufinden. –
Es ist hier nicht Sinn und Zweck, einen Ausgang aus diesem Konflikt aufzuzeigen; ganz allgemein sei aber angemerkt, dass die Gesellschaft zwei Möglichkeiten anbietet: dies ist einmal der Sachverstand, zu dem sich jeder Mensch selbst verhelfen möge, hier also das Wissen um Virologie, Epidemiologie und Evolution im allgemeinen, zum anderen das geprüfte Vertrauen. Geprüft ist ein Vertrauen dann, wenn es auf vielfältige, unterschiedliche Quellen zurückgreifen und diese sachverständig beurteilen kann, sodass die Ergebnisse der Prüfung auf jene Menschen zurückfällt, denen wir unser Vertrauen schenken oder entziehen möchten. So bleibt als Fundament nichts anderes übrig, als seinen Sachverstand zu bilden; und erst darauf kann man, zumindest vorläufig, eine Parteilichkeit begründen. Dass es derzeit oftmals umgekehrt läuft, ja dass sich dieser Konflikt durch Beleidigungen und Bedrohungen zunehmend verselbstständigt, bietet zwar alles mögliche, jedenfalls aber nicht eine vorurteilfreie Denkungsart, kein Selbstdenken.

Die erweiterte Denkungsart

Deutlicher wird das Verhältnis zwischen Selbstdenken, Begriff und Anschauung, wenn man sich die zweite Maxime vor Augen führt. Kant nennt diese die ›Maxime der erweiterten Denkungsart‹, bzw. ›Maxime der Urteilskraft‹. Nun ist ein Urteil, zumindest das philosophische, zunächst nur eine Merkmalszuweisung, wie etwa ›Die Rose ist rot.‹. Hier wird aber klar, dass das Urteil die Anschauung, hier also die Rose, im Urteil in einen Begriff umwandelt; denn gleich wie die Rose dort auch immer sein mag, das Urteil hat an ihr vieles weggelassen. Erweitert ist diese Denkungsart nun, wenn ein Mensch »sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils … wegsetzt«. Dazu muss er »aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert«. Dabei sollte klar sein, dass es sich hier nicht einfach nur um beliebige andere Urteile handelt, sondern um Urteile, die einen bestimmten Sachverhalt betreffen. Wer dieser Maxime nicht folgt, ist nur zu einem bornierten (also beschränkten) Urteil fähig.

Gesunder Menschenverstand

Damit kehrt Kant aber auch zu dem Beginn seines Umweges über die Denkungsarten zurück. Hier definiert er den gesunden Menschenverstand, den er auch Gemeinsinn und gemeinschaftlichen Sinn nennt. Nachdem er zunächst die vulgäre Bedeutung dieses Wortes zurückgewiesen hat, schreibt er:
»Unter dem sensus communis aber muss man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken … Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluss haben würde. Dies geschieht nun dadurch, dass man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, in dem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert …« (KU A 155)
Kants Definition birgt nun einige Unsicherheiten. So ist das faktische Urteil eines, welches sich durch Überprüfung und Absicherung objektivieren lässt; dagegen steckt in jedem Urteil auch ein subjektiver Anteil, von dem Kant hier absehen möchte. Da sich aber viele Urteile nur bei genügend Sachverstand von ›subjektiven Privatbedingungen‹ abstrahieren lassen, bei anderen, den rein politischen Urteilen, dies sogar gar nicht möglich ist, denn hier ist die Parteilichkeit geradezu Bedingung des Urteils, kann man zwar das einfache, bornierte Urteil überwinden, den gemeinschaftlichen Sinn vollumfänglich aber nicht erreichen.

Die Mängel der ›Querdenker‹

In der Szene der so benannten ›Querdenker‹ finden sich alle die Merkmale wieder, gegen die Kant hier angeschrieben hat: ein fragloses Übernehmen von Begriffen, ohne diese durch Anschauungen genügend geprüft zu haben; oftmals findet man zwar solche Anschauungen, aber nur als Medium, sodass man eigentlich nur ein Medium ansieht, und hier noch einmal zusätzlich, und bevor man den Inhalten glaubt, dieses Medium selbst überprüfen müsste. Das ungeprüfte, und zum Teil nicht überprüfbare Medium nennt man dann üblicherweise ›Fake News‹.
Der zweite Mangel ist dann der zu enge Bereich der Urteile, die in Betracht gezogen werden. Teilweise geschieht den Urteilen genau dasselbe, wie den Begriffen: Sie werden passiv übernommen; damit gehören sie aber zum Aberglaube, dem Gegenteil der Aufklärung.

Schluss

Kants recht verstreute Ausführungen über die Denkungsarten sind natürlich wesentlich komplexer als hier dargestellt. Es ginge aber auch nicht darum, eine möglichst präzise philologische Analyse zu liefern, sondern das ›Selbstdenken‹ präziser zu fassen; damit wird das abergläubische Denken, welches sich bei den Querdenker findet, hoffentlich konstruktiver kritisierbar. Zur Parteilichkeit möchte ich hier trotzdem nicht aufrufen. Die Corona-Leugner sind zwar aus vielen Gründen politisch weder sachlich noch anständig; dass dies sich aber automatisch bei ihren Gegnern finden ließe, lässt sich daraus nicht schließen. Auch dort ist Kritik, zum Teil deutlich scharfe, angebracht. Aber es wäre eine Kritik, die sich gerade von der der Querdenker deutlich unterscheiden müsste.
Selbstdenken jedenfalls ist die aktive Konstruktion von Begriffen; es steht, im Zusammenhang mit dem ›gesunden Menschenverstand‹, nicht alleine, sondern mit zwei anderen Denkungsarten, von denen ich hier nur eine etwas weiter ausgeführt habe. Das erweiterte Urteil dagegen ist ein anhand anderer Urteile geprüftes eigenes Urteil; dieses erweiterte Urteil bedingt eine bessere Begründung, deren Kern entweder anschaulich ist (also direkt auf ein sinnliches Phänomen hinweist) oder zumindest auf hinreichend geprüfte Quellen verweist (was einer Quellenkritik bedarf).
Meinungen, die hier übrigens gerne ungebührlich hineingemischt werden, können zwar durch gut konstruierte Begriffe abgesichert werden, gehören aber nicht in die Sphäre des Selbstdenkens. Meinungen sind subjektive Einschätzungen, wie ein sozialer Sachverhalt sich auf das eigene Leben einwirkt: sie sind entweder intuitiv (unbegründet) oder rational (begründet). Eine Aussage wie »Covid ist nicht schlimmer als eine Grippe« ist keine Meinung, sondern nur die Vorbereitung einer Meinung. Sie unterliegt deshalb auch nicht der Meinungsfreiheit, sondern ihrer jeweiligen Disziplin und muss deren Gesetzen, Begriffen und Urteilen gehorchen.

12.07.2021

Kippfiguren im Denken

Philosophische und mathematische Vernunftbegriffe

Kant teilt in seiner Logik die Vernunftbegriffe (unter anderem) in philosophische und mathematische auf (Logik A 22). Unterschieden werden diese dadurch, dass die philosophischen durch Intuition, die mathematischen durch Konstruktion erzeugt werden.
Diese Antwort kann aber kaum befriedigen; sie kann die moderne Leser*in nicht befriedigen, nicht nach einem Jahrhundert konstruktivistischer Theorien. Deleuze und Guattari formulieren in ihrem Buch Was ist Philosophie?: „Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen.“ (6). Und sie kann die Kant-Leser*in nicht befriedigen, denn der Begriff als solcher ist auch bei Kant auf einer zeitlichen Synthese beruhend. Diese müsste nun auch in der Intuition zu finden sein, die den philosophischen Begriff gibt.

Muster und Überautomatisierung

Tatsächlich hält die Kognitionspsychologie hier ein „Theoriestück“ bereit, jenes nämlich, welches behauptet, dass jedes wahrgenommene Muster durch hinreichende Übung zu einem wahrnehmenden Muster wird, soll heißen: ein Muster, welches wir intuitiv in die Umwelt hineinsehen. Dieser Prozess wird auf der Handlungsseite durch Übungen erreicht, auf der Seite des Denkens durch eine zunehmende Automatisierung, die dann in einer „Überautomatisierung“ gipfelt, also jenem Moment, in dem ich mir nicht mehr bewusst bin, dieses oder jenes Muster anzuwenden. – Beigefügt werden soll, dass sich Denken immer in Mustern vollzieht und der Mensch bei der Selbstreflexion gar nicht hinter seine Anfänge zurückkehren kann. Vermutlich sind die allerersten Denkmuster biologisch geprägt, und werden dann durch Umwelterfahrungen und Lernen zunehmend in Richtung kulturell angeeigneter Muster verschoben.

Dianoia

Dies führt uns zu einem wesentlich älteren Philosophen zurück, Platon, der in seinem Menon-Dialog ein schönes Beispiel davon liefert, was er als dianoia bezeichnet. In diesem betreffenden Abschnitt lässt Sokrates einen Sklavenjungen ein geometrisches Problem lösen. Was auch immer dieses geometrische Problem ist: Platon möchte hier zeigen, dass der Junge die Lösung weiß, somit also die Idee angeboren sei.
Dabei ist die dianoia ein Mittelglied:
„Die platonische dianoia als die für alle Wissenschaften konstitutive Verstandestätigkeit ist dann im platonischen System der Erkenntnisvermögen dadurch bestimmt, dass Anschauen und Denken eine spezifische Verbindung eingehen, insofern sinnlich wahrnehmbare Figuren und Zahlen als unsinnliche mathematische Objekte gelten und auf diese Weise auch eingesetzt werden.“
Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016, 155 f.)

Kippfigur und Evolution: von der Intuition zur Konstruktion

In diesem Sinne ist die dianoia eine Kippfigur im Denken: eine geometrische Konstruktion, eine mathematische Formel, ein informationstechnisches Diagramm (etwa die für die Software-Architektur so wichtigen Entwurfsmuster) bilden sowohl eine anschauliche Materie wie ein unsinnliches Denkmuster.
Warum aber ist genau dieser Zwischenbereich so interessant? Es geht nicht nur darum, die Trennlinie aufzulösen, die Kant zwischen den philosophischen und den mathematischen Begriffen, der Intuition und der Konstruktion zieht. Vielmehr richtet sich hier das Augenmerk auf die Lehre, durch die wir in der Lage sind, philosophisch und philosophisch neu zu denken. Dass dies eine Lehre ist, keineswegs aber eine interne Dialektik des Geistes, wie sie von Hegel postuliert wurde, verschiebt die ganze Dialektik aus einer Notwendigkeit der Entwicklung in eine gewisse systemabhängige Zufälligkeit, mithin in den Bereich der Evolution. Erinnern wir uns daran, dass die Evolution nicht einfach nur eine stabile Abfolge von Entwicklungsschritten ist; zunächst zeigt sie sich in einer Population und darin, wie diese Population Ereignisse verarbeiten kann: indem sie diese gewohnheitsmäßig aufnimmt (sie assimiliert), diese jenseits ihrer Verarbeitungsgrenzen durchlaufen lässt (sie ignoriert oder durch diese zerstört wird) oder indem sie sich diesen anpasst (sich akkomodiert).
Offensichtlich ist also die Lücke, die zwischen Intuition und Konstruktion klafft, keineswegs nur eine qualitative, sondern eine qualitativ-temporale; so dass etwa die mathematischen und die philosophischen Begriffe nicht zwei verschiedene Sphären bilden, sondern ineinander übergehen können. Folgt man dem Prinzip der Überautomatisierung, also dem Wechsel vom Interpretierten zum Interpretierenden, so gilt dies auch für andere Bereiche.

Freiwerden der Muster

Was die Muster angeht, so zeichnen sich diese, sobald man sie übt, durch eine zunehmende Freiheit aus. Sind sie zunächst ganz an den Fundort gekettet, an dem wir sie zum ersten Mal wahrgenommen haben, können diese nach und nach in andere Bereiche übertragen werden und heften sich irgendwann „wie von selbst“ an Erkenntnisobjekte. Diese Unfreiheit mögen die meisten schon so erfahren haben, dass sie eine Kolleg*in, der sie Tag für Tag auf der Arbeit begegnen, bei einer Begegnung in der Freizeit zuerst nicht erkannt haben. Und die zunehmende Freiheit wird jedem deutlich vor Augen stehen, den einmal ein Einfall getroffen hat, der zunächst mit der Situation nichts zu tun hatte, dann aber nach und nach seinen Grund preisgegeben hat, warum genau dieser Einfall in dieser Situation aufgetaucht ist.
Auch in der Pädagogik verfolgt man diesen Ansatz, wenngleich auch oft nicht mit dieser Begründung: hier wird mit lebensweltlichen und praxisorientierten Theorien argumentiert; so soll etwa die Geometrie anhand von „echten“ Aufgaben, der Konstruktion von Papierbrücken, der Berechnung einer Baumhöhe anhand von der Länge des Schattens und des Winkels, usw. eingeübt werden. Damit soll vor allem der pragmatische Nutzen verdeutlicht werden. Für die kreative Arbeit mit Mustern scheint das aber nicht zu reichen. Im Gegenteil wird oft sogar das Vorgefundene in den Mittelpunkt gestellt, nicht das konstruktive Experiment. So wird aus der Erfahrung der Lebenswelt häufig eine Einfriedung in der Lebenswelt. Den Aufgaben fehlt das Freiwerden der Muster.

Philosophieren lernen

Kant scheint dies gespürt zu haben. Zwar schreibt er, dass die Logik „eine Vernunftwissenschaft nicht der bloßen Materie, sondern der Form nach“ sei (A 9), aber er schreibt doch, dass auch die Logik selbst historisch erworben werden könne (A 21), womit er meint, dass ein Mensch diese erwerbe, also lerne:
„Es kann also objektiv etwas ein Vernunfterkenntnis sein, was subjektiv doch nur historisch ist.“ (A 21)
Ohne dies auf die Weise auszuführen, wie ich dies hier mit Hilfe der Kognitionspsychologie getan habe (also gerade nicht philosophisch!), kommt auch Kant zu einer Engführung der Begriffe der Übung und der Freiheit:
„Der philosophieren lernen will, darf dagegen alle Systeme der Philosophie nur als Geschichte des Gebrauchs der Vernunft ansehen und als Objekte der Übung seines philosophischen Talents.
Der wahre Philosoph muss also als Selbstdenker einen freien und selbsteigenen, keinen sklavisch nachahmenden Gebrauch von seiner Vernunft machen. Aber auch keinen dialektischen, d. i. keinen solchen Gebrauch, der nur darauf abzweckt, den Erkenntnissen einen Schein von Wahrheit und Weisheit zu geben. Dieses ist das Geschäft der bloßen Sophisten; aber mit der Würde des Philosophen, als eines Kenners und Lehrers der Weisheit, durchaus unverträglich.“ (A 27)

Freies Denken als Kippfigur

So mag es sein, dass die Evolution, sofern sie biologisch ist, uns an die Scholle bindet, während die Evolution, sofern sie kognitiv ist und uns Menschen als Kulturwesen betrifft, uns von dieser löst. Dass dies aber nicht ganz so einfach zu verwirklichen ist, darauf weist die platonische dianoia: auch in ihrem ersten und weitergehenden Wirken bleibt das freie Denken auf diese Kippfigur, bleiben das Interpretierte und das Interpretierende aufeinander angewiesen.
  • Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Was ist Philosophie? Frankfurt am Main 2000
  • Kant, Immanuel: Logik. in ders.: GW Band VI, 415-582
  • Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Berlin 2016

24.05.2019

Grammatik als Heilmittel

Analogiebildung

Dabei, bei der unterstellten Ähnlichkeit, kann man auch von komplexeren Konstellationen ausgehen, etwa, dass es mehrere Elemente gibt, für die eine gewisse Ähnlichkeit unterstellt wird, da sie untereinander zusammenhängen. Wenn diese Elemente dann untereinander auch noch so verbunden sind, wird hier nicht nur mehrfach eine Ähnlichkeit unterstellt, sondern ein ganzes Modell auf eine wahrgenommene Situation oder ein wahrgenommenes Phänomen projiziert. Dies ist dann die Verbindung zur Analogiebildung und zur Wissenschaftlichkeit, die in empathischen Prozessen mit enthalten ist.
Breithaupt macht das dann an dem (berühmten) Beispiel der Fledermaus fest:
Wenn wir etwa versuchen, uns in eine Fledermaus einzufühlen, so das berühmte Beispiel von Thomas Nagel, so tun wir es, indem wir die Gleichartigkeit der Erfahrung unterstellen, und etwa das Echolot in Sicht zurück übersetzen und das Flügelschlagen als Armbewegung auslegen (was es evolutionär ja auch war).
Breithaupt, Fritz: Kulturen der Empathie. Frankfurt am Main 2009, S. 18f.

Grammatik als Heilmittel

Insofern hat aber auch Wittgenstein recht, wenn er die Grammatik, bzw. die Betrachtung der Grammatik als Heilmittel gegen die Empathie, bzw. die unterstellte Ähnlichkeit ansieht. Er fragt immer wieder danach, was wir aus einem Schmerzausdruck schließen können, inwieweit wir in der Lage sind, ihn zu verstehen.
Wenn Wittgenstein also nach Regeln und Gesetzen fragt, dann auch in der Art und Weise, dass er nach der Kombination von Ähnlichkeiten und Differenzen fragt, nach dem Aufbau unserer Welt entlang von Ähnlichkeiten und Differenzen und dass er diese Kombinationen genauestens betrachtet wissen will.

Einmaligkeit

Einmaligkeit ist ein ambivalentes Wort. Einmalig kann quantitativ oder qualitativ gebraucht werden: einmalig als Ereignis oder Handlung, die/das einmal notwendig ist (oder faktisch vorgekommen ist), um dann getan zu sein, und einmal als Erlebnis, zu dem es nichts Vergleichbares gibt.
Beide Arten sind falsch: eine quantitative Einmaligkeit wäre rein formal und inhaltlich nicht an irgendeine Sinnlichkeit gebunden. Eine qualitative Einmaligkeit wäre so außerhalb unserer Erfahrung, dass sie uns als reiner, flüchtiger, sogar unbemerkbarer Zufall erscheinen müsste — eine unbemerkbare Erscheinung zeigt, wie paradox eine solche Annahme wäre.

13.05.2019

Mathe lernen

Nun, ein Problem, das vielleicht nicht nur ich, sondern sehr viele Menschen haben, ist, dass man Mathe nicht nur können muss, sondern dass man Mathe dort sehen können muss, wo sie bisher noch nicht stattfindet. Man muss die Formeln in die Welt hinein- und aus ihr heraussehen. Das aber braucht die Automatisierung, und diese erreicht man nur durch Üben, soll heißen: vielfältige Übersetzungen. (Zur Automatisierung habe ich zum Beispiel in der Tunnelblick und die Theorie geschrieben.)
Dann aber darf man nicht einfach nur Gleichungen lösen, sondern muss diese immer wieder auf ihre Äquivalenz zu Weltfragmenten, zu Ausschnitten aus der Realität überprüfen. Oder sich für diese Vorstellungen erfinden.

Sprachfunktionen

i • „Nach der Bühlerschen Sprachfunktion hat man sich mehr für ›Darstellung‹ als für ›Appell‹ und ›Ausdruck‹ interessiert.“ (Pohlenz 194)
Hier hat die Funktion ein Ziel: das Ziel ist ein Zustand, von dem ich sagen kann: ich bin zufrieden.
ii • Man kann auch sagen: das passt mir, wenn man zufrieden ist.
iii • Aber was passt hier denn? Es ist doch etwas anderes, wenn man sagt: Die Meise passt in den Brutkasten (sie muss sich darin noch bewegen können).
iv • Meine Vergangenheit passt mir. Aber kann ich sagen: Meine Vergangenheit passt mir, wie eine Meise in den Brutkasten passt?
Hier kämpfen zwei Bilder miteinander. (Sie passen nicht.)
v • Man stellt sich in der Sprache etwas so dar, dass es passt. Wie empfinden wir nun, dass zwei sprachliche Bilder nicht zueinander passen? – Man zählt mehr Zweifel auf (als bei passenden Bildern), benennt Unterschiede, sagt: Ich bin befremdet.
vi • Man kann auch weitere Bilder aufzählen, um diesen Zustand auszudrücken:
„Zwischen den Bildern entsteht ein Bruch.“
„Die Vergangenheit ist eine Idee und die Meise ein Körper.“
„Die Bilder sind schief.“
Dann versucht man die seltsamen Bilder durch weitere Bilder einzufangen oder ihr Verhältnis untauglich zu machen.
Aber man muss suchen, weil hier etwas nicht in die Sprache passt. Uns fehlt die gute Darstellung.
vii • Was aber ist nun die Funktion der Darstellung? Nun, dass wir zufrieden sind. Und wir sind unzufrieden, wenn wir wahllos Bilder aneinander kleben und sich kein Zusammenhang ergibt. (Aber Zusammenhang ist in diesem Fall auch nur ein Ausdruck für: es passt. – Wir bewegen uns hier am Rande der Tautologie.)
viii • Betrachtet man aber die disjunkte Verknüpfung, da drückt diese scheinbar eine Paradoxie aus: etwas ist durch die Verknüpfung getrennt. Das liegt aber daran, dass die Satzfunktion zwei Bilder nebeneinanderstellt, um auf die Trennung hinzuweisen. Zwischen den beiden Medien besteht ein Bruch, und diesen Bruch nutzen wir, um etwas gegeneinander auszuschließen (im Handeln zum Beispiel), aber in der Sprache engzuführen.
ix • Wie kann die Sprache etwas darstellen? Aber die Sprache stellt nichts dar. Wir sind nur mit der Sprache zufrieden, wenn die Bilder passen, und wir sind mit ihr unzufrieden, wenn die Bilder nicht passen. Und ob es uns passt, ist keine Funktion der Sprache, und auch wir entscheiden nicht darüber, sondern dieses Gefühl der Zufriedenheit stellt sich ein, weil es passt. (Und hier besteht die Gefahr, dass wir Ursache und Wirkung vertauschen.)
Und mit diesem ›es‹ zeigen wir irgendwohin, worin niemand Einsicht hat.
x • In diesem Fall bin ich zufrieden, weil ich mit der Logik nicht weiter komme. Ich sehe dort für sie keine Aufgabe. In anderen Fällen bin ich unzufrieden, weil ich für die Logik eine Aufgabe sehe.
Wie aber entscheide ich das? Nun, in dem einen Fall fällt mir ein, dass hier logische Verfahren notwendig sind, im anderen nicht. Im einen Fall hat die Logik eine Funktion, im anderen nicht. (Aber das löst noch nicht die Frage, was eine Funktion ist. Ich mache mir nur Gedanken darüber, wann eine Funktion »geschieht«. Aber sie geschieht eben, und ich muss nicht wissen, was sie ist und warum sie geschieht.)
xi • „Die Formulierung ist so schräg, sie ruft nach einer logischen Erklärung.“
Hier sage ich nicht, dass »schräg« eine seltsame Formulierung ist. Ich empfinde sie als natürlich. Aber sie passt ja nicht, und wenn ich das erklären möchte, nehme ich schon wieder ein Bild zu Hilfe.
xii • Können wir den Bildern entkommen? Und wollen wir es?
Aber selbst wenn wir davon träumen, den Bildern zu entkommen, drücken wir es in Bildern aus.
xiii • Man kann es auch so sehen: wir gleiten an der Innenseite der Bilder entlang. Aber wir kennen sie nicht, bis uns jemand auf sie aufmerksam macht. Und das können wir manchmal nicht ertragen.
xiv • Das sprachliche Bild hat eine Funktion; es stellt dar. Aber nicht sich selbst. Wenn es sich selbst darstellt, wenn ich es also als solches erfasse, dann, weil ich es zugleich „nicht“ sehe.
Aber du siehst das Bild doch. – Ja, weil ich auf die Wörter sehe, und nicht durch sie hindurch.
xv • Seltsam dabei aber ist, dass ich erst das sprachliche Bild erfassen kann, wenn ich durch die Sprache hindurch gesehen habe. Hier nun wieder scheint es, dass die Sprache von der Realität kritisiert wird; obwohl es doch erst die Sprache ist, die mir die Welt strukturiert und haltbar macht. Die sprachliche Darstellung fällt auf sich zurück.
(Wenn Umberto Eco sagt, dass die Semiologen sich nur für die Zeichen interessieren, aber nicht für die Welt dahinter, dann muss sich der Semiologe trotzdem für reale Zeichen interessieren. Und diese wieder sind Teil der Welt. Es scheint, als gäbe es immer einen Teil, der sich unserer zweifelnden Arbeit entzieht.)
xvi • Die Darstellungsfunktion weist zunächst auf eine Welt. Dann aber fällt die Bewegung auf sie zurück.
Hier hat die Funktion etwas doppeldeutiges: auf der einen Seite gibt es ein »Funktionieren« der Funktion; gleichsam wie ein Naturgesetz ist sie da, indem sie sich vollzieht. Und auf der anderen Seite kann ich sie zu einem Objekt machen und auf sie andere oder gleiche Funktionen anwenden. Man hat gleichsam die Idee der Funktion und ihre praktischen Instanzen.

16.04.2019

Warum mit Phrasen Schluss sein muss.

Kissler beginnt sein Buch Widerworte mit einer Phrase - "Warum mit Phrasen Schluss sein muss".
Danach betreibt er mal Haarspalterei, mal Phrasendrescherei. So wird die Metapher "Wurzel", die Steinmeier in einer Rede verwendet ("Respekt vor der Vielfalt unserer Wurzeln"), wörtlich, also, wie Kissler selbst sagt, botanisch genommen. Nicht, dass eine Metapher unkritisch sei. "Die Metapher verschließt das Ende eines Symptoms" schreibt der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan; nur, und dies muss man eben mitlesen, kann man diesem Symptom nicht dadurch beikommen, indem man die Metapher zur Nicht-Metapher erklärt, sondern indem man das Symptom freilegt.
Umgekehrt prangert er Gündogan an, wenn dieser von der Heimat seiner Eltern spricht, damit das türkische Dorf meint, in dem diese herangewachsen sind, und nicht der Ort, an dem sie seit vierzig Jahren in Deutschland leben. Kissler mutet einem Alltagsbegriff plötzlich eine philosophische Strenge zu, die er selbst nicht einzuhalten vermag. Daraus zieht er dann weitreichende und fast schon die Personen denunzierende Schlüsse. Vielleicht sind aber Fußballer einfach nicht die hellsten Köpfe. Vielleicht ist dieser Faux-pas, der zum Skandal hochgebauscht wurde, jene Gedankenlosigkeit, mit der manche Menschen durch die Welt schwirren.
Was ist eine Phrase? Kissler schreibt, schön metaphorisch übrigens: ein Stoppschild, das dem langen Nachdenken von Beginn an im Weg stünde. Bloy, den er aus einer etwas befremdlichen deutschen Ausgabe zu zitieren scheint, schreibt, dass "der authentische und unhinterfragte Bourgois in seiner Sprache notwendig auf eine sehr kleine Anzahl von Formeln beschränkt sei" ("l’authentique et indiscutable Bourgeois est nécessairement borné dans son langage à un très-petit nombre de formules", tome VIII, p. 7). Nicht Stoppschild ist die Phrase bei Bloy, sondern Ergebnis eines Daseins, das "nicht einen einzigen Tag durch die Sorge erschüttert wurde, etwas zu verstehen, was auch immer es sei" ("paraît vivre sans avoir été sollicité, un seul jour, par le besoin de comprendre quoi que ce soit"). Fehlende Sensibilität, fehlender Ehrgeiz, fehlendes Mitgefühl sind die Ursachen der Phrasen; die Phrase selbst nur deren sprachliche Erscheinung.
Diese verdrehte Argumentation zieht sich, als Phrase, durch das Buch von Kissler hindurch; sein Lamento von der Hohlheit wird gebetsmühlenhaft wiederholt, wie seine Mär vom Linksruck einer doch eigentlich neoliberalen Bundesregierung. Aber Bloy meint eben, was schon Kant in seinem Aufsatz zur Aufklärung geschrieben hat: dass der Pinsel (also der sich nicht aufklärende Mensch) sich von fremder Hand führen ließe. Und genau das überwindet Kissler nicht. Im Gegenteil. Nicht einen Moment verharrt er auf einem Phänomen, bricht es auf, wägt es ab; es sorgt ihn nicht. Das ist im Schweinsgalopp querfeldein zu hetzen, das ist dann sogar noch schlechte Philologie.
Die Phrase aber gründet auf dem unscharfen Begriff, im schlimmsten Fall auf der Tautologie. "Geschäft ist Geschäft" zitiert Kissler Bloy (im Original: "Les affaires sont les affaires"). Wollte man der Phrase entkommen, müsste man ihr den schwankenden, unscharfen Charakter nehmen, den darin enthaltenden Begriff scharf stellen, ihn diskutieren und vertiefen, die Logik auf eine argumentative Vernetzung umstellen. Vor allem aber müsste man dem Leser Regeln an die Hand geben, wie er selbst der Phrase entkommt. Den der anderen, vor allem aber seinen eigenen.
Das macht Kissler aber nicht. Das kann er auch nicht. Das konnte er nie, und - das steht zu befürchten - wird er auch nie können. Wollte Kissler aber tatsächlich mithelfen, die Phrasen aus der Welt zu schaffen, müsste er zu schreiben aufhören. Oder sorgfältig zu denken anfangen. Ersteres wäre von schnellerem und sichererem Erfolg gekrönt.

Und die Lengsfeld

Angepriesen wird das Buch dann auch von Vera Lengsfeld auf dem Blog der notorischen Nörgler, Ach gut. Was sie in der Überschrift so provokativ heraushebt, dass sich nämlich Politikversager in die Phrase flüchteten, scheint nur für andere zu gelten. Lengsfeld, die laut eigener Aussage, "nur zum Spaß" in den Bundestag gegangen ist, kann vor allem eines: die Schuld und die Pflicht, sich zu ändern, beim anderen zu finden, beim politischen Gegner.
Was sie hinzuzufügen hat, ist wenig. Neu an ihren Aussagen ist nichts. Die Klage, die Politik der Regierung sei stumpf, farblos, widersinnig, ist auch ihr zur Phrase geworden, die sie mal ums mal wiederkäut. Denken, also sich in neues Terrain vorzuwagen, sich einer anderen Stimme anzuvertrauen und ihr lange, im Guten und Schlechten, zuzuhören, das schafft auch Lengsfeld nicht.

Nein, ich werde keine Jubelrufe über die derzeitige Politik ausstoßen. Dazu gibt es keinen Grund. Aber man muss sich nur ansehen, was die Journaille von rechts fabriziert. Das ist doch kein Gegensatz. Da ist noch nicht einmal ein deutlicher Kontrast. Im Argument, sofern man ein solches findet, werden einige, wenige Wörter ausgetauscht. Wörter wohlgemerkt, nicht Begriffe. Mehr ist es nicht.
Eigentlich wollte ich nicht mehr schreiben, bis ich einige für mich drängende Fragen gelöst habe. Ein Jahr habe ich mir dafür Zeit gegeben, ein Jahr ist gut geschätzt. Doch im Moment läuft so vieles falsch: die Diskussion über den Genderstern wird mit Argumenten abgewürgt, die das Problem nicht richtig erfassen. Es ist nicht das generische Maskulinum, was daran schwierig ist, sondern die Polyfunktionalität von Sprachelementen. Es werden Argumente gegen Schüler*innen vorgebracht, die keine Antwort auf die dringenden Fragen des Klimawandels sind, sondern nur ein Schlag ins Gesicht unserer Jugend. Der Rechtsstaat wird von Rechtsradikalen unterwandert, und die relativ offene Gesellschaft von dogmatischen und Gewalt ausübenden Männern und Frauen bedroht. Doch selbst in Deutschland scheint das kaum jemanden zu stören.
Das Nichtssagende eines Kisslers, einer Lengsfeld, eines Broders sind Teil dieses Symptoms. Es ist eine Verarmung des Denkens, die nur durch "Selbstdisziplin" und eine breite, geduldige Denkerfahrung zu überwinden wäre.
Und damit kehre ich zurück zu meiner Selbstdisziplin.

17.03.2019

Die Polemik

Man möchte den Satz Ludwig Hohls, die Polemik sei eine literarische Gattung, für eine Plattheit halten. Angesichts der desolaten Lage, in der unnützes Geplärr als eine solche ausgegeben wird, wird die Definition zu einer Forderung; wir müssen uns zurückbesinnen. Ohne das Raster, welches die Gattung bietet, verliert sich die Gattung und damit ihre Bedeutung.
Im Mittelpunkt der Polemik steht die Erkenntnis. Dies bedeutet für den Schreibenden zunächst die Selbstdisziplin: Habe ich etwas zu sagen? Denn hätte er es nicht, sollte er lieber schweigen. Kern dabei bleibt die Tatsache: das sinnlich Wahrnehmbare, das Rohe, noch Unbewertete; und so sehr die Polemik Interpretation und auch Vision ist, kann sie ohne einen solchen festen Boden keine Wurzeln schlagen. Sie bliebe im Objektiven unscharf, im Subjektiven ichschwach. Ichschwäche, so scheint es, ist die Kontur zahlreicher zeitgenössischer Polemiken; Ichschwäche bis zu dem Moment, wo der Selbsthass als übersteigerter Narzissmus zutage tritt.

So verfährt die gute Polemik: Sie geht vom Äußeren, Greifbaren aus und zeichnet Schritt für Schritt das Bild des Inneren nach, jenes, was sich eben nur aus den Konturen heraus erschließen, aber nicht plakativ zeigen lässt. Dies hat die Polemik mit allen literarischen Gattungen gemeinsam, die sich um die gute oder die schlechte Idee bemühen: selbst die beste Idee möchte in der Welt vorgefunden sein; und wo sich die schlechte Idee nicht als Materie in der Welt niederschlägt, gerät ihre Kritik ins Esoterische, Überspannte, Manipulierende.

Henryk M. Broder schreibt, so sagt er, polemisch. Ich lese ihn seit einigen Jahren nicht mehr, zumindest nur sehr selten. Seine sogenannten Polemiken sind langweilig. Ihnen fehlt der Erkenntnisgewinn. Er klappert Signalwörter ab, immer häufiger aber nicht einmal mehr das. Bewusst geworden ist mir dies an Claudia Roth. Diese tauchte in einem Text Broders so unvermittelt auf, dass aber auch kein Nachdenken, keine noch so fadenscheinige Kausalität dieses Auftauchen gerechtfertigt hätte.
Einen Grund für ihre Erwähnung gab es trotzdem. Dieser hat sich dann in den Kommentaren gezeigt: denn die eifrigen Leser Broders haben sich keineswegs auf den Text und seinen Inhalt bezogen, geschweige ihn angereichert, sondern sich in vielfachen Schmähungen der Grünen-Politikerin ergangen und so vermutlich dem Broder-Text zu einem guten Ranking verholfen.
In Wahrheit gibt es gar keine Kritik an Roth, sondern nur diesen Reflex von Erwähnung und Gemeckere, ein eifriges Geplappere von Menschen, die ihre drohende Überflüssigkeit durch Überflüssiges zu bannen suchen; ein Zeichen dafür, dass die Gewohnheit den Menschen aus der Kultur ins Tierische, Bewusstlose zurücktreiben kann.

Dies zeigt aber auch, dass die Signalwörter, deren sich Broder bedient, der literarischen Gattung der Polemik nicht mehr gehorchen. Man gibt sich im Unverständnis Signale des Einverständnisses. So ist auch Broders „AfD“-Rede. Er erwähnt zweimal Greta Thunberg, er streut ein, dass er eine Kreuzfahrt gemacht habe und diese ihm gut gefallen hätte. Inhaltlich kann er zu Thunberg aber nichts sagen. Er sagt es nur nebenbei, greift am sachlichen Gehalt vorbei und ergeht sich im Schmäh. Ob er eine Kreuzfahrt gemacht hat, ist fraglich. Aber die Kreuzfahrt, die scheinbar in der AfD als naturgegebenes Recht jedes aufrechten Deutschen gesehen wird, ist ebenfalls nur ein Signal. Hinterrücks wird das Kreuzfahrtschiff ein Symbol für Broder: als ein tonnenschwerer, manövrierunfähiger Stinker.

Der Polemiker führe, so wusste Karl Kraus, sein Metzgerhandwerk vor, nicht das Schwein, das er sich vornimmt. Dass am Ende das Objekt bis auf die Knochen zerlegt ist, sichtbar, greifbar, in seiner ganzen inneren Nacktheit, versteht sich. Das Handwerk ist subjektive Tätigkeit, aber immer dicht am Objekt. Dass aber das Handwerk vorgeführt wird, bedeutet auch, dass der Polemiker etwas Neues zu sagen hat: unter der kämpferischen Resignation ist das Konstruktive erkennbar; und so scheint unter der Filetierung gesellschaftlicher Missstände der Friede einer besseren Welt hervor.
Das aber hat Broder vergessen. Und, was deutlich schlimmer ist, vergessen hat er auch, was jedem noch so tölpelhaften Schreiberling in Mark und Bein eingraviert sein müsste: Du sollst nicht langweilen. Wer nichts anderes mehr kann, sollte aufhören zu schreiben. Die Polemik ist eine literarische Gattung. Sie bedarf der Literatin, nicht des Schmierfinks.

03.02.2019

4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt

Das Buch beginnt oder endet – wie man will – mit einer Plattitüde:
Die sogenannte digitale Transformation (der Gesellschaft) ist rekursiv und nicht-trivial.
So ist es als Klappentext zu lesen. Banal ist diese Aussage, weil Gesellschaften schon immer, auch für die Systemtheorie, rekursiv und nicht-trivial waren; und das alleine aus dem Grunde, weil die Gehirne all der Menschen, die an Gesellschaft teilhaben, nicht-trivial sind.

Alte und neue Gesellschaftsformen

Was also bietet uns dieses Buch außer dieser einen trivialen Aussage über Nicht-Triviales? Baecker macht sich auf die Suche nach den Merkmalen der digitalen Gesellschaft. Diese sieht er in 26 Bereichen gegeben; in ebenso vielen Kapiteln erläutert er die Transformation.
Fast jedes Kapitel beginnt mit einem historischen Überblick. Wer der Systemtheorie schon längere Zeit gefolgt ist, erkennt hier zunächst die klassische Einteilung in tribale, antike und moderne Gesellschaft. Dieser fügt Baecker dann eine nächste Gesellschaft hinzu.

Zum Beispiel Medienkomplexität

Nehmen wir eines der klassischen Themen der Systemtheorie: die Komplexität der Medien. Hier hat jede neue Gesellschaftsform die Komplexität alter Medien übernommen und fügt diesen neue Medien, besser müsste man sagen: Medienbereiche, hinzu.

Sprache in tribalen Gesellschaften

Die tribale Gesellschaft hatte hier ihre eigene Komplexität, da die Sprache einen Referenzüberschuss bedingt. Man kann auf mehr verweisen, als die Sinne hergeben. Man kann sich von früheren Zeiten erzählen oder eine Jagd planen; der Horizont mag vor dem Wanderer zurückweichen, vor dem Erzähler jedoch nicht. Wer aber viel erzählen kann, muss auch auswählen, was er gerade sagt. Komplexität und Reduktion gehen Hand in Hand.

Schrift in antiken Gesellschaften

Dasselbe passiert dann noch einmal in der antiken Gesellschaft mit der Schrift. Die Schrift ermöglicht Archive, Briefe, die von Menschen überbracht werden, die deren Inhalt nicht kennen, schließlich sogar so etwas wie erste Bücher, auch wenn diese abgeschrieben werden mussten. Schrift allerdings ermöglicht selten Rückfragen. Die Symbole sind trügerisch, selbst wenn der Absender als verlässlich gilt. Die Schrift wiederholt, was schon für die Sprache galt: es gibt eine mediale Komplexität und man muss in der Gesellschaft daran arbeiten, wie diese nun zu reduzieren sei.

Buchdruck und Kritiküberschüsse

Mit dem Buchdruck entsteht die moderne Gesellschaft. Waren die antiken Schriften gehütete Schätze, die mühsam abgeschrieben werden mussten, so kann das Wissen, oder was man dafür hielt, nun viele Absender erreichen, man befürchtet: alle. Und damit kann Wissen an allen möglichen Orten überprüft werden und sehr ungewollt können sich Stimmen zu Wort melden, die es anders und besser wissen. Die moderne Gesellschaft ist gekennzeichnet durch einen Kritiküberschuss und muss sich nun damit herumschlagen, diese Kritik in gute und schlechte Kritiken, nützliche und zerstörerische einzuteilen.

Kontrollüberschüsse

Was aber macht nun die nächste Gesellschaft aus? Welchen Überschuss produzieren die elektronischen und digitalen Medien? Baeckers Antwort ist nicht sonderlich neu. Sie ist noch nicht einmal an den elektronischen Medien erstmals durchbuchstabiert worden. Es gebe, so Baecker, mit den neuen Medien einen Kontrollüberschuss. Es gibt immer mehr Daten, die so oder anders zusammengefasst und auf die so oder anders reagiert werden kann. Damit muss aber wiederum ausgewählt werden, was an Kontrolle möglich ist.
Abgesehen davon, dass der Wandel von einer Disziplinar- zu einer Kontrollgesellschaft von Michel Foucault postuliert und an der Biopolitik durchbuchstabiert wurde, hat diese simple Behauptung noch eine andere Grobheit zu bieten: so, wie man in den frühen Zeiten des Buchdrucks, und eigentlich sogar noch heute, die Zugänge zu bestimmten Druckwerken zu disziplinieren suchte – so hatten Frauen lange Zeit keinen Zugang zu bestimmten Bibliotheken, und dem gemeinen Volk war die Lesefähigkeit weder vorgeschrieben noch gar erwünscht –, so dürfte man heute doch mit ähnlichen disziplinierenden Mechanismen rechnen.
Auf diese geht Baecker aber nicht ein. Das lässt sich zwar auf der einen Seite dadurch entschuldigen, dass dieses Buch noch eine ganze Menge anderer Themen abzuarbeiten hat, und dass deshalb genauere Betrachtungen auf später verschoben werden müssen. Aber es macht dieses Kapitel dann doch recht nichtssagend.

Sentenzen und Banales

Postmoderne Rückwendungen

Baecker erweist sich als ein Meister der Sentenz. Und wo er diese anbringt, muss man innehalten und nachdenken. Er kann dies, wo er von jeher seine zentralen Themengebiete hat: der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und der Organisation. Doch immer wieder hinterlässt er auch Ratlosigkeit. So ist es mir mit dem Kunst-Kapitel gegangen, wo er zwischen Handwerk und virtueller Konzeptkunst alles gelten zu lassen scheint: das ganze Sammelsurium, welches sich seit der tribalen Gesellschaft angesammelt hat. Das ist schlicht gesagt die Überbietung von dem, was Lyotard der »Postmoderne« ins Poesie-Album geschrieben hat: Sie solle doch bitteschön die Moderne fröhlich – und besser! – wiederholen.

Nützliches Scheitern - die Erziehung

Auch die Erziehung wird recht hilflos bedacht. Man weiß nicht so recht, wovon er eigentlich redet, von der grundlegenden Schulbildung oder von der Weiterbildung. Dass der Projektunterricht in Schulen anders verläuft, als jene Projekte, die sich Weiterbildung nennen (oder schimpfen), macht diese gerade nicht vergleichbar und auch nicht reduzierbar auf einen generellen Projektunterricht.
Hübsch ist dieses Kapitel trotzdem. Beginnt es doch mit den folgenden Sätzen:
Die Erziehung der nächsten Gesellschaft bleibt ratlos. Sie verlässt sich auf eine Zweiseitenform, der gemäß wichtig nur sein kann, was nicht in der Schule vorkommt.
Und provoziert dann weiter, genau darauf solle sich die Schule auch verlassen. Unsinn ist das natürlich, da Schreiben, Lesen und Rechnen weiterhin wichtige Grundlagen unserer Kultur bleiben werden; und ich nehme nicht an, dass diese dann nur noch als Projekt unter anderen den Menschen zur Verfügung gestellt werden. Aber ganz unrecht hat er eben auch nicht. Wissen ist immer ein Differenzschemata, sei es Wissen in Differenz zu anderem Wissen, sei es in Differenz zur Meinung. Was man in der Schule lernt, mag morgen veraltet sein. Aber darauf kommt es nicht mehr an. Sogar heute ist das schon so. Das Bohrsche Atommodell gilt längst nicht mehr; aber für den Schüler reicht es, um grundlegende physikalische Sachverhalte anschaulich zu machen. Der Scholast im Pudel ist ausgetrieben, das Studienzimmer abgeschafft und der Kerzenschein elektronisch überhöht; den Faust darf man trotzdem lesen, und sei es nur, um festzustellen, dass sich manche Sachen nie ändern, andere aber schon.

Der Witz am Ende

So stolpert das Buch zwischen Höhen und Tiefen, arbeitet sich an Konsum, Religion, Liebe, Technik und Recht, Sport und Gesundheit, Vertrauen und der nächsten Form des Humors (sic!) ab. Ob man also aus diesem Buch etwas lernt? Doch auch darauf weiß der Autor eine Antwort zu geben. Der letzte Satz des Buches lautet:
Der Witz der nächsten Gesellschaft ist der Witz einer Intelligenz, die nicht mehr weiß, wie ihr geschieht.
Und das ist nun, wie manches in diesem Buch, so geistreich und witzig, wie anderes in diesem Buch es nicht ist.

27.01.2019

Meinen - und Meinungsfreiheit

Das Meinen oder das Fürwahrhalten aus einem Erkenntnisgrunde, der weder subjektiv noch objektiv hinreichend ist, kann als ein vorläufiges Urteilen … angesehen werden, dessen man nicht leicht entbehren kann. Man muss erst meinen, ehe man annimmt und behauptet, sich dabei aber auch hüten, eine Meinung für etwas mehr als bloße Meinung zu halten. – Vom Meinen fangen wir größtenteils bei allem unserm Erkennen an. Zuweilen haben wir ein dunkles Vorgefühl von der Wahrheit; eine Sache scheint uns Merkmale der Wahrheit zu enthalten; – wir ahnen ihre Wahrheit schon, noch ehe wir sie mit bestimmter Gewissheit erkennen.
Kant, Immanuel: Logik. in Werkausgabe VI, S. 495
Die Meinung ist ein Vorurteil, oder, wie Kant sagt, ein vorläufiges Urteilen. Wissen dagegen, so schreibt Kant später (S. 499), sei entweder empirisch oder rational. Empirisch ist ein Wissen, wenn es einen sinnlichen Kern besitzt. Rationales Wissen ist ein notwendiges; es lässt sich nicht leicht anders denken und hält Anfechtungen und Überprüfungen aus sich heraus stand.
In gewisser Weise kann man sagen, dass die empirische Gewissheit zu einer historischen Gewissheit wird; wir können sagen, dass Napoleon an der Schlacht in Austerlitz als Feldherr teilgenommen hat, und können diesem in gewisser Weise eine sinnliche Komponente zumuten, obwohl wir sie sinnlich nicht wiederholen können – anders etwa als bei einem Apfel, von dem schon Goethe wusste, dass er eine Rotfärbung besitzt, und wir leicht einen ebensolchen auch heute wieder auffinden können.
Dagegen ist die rationale Gewissheit eine, die sich (so lese ich Kant) von ihrer historischen Komponente reinigt: Ihr Fluchtpunkt sind all jene Wissensbestände, die keinerlei historische Bedingungen besitzen. Dazu gehören die Naturgesetze und mathematische Aussagen.
Warum aber nun die Meinungsfreiheit? Nicht, weil jeder nun eine Meinung haben dürfte, und sei es noch die bekloppteste – und so wird ja von manchen Menschen derzeit die Meinungsfreiheit ausgelegt –, sondern um Einspruch zu erheben, wo die Meinung als Wissen ausgegeben wird.
Meinungsfreiheit dient als Bedingung dafür, gegen fälschlich behauptetes Wissen anzustreiten.
Der Meinungsfreiheit will, muss Streit und Überprüfung und Anfechtung aushalten können.

Herzlichen Glückwunsch, Lernpsychologie

Neueste Erkenntnisse beklagen:
Too often, we teach students what to think but not how to think.
OECD
Und nur damit ihr's wisst:
Nähmen wir die Prinzipien aus der Psychologie, d.h. aus den Beobachtungen über unsern Verstand, so würden wir bloß sehen, wie das Denken vor sich geht und wie es ist unter den mancherlei subjektiven Hindernissen und Bedingungen; [...]. In der Logik ist aber die Frage nicht nach zufälligen, sondern nach notwendigen Regeln; - nicht, wie wir denken, sondern, wie wir denken sollen.
Kant, Immanuel: Logik. in GS VI, S. 435
Herzlichen Glückwunsch also, liebe Lernpsychologie! Oder auch: lest doch einfach mal wieder den guten, alten Kant.

22.01.2019

Jenseits der Kreativität

Die Blüten der Kreativität

Die seltsamen Blüten, die Begriffsbildungen treiben, sobald sie über eine gewisse Popularität verfügen, sind immer wieder von spöttischen Zeitgenossen hervorgehoben worden. Die Kreativität bildet da keine Ausnahme. Ulrich Bröckling hat in seinem Buch Gute Hirten führen sanft höflich aber bestimmt auf die Widersprüche der Kreativität in der modernen Berufswelt hingewiesen.
Dieser vergnügliche, kurze Aufsatz am Ende eines recht schwarzhumorigen, brillant analytischen Buches sei hier aber nur erwähnt. Er ist in gewisser Weise auch etwas launisch.
Von der Hand zu weisen ist aber nicht, dass sich das Reden über Kreativität in Aporien verstrickt. Statt einer Übersicht, wie sie Bröckling gegeben hat, und wie ich sie einmal auf ganz andere Art und Weise versucht habe, möchte ich hier an einem einzelnen Artikel auf einige Widersprüchlichkeiten hinweisen.

Ein beispielhafter Artikel

Der Artikel zur Kreativität findet sich auf der Plattform lernen.net der Firma 4pub GmbH, die laut eigenen Aussagen ein „Content Netzwerk im Themenfeld Digitales Lesen & Lernen, online Marketing sowie Sport & Fitness“ betreibt. Der Ursprung des Artikels ist allerdings unerheblich, da sich die beobachteten Phänomene nicht nur in Bezug auf Kreativität und nicht nur an diesem Text beobachten lassen.

Benennung und Begriff

Strukturelle Ähnlichkeit

Der erste Kritikpunkt betrifft die Unterscheidung zwischen Benennung und Begriff. Der Begriff muss ein Phänomen in gewisser Weise strukturell abbilden. Diese Struktur sollte sich dann auch in der Wirklichkeit wiederfinden lassen – obwohl es natürlich auch Begriffe gibt, die die Wirklichkeit ausdehnen, wie etwa viele Erfindungen aus der Fantastik. Die Benennung ist allerdings willkürlich und beruht nicht auf Ähnlichkeit. Das sieht man schon daran, dass in unterschiedlichen Sprachen ein und dieselbe Sache unterschiedlich benannt wird. Wenn es hier eine Notwendigkeit gibt, dann eine historische.

Modisch und beliebt

In dem Artikel wird diese Zweideutigkeit gleich in den ersten beiden Sätzen deutlich benannt:
Kreativität ist das neue In-Wort. Wohin man auch schaut, Kreativität kommt gut an.
Es ist modisch, und es ist beliebt. Und natürlich kann man hier auch vermuten, dass damit der halbwegs naive Leser eingefangen werden soll: denn jeder will ›in‹ sein und gut ankommen. Doch während der erste Satz noch auf die Benennung verweist, lässt der zweite Satz offen, ob nur das Wort oder auch der Begriff gemeint ist. Die Abfolge deutet an, dass es beim Wort bleibt. Wie aber füllt der weitere Text den Begriff aus - explizit als Definition oder implizit durch Gebrauch?

Tautologien

Zu der begrifflichen Unklarheit gehört auch, dass sich die Definition häufig in kaum verhüllten Tautologien ergeht: kreativ ist, was kreativ ist, oder, wie der Autor des Artikels schreibt:
Ein kreativer Schöpfergeist wird immer mehr gefragt – und unkonventionell sollen neue Ideen und Problemlösungen auch noch sein.
Tatsächlich scheint die Kreativität so schwierig zu erfassen, dass die tautologischen Aussagen sich mehr oder weniger über den ganzen Text erstrecken.

Paradoxie der Routine

Es ist dann aber auch kein Geheimnis, dass die Tautologie, wie eigentlich in jeder ideologischen Aussage, in Verbund mit Paradoxien steht.
So ist die Kreativität zugleich Nicht-Muster, kann aber beständig verbessert werden: sie ist die routinisierte Nicht-Routine:
Und die Routine führt dazu, dass die Kreativität auf der Strecke bleibt. Um deine Kreativität zu trainieren, kannst du im Alltag damit beginnen.

Der kreative Imperativ

Bröckling nennt dies den kreativen Imperativ, von dem auch dieser Artikel seine Version kennt:
Breche aus deinen gewohnten Denkmuster aus und sei offen für neue Ideen.
Das Paradox dabei ist aber, dass das, was in unserem Denken erscheint, von den Mustern bestimmt wird, und man so zuallererst diese Muster erschließen muss, um aus ihnen dann ausbrechen zu können. Gerade diese Form der Selbstanalyse aber bringen einem die Kreativitätstrainings nicht bei, obwohl sie - als vager Begriff - angesprochen wird:
Hilfreich ist auch eine genaue Selbstreflexion.

Argumentation und Zeit

Deskriptiv und präskriptiv

Betrachtet man die Widersprüche, die sich so im Reden über Kreativität abzeichnen, kann man diese auf zwei verschiedene Formen des Aussagens reduzieren, die sich im selben Konzept vermischen: deskriptive (beschreibende) und präskriptive (vorschreibende) Aussagen. Etwas ist kreativ, weil es kreativ sein soll.

Ambiguitätstoleranz

Tatsächlich zeichnet sich so im Text selbst die Widersprüchlichkeit ab, aus der - laut Text - die Kreativität erst entsteht:
Ambiguitätstolerenz ist in diesem Zusammenhang ein wichtiges Stichwort. Darunter ist die Fähigkeit zu verstehen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche akzeptieren zu können.
Dahinter steht auch eine Verwirrung der Zeiten, die sich zugleich als Paradoxie an der Oberfläche und als unausgegorenes Gemisch in der Tiefe finden lässt, von wo aus sie den Text in die Verwirrung treibt.

Verwirrung der Zeiten

Die Kreativität ist modisch, der Kreative ist „den anderen immer einen Schritt voraus“ und sieht „den Avantgardisten in sich“. Es muss aber auch gelernt werden, durch Reflexion und Kritikfähigkeit kanalisiert werden, und „sprudelt dabei ungefiltert und unsortiert aus einem heraus“. Diese zeitliche Verwirrung ergreift auch deutlich manche Kreativtechniken. Sie sind mit einem »telos« versehen, partizipieren aber zugleich an einer mythischen Zeit der ewigen Wiederkehr: die Mindmap „ist immer beliebig erweiterbar und lässt der Kreativität keine Grenzen“.
Dies führt schließlich dazu, dass das Avantgardistische gegen die Stagnation, den Rückfall, das Festbeißen ausgespielt wird, zugleich aber auch empfohlen wird, sich nicht unter Druck setzen zu lassen und sich Zeit zu nehmen: „Innovative Ideen brauchen Zeit. Oft sind sie kein Geistesblitz [obwohl vorher genau das Gegenteil behauptet wird], sondern entwickeln sich langsam in unserem Unterbewusstsein.“

Drei grundlegende Unsicherheiten

Diese Aufzählung der Widersprüchlichkeiten ließe sich noch vermehren. Mir scheinen aber doch drei grundlegende Unsicherheiten eine genaue Begriffsbestimmung zu erschweren, die alle mit der Wahrnehmung der Zeit, bzw. ihrer Konstruktion zusammenhängen:

Kreativität und kreativer Akt

1) Zunächst wird zwischen der Fähigkeit – also der Kreativität – und dem Akt – der kreativen Handlung – wenig unterschieden. Man kann dies zwar entlang der Kompetenz/Performanz-Unterscheidung doch trennen, doch hat diese Unterscheidung schon immer das Problem gehabt, dass sie die Kompetenz gleichsam punkthaft und vollständig in die Performanz eingebunden wissen musste. Man kann zwar zugeben, dass die konkrete Ausprägung der Kreativität aus vielfältigen Einflüssen gespeist wird, sie ist aber nicht im eigentlichen Sinne heteronom. Wäre sie dieses, dann hätte der kreative Akt mit der Fähigkeit, kreativ zu sein, recht wenig zu tun.

Ursprung und Verantwortung

Man kann dahinter eine weitergehende Notwendigkeit entdecken: die kreative Handlung ist immer gerichtet. In Diagrammen erscheint sie gelegentlich als „Pfeil“. Eine solche Vorstellung aber wäre nicht möglich, wenn man den Pfeil nicht mit einem Ausgangspunkt versehen würde. So undeutlich diese Diagnose auch sein mag, so sehr wird diese auch wieder dadurch gestützt, dass die Texte über Kreativität zahlreiche unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Bedingungen der Kreativität ins Spiel bringen. Und schärfer gesagt: die Entstehung des kreativen Aktes wird in vielfältige Bedingungen ausgelagert, um so umso sicherer eine Person für die Kreativität verantworten zu können.

Struktur und Prozess

2) Die ständige Beschwörung, dass man sich darauf vorbereiten müsse, kreativ zu sein, und hier solche Sachen wie die gute Allgemeinbildung, die Beherrschung zahlreicher (Kreativ-) Techniken und Ähnliches anführt, dann aber wieder von der Spontanität und Flexibilität redet, zeigt auf ein eigentümliches Verhältnis zwischen der Struktur des Wissens und dem Prozess seiner Anwendung.

Automatisierung

Sehr deutlich findet man dann immer wieder in den Techniken das Umkippen eines Produkts in seine eigene Voraussetzung. Dies aber ist genau die Leistung der Automatisierung: aus einem interpretierten Muster wird schließlich ein interpretierendes; was man zunächst lernen musste, hilft einem dann schließlich beim Lernen. Das beherrschte Muster und die zunehmende Freiheit seiner Anwendung gehen Hand in Hand.

Starrheit / Flexibilität

Die Starrheit des Musters und seine flexible Anwendung steigern sich gegenseitig. Da es aber immer nur Muster sind, einzelne Elemente unseres Denkens, ist die Kreativität – sofern man sie hier verorten möchte – immer auch selbst erweiterbar.
Neu ist diese Erkenntnis übrigens nicht; nur ist diese in den Wissenschaften nicht so esoterisch besetzt. Sie findet sich dort in den scharf definierten Begriffen.

Die interpretierte Kreativität

3) Kreativität ist immer wahrgenommene Kreativität. Sie existiert nur als bereits gewertete, interpretierte, konstruierte. Es gibt keine Kreativität an sich. Und wenn es sie gäbe, würde niemand von ihr wissen. Wenn aber etwas wahrnehmbar ist, muss es bereits in ein gewisses Muster passen. So ist jede Kreativität bereits begrenzt und in gewisser Weise gewöhnlich. Viel wichtiger aber ist, dass die Wahrnehmung immer zu spät kommt; und schärfer gesagt: indem man behauptet, etwas sei kreativ, behauptet die interpretierende Aussage ihr eigenes Zu-spät-kommen.

08.01.2019

Diagrammatische Aktionsräume

Eine der aufregendsten Aspekte von Diagrammen ist ihre Sozialität. Sybille Krämer schreibt in ihrem Buch Figuration, Anschauung, Erkenntnis, dass zum Beispiel das Ballfangenspiel einen geteilten Aktionsraum über dem und durch das Diagramm des Spielfeldes errichtet (S. 13). Gleiches gilt für Brettspiele.
Diese Anmerkung hat mich zu zahlreichen Kommentaren veranlasst und ein recht altes Thema eine Zeit lang wieder in den Mittelpunkt meiner Aufmerksamkeit gerückt: Brettspiele, angefangen bei Mensch-ärgere-dich-nicht bis zu den Siedlern von Katan, von online-Patiencen über Kniffel, aber auch den sogenannten MMORPG.

Diagrammatischer Aktionsraum

Kernpunkt dabei ist allerdings, dass jegliches Diagramm einen solchen Aktionsraum ermöglicht, indem es bestimmte Tätigkeiten, Gesprächsinhalte und Denkmuster nahelegt, andere entmutigt. So vorsichtig muss man sich allerdings ausdrücken, denn bei längerer Beschäftigung mit einem Diagramm entdeckt man kritische Übergänge, die zunächst, beim ersten Ansehen, nicht einsehbar sind. Nimmt man Kritik in ihrem klassischen Sinne, dann gilt durch Wertschätzung die Reichweite eines Begriffs, eines Modells, eines Diagramms oder einer Theorie zu ermessen; Kritik ist nicht – wie dies heute leider allzu oft verstanden wird – eine Abwertung.

Subjektschwund

Dieser gemeinsame Aktionsraum gilt aber schließlich nun für jede Struktur. Sie betrifft jeden Satz. Allerdings ist er, nicht nur bei bestimmten Sätzen, sondern auch bei „objektiven“ Diagrammen, bei Tabellen, bei wissenschaftlichen Schaubildern, nicht mehr deutlich sichtbar. Dort muss man ihn ergänzen. Nehmen wir etwa den Zitronensäurezyklus, so ist dieser nur über viele weitere Erklärungen dem menschlichen Leben, ins besondere aber der subjektiven Perspektive verknüpfbar.
Zunächst ist in der reinen Form als reines Wissen die soziale Perspektive komplett ausgeblendet.
Auf der anderen Seite ist auch ein Diagramm wie das Kommunikationsquadrat (von Schulz von Thun) nicht unbedingt deutlich, was die Gesamtheit des Aktionsraums sein soll. Man kann nämlich davon ausgehen, dass das Kommunikationsquadrat mehr als nur die beiden Beteiligten des Dialogs einbindet. Auch Diagramme verwirklichen den Subjektschwund, und dies im gleichen Diagramm eventuell in sehr unterschiedlichem Maße.

Das Kommunikationsquadrat

So berücksichtigt auch das Kommunikationsquadrat zunächst nur einen sehr kleinen Teilbereich der menschlichen Kommunikation: wie eine Botschaft vier verschiedene praktische Aspekte der Kommunikation „enthält“ – besser wäre gesagt, wie diese hineinkonstruiert werden können. Der Empfänger der Botschaft taucht hier nur noch als „Kategorisierungsmaschinchen“ auf, der eben diese Botschaft entweder als Sachinhalt, als Appell, als Selbstoffenbarung oder als Beziehungsangebot hört. Und der Sender der Nachricht taucht eben nur noch als Nachricht auf.
Erst diese starke Abstraktion erzeugt dann aber auch die diagrammatische Figur, einen Pfeil, der vom Sender zum Empfänger verläuft und dort dann in eine der vier „Schubladen“ hineingelegt wird.

Diagramm ohne Aktionsraum

Wie stark dieser Subjektschwund dann in die Kommunikation hineinwirkt, erfährt man, wenn ein solches Diagramm nicht mehr auf sich selbst und sein Leben bezogen wird, sondern gleich auf das ganze Volk. Neulich, am Samstag, um genau zu sein, musste ich dies ertragen – wieder einmal. Derjenige, mit dem ich diskutiert habe, wusste nämlich gar nicht genau, was jenes vorliegende Diagramm mit seinem Leben zu tun hat. Aber dass das deutsche Volk daran zugrunde geht, das war ihm deutlich klar.

Ideologische Effekte

Nun kann man diesen Menschen gar nicht einen solchen Vorwurf daraus machen, denn Diagramme an sich sind dazu gemacht, einen Raum mit bestimmten Vektoren zu durchziehen. Dies geschieht aber nur um den Preis fehlender Konkretion. Diese müsste der Betrachter des Diagramms eigenhändig hinzufügen; sind die Diagramme aber zu abstrakt, fassen sie Phänomene zusammen, die zum Teil weit auseinanderliegen (wie die Polizeiliche Kriminalstatistik), und nur im Diagramm dicht beisammen stehen, transportieren sie mehr oder weniger unfreiwillig ideologische Effekte.
So auch in diesem Fall: der Betreffende schien zwar sein frühzeitiges und auf boshafteste Weise organisiertes Ableben zu befürchten, kam aber gar nicht dazu, hieraus für sich Erkenntnisse zu sammeln oder gar Handlungen zu planen. Zu groß, zu massiv war das Grauen, das ihm aus den wenigen Kästchen und Pfeilchen und Zählchen entgegenschlug. Dass er sich damit als Subjekt selbst aus seinem Protest herausgestrichen hatte, schien ihm nicht in den Sinn zu kommen. Er war hilflos, bevor die Verdammnis auch nur einen Fuß in sein Leben gesetzt hatte.
Der geteilte Aktionsraum wird so konterkariert durch den Subjektschwund. Dies übrigens gilt nicht nur für irgendwelche wissenschaftlichen Schaubilder, sondern auch für Spiele, insbesondere für online-Spiele, die das Subjekt nur noch maskenhaft - als Avatar - hervortreten lassen und dadurch den Raum medial zerreißen.

Auf dem Aktionsraum beharren

Ein Heilmittel dagegen, und sowieso ein nützliches Werkzeug, wenn man Diagramme betrachten möchte, ist der Rückgriff auf eben jenen Aktionsraum. Fragen wir uns also, welche möglichen Handlungen bei einem Diagramm sinnvoll sind. Fragen wir uns, welche Handlungen gewünscht werden – von jenen, die das Diagramm erstellt haben. Und fragen wir uns, in welcher Weise wir uns kritisch mit diesen Handlungsvorgaben auseinandersetzen können.
Dann entdeckt man dabei vielleicht, dass manche der Tatsachen, die man zunächst einem Diagramm zugeschrieben hat, von außen hineingelegt worden sind. Dieser Perspektivwechsel ist triftig. Auch wenn ich mittlerweile über Jahre hinweg dieses Thema immer weiter zerlegt habe, auch wenn ich mich mittlerweile in gewisser Weise rühmen darf, zahlreiche Fallstricke und Schleichwege zu kennen, verläuft der erste Weg zur Auseinandersetzung mit einem Diagramm immer wieder über diese höchst subjektive Aneignung und allen ihren Verkennungen.
Es lässt sich wohl nicht gänzlich vermeiden.

07.01.2019

Anmerkungen zur Metakognition

Metakognition ist eines meiner alten, hartnäckigen Themen. Sie zu durchdenken ein unendliches. In meinen Aufzeichnungen taucht sie regelmäßig auf, mal als Einschub, teilweise sehr ausführlich. Gerade das aber verweist darauf, wie breit angelegt man Metakognition denken kann. Sie wird gelegentlich als Allheilmittel propagiert, mal als reine Technik, mal als notwendiger Zusatz. Ich möchte aber behaupten, dass dieser Begriff weder eine scharfe Abgrenzung noch eine große Tiefe besitzt und deshalb eher als ein Hinweis verstanden werden muss, auf bestimmte Art und Weise seine / ihre Perspektive zu wechseln. Dieser Unschärfe geschuldet beschränke ich mich auf eine Reihe provisorischer Beobachtungen. Sie sind als Denkanstöße zu betrachten.

Gebiete der Metakognition

Ich schreibe ab, von älteren Notizen, ohne auf irgend eine Vollständigkeit zu pochen. Metakognition ist
  • Wissen von kognitiven Prozessen (und selbstverständlich von deren Elementen)
  • Wissensoptimierung
  • Bewussthalten vorbewusster und automatisierter Denkprozesse
  • gehört zum fluiden Wissen

Automatisierung und Gedächtnis

Das Gehirn ist ein ökonomisches Organ. Häufig genutzte Handlungsfolgen, aber auch häufig genutzte Denkprozesse werden automatisiert. Teilweise werden sie mit einer solchen Sicherheit versehen, dass sie zwar ablaufen, aber wir das nicht mehr bewusst wahrnehmen. In der Psychologie spricht man von einer Überautomatisierung.
Unsere Kultur nutzt solche Überautomatisierungen, wie zum Beispiel beim Rechnen. Die Kinder haben teilweise große Probleme, in den Zahlenraum denkerisch einzufinden; doch irgendwann stellen wir dann fest, dass wir sehr automatisch Aufgaben wie 43 + 86 rechnen können, ohne uns wirklich darüber bewusst zu sein, was wir dabei alles tun. Unsere Fähigkeit bleibt, in einem solchen automatisierten Zustand, vorbewusst; besser müsste man hier sagen: nachbewusst. Denn was einmal aufregend und neu war, versinkt in die Hefe des Gewöhnlichen.
Die Metakognition hat unter anderem zur Aufgabe, diese vorbewussten und automatisierten Denkprozesse zugänglich zu halten, damit man nicht Lösungen auf Probleme anwendet, die in Wirklichkeit nichts miteinander zu tun haben. In diesem Fall ist die Metakognition ein Problematisieren-können. Sie leistet der Ökonomie des Gedächtnisses Widerstand.

Auf diesen Aspekt der Metakognition weisen Kaiser et al. in ihrem Buch Metakognition: Die Neue Didaktik nicht hin. Problematisieren dagegen ist ein wichtiger Aspekt kritischer Arbeit; und insofern die kritische Arbeit auch Reflexion ist, diese aber wieder ein wichtiger Aspekt der Metakognition, offenbart sich hier eine Nachlässigkeit der Autor*innen. Die „Neue Didaktik“ bezieht sich auf problemhaltiges Lernmaterial. So wichtig das ist, so schwierig ist die daraus zu folgernde Schlussfolgerung, dass die Problemhaltigkeit offen zutage treten muss. Das Gegenteil kann der Fall sein.

Emotionale Kompetenz

Ebenso leichtsinnig ist die ebenfalls nur durch die Darstellung behauptete Verknüpfung der Metakognition mit der Kognition. Die Kognition wird gerne als der „rationale“ Teil des Denkens bezeichnet. Er umfasst zum Beispiel die Musterbildung bei der Wahrnehmung, die Begriffsbildung, Problemlösestrategien (selbstverständlich nur die rationalen), und dergleichen mehr.
Dabei wird aber vergessen, dass sich das Denken nicht nur aus kognitiven Abfolgen zusammensetzt, sondern selbstverständlich dabei immer Emotionen im Spiel sind. Bedenkt man, dass ein wichtiger Bestandteil der Metakognition die metakognitiven Strategien sind, findet man dazu ein passendes Gegenstück in den evolutionären Zwecken der Gefühle. Dies hat Plutchik in seinem Buch über Emotionen deutlich beschrieben.
Es ist dementsprechend unsinnig, die emotionale Färbung unseres Denkens in der metakognitiven Praxis unbeachtet zu lassen. Sie muss – und dies hat die populärwissenschaftliche Literatur der letzten zwanzig Jahre wenn auch oft nur in bescheidenem Maße herausgestellt – als emotionale Kompetenz in die metakognitiven Kompetenzen einfließen.
Mit anderen Worten: die Metakognition muss alle Aspekte des Denkens umfassen, nicht nur die kognitiven Muster. Dies sind, in Kürze gesagt, alle Bedürfnisse, Emotionen, Aufmerksamkeitsformen, Motivationstypen und der immer noch recht stiefmütterlich behandelte Teil der Motivation: die Volition, bzw. die Willensbildung.

Fluides Denken

Das fluide Denken – oft auch unter dem Begriff „laterales Denken“ bekannt – umfasst ebenfalls mehrere Aspekte. Es bezeichnet die Fähigkeit, Alternativen zu bilden, Umwege und Abweichungen einzuplanen, mehrere Strategien nebeneinander zu legen, Sachverhalte auf ungewöhnliche Art und Weise zu behandeln oder darzustellen. Bezieht man dies auf ein klassischeres Gebiet der kognitiven Psychologie, so wird man am deutlichsten – wenn auch nicht nur – bei der Analogiebildung fündig.
Die kognitive Psychologie bezeichnet damit eine der zwei Gebiete des Problemlösens. Das andere ist die Mittel-Ziel-Analyse.
Die Analogiebildung besteht nun darin, zwei Muster zu vergleichen und die Gleichheiten und Abweichungen für weitere Denkprozesse „auszunutzen“.
In gewisser Weise nutzt das fluide Denken vor allem frühkindliche Muster des Welterkennens, wie
  • die Übergeneralisierung (d. h. in der Logik die Extrapolation, die ungebührliche Hervorhebung bestimmter Merkmale wie zum Beispiel in der Karikatur),
  • die Konkretion (d. h. das materielle Darstellen nicht-materieller Vorgänge; so zum Beispiel in Ablaufplänen für Denkprozesse),
  • die Abstraktion (das zum Teil zufällige und irrationale Weglassen von Merkmalen) oder
  • das experimentelle Spiel (also das ungewöhnliche, überraschende Zusammenbringen von Phänomenen und Sachverhalten).

Das fluide Denken jedoch unterscheidet sich auch in einem Aspekt von dem kindlichen Experimentieren durch eine höhere Systematisierung, teilweise auch durch eine daran anschließende starke Rationalisierung. Ich weiß nicht, wer dies gesagt hat, doch macht der Satz Sinn: Reine Kreativität verpufft wie reine Energie im Vakuum; und daran angeschlossen hat, dass jeder kreative Akt, bevor er sinnvoll ist, „sozialisiert“, auf seinen sozialen Nutzen überprüft werden muss. Kreativität als in sich und für sich isoliert bliebe "a-sozial", etwas als besonders kreativ zu loben, ohne darin Übergänge in den sozialen Bereich zu entdecken und zu ermöglichen, gleicht einem verweigerten Gespräch.
In der Darstellung von Metakognition wird immer wieder betont, wie wichtig es sei, Alternativen zur Verfügung zu haben. Das Spiel geht mit dem fluiden Denken zusammen. Beiden ist gemeinsam, dass sie zwischen Kreativität und Rationalität vermitteln. Dieser spielerische Charakter muss auch, entgegen vieler Darstellungen, in der Metakognition seinen Platz finden.

Metakognition und metakognitive Kompetenz

In der ganzen Diskussion um Metakognition und metakognitive Kompetenz schleicht sich eine unklare Trennung zwischen diesen beiden Begriffen ein. Metakognition, so sollte man meinen, ist die Bezeichnung für das Gebiet, den Forschungsbereich; die metakognitive Kompetenz dagegen sei die Fähigkeit eines Menschen, entsprechende Verhaltensweisen zu zeigen.
Wir müssen dabei davon ausgehen, dass ein Mensch durchaus hohe metakognitive Kompetenzen zeigen kann, ohne das gesamte Gebiet zu kennen. Ein Forschungsbereich unterliegt anderen Bewertungsmaßstäben als Verhaltensweisen. Stützen lässt sich diese Kluft auch dadurch, dass selbst kleine Kinder schon über ihr Denken nachdenken, und dass selbst erfahrene und lebenskluge Menschen unbedachte Sachen sagen können.

Viel wichtiger aber ist, dass wir uns darüber bewusst werden, dass wir das Forschungsgebiet nicht als Norm in einen Menschen hineinapplizieren können; und dass wir umgekehrt auch immer wieder bereit sein müssen, uns von Menschen überraschen zu lassen, selbst jenen, die von der Metakognition noch nie etwas gehört haben.
Immer wieder erinnere ich mich gerne an jenen Mann und jenes von mir unfreiwillig mitgehörte Telefonat, während dem dieser sagte: „Ich weiß, dass das nicht richtig ist, aber ich fühle mich so.“ In diesem Satz steckt ein großes Stück der Weisheit drinnen, den uns die Metakognition allzu häufig durch lange Listen, Strategiefragen, mehr oder weniger umständliche Grafiken oder pompös untermauerte Forschungen beibringen möchte.

Normierungen

Liest man sich Texte über die Metakognition und vor allem deren Umsetzung in die Praxis durch, fällt einem recht rasch auf, dass diese von mehr oder weniger sinnvollen Rastern durchzogen werden, an denen die Denkprozesse gemessen und beurteilt werden. Es sind, kurz gesagt, Normierungen. Daraus ergibt sich eine überraschende Nähe zur Logik, so wie Immanuel Kant sie begreift:
Wir wollen in der Logik nicht wissen: wie der Verstand ist und denkt und wie er bisher im Denken verfahren ist, sondern wie er im Denken verfahren sollte. Sie soll uns den richtigen, d. h. den mit sich selbst übereinstimmenden Gebrauch des Verstandes lehren.
Kant, Immanuel: Logik. in ders.: Werkausgabe Bd. VI, S. 435
Freilich gehört dazu immer die Überprüfung, sei es in der Metakognition, sei es in der Logik kantscher Provenienz, wie das aktuelle Denken verläuft und inwiefern es von diesen Normierungen abweicht.
Doch darauf möchte ich nicht hinweisen. Vielmehr finde ich bezeichnend, dass die Metakognition auf eine Anpassung des Denkens hinausläuft. Sie ist, zunächst, keine Befreiung des Denkens, sondern versieht dieses mit teilweise sehr harten Auflagen und Disziplinierungen.

Nun könnte man meinen, dass damit die Metakognition als ideologisches Herrschaftsverhältnis entlarvt sei.
Dagegen sprechen allerdings zwei Aspekte. Erstens ist derjenige, der sein Denken reflektieren und steuern kann, besser in der Lage, dieses mit einem „Rückgrat“ zu versehen und sich nicht durch eilfertig herbeigebrachte neue Reize von seinen Vorhaben abbringen zu lassen. Zweitens bietet der Erwerb metakognitiver Kompetenzen eine ganze Reihe an sich mal weniger, mal mehr widersprechende Modelle an, teilweise auch völlig losgelöste, „nomadisierende“ Denkmuster; sodass hier immer wieder Ausweichbewegungen und zum Teil auch ein nicht in den Griff zu kriegendes „Wuchern“ stattfinden kann. Mit anderen Worten: so disziplinierend die Lehre metakognitiver Techniken in einzelnen Phasen auch sein kann, so viel kritisches Potenzial kann sie im Gesamt entfalten.
In den vielen Modellen, die die Psychologie, das Coaching, die Kulturwissenschaften, die Therapeutik, die Ethnologie und die Ethologie, die Geschichtswissenschaften und sogar die Astrologie bieten, um über die Bedingung des Menschen, seiner Kultur und seines Denkens nachzudenken, steckt keine disziplinierende Einheit, sondern geradezu eine bezaubernde und unbeherrschte Buntheit.

Was die „nomadisierenden“ Denkmuster betrifft, so sei nur an den großartigen deBono erinnert. Edward deBono stellt immer wieder bestimmte, höchst abstrakte kleine Werkzeuge in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, die er dann in seinem CORT-Programm zusammengefasst hat (welches mir allerdings unbekannt ist).
Ein solches Muster ist das PMI. Dieses besteht aus einer Tabelle mit drei Spalten, deren erste mit plus (positiv), die zweite mit minus (negativ) und die dritte mit interessant (offen, unentschieden) überschrieben ist. Hier schreibt man, bezüglich eines Erlebnisses, eines Unterrichts, eines Gesprächs, eines Meetings, eines Themas, eines Buches, und dergleichen mehr, alle Gedanken auf, die einem dazu einfallen, teilt diese aber in die entsprechenden Spalten auf.
Viel wichtiger als die konkrete Tätigkeit ist allerdings, dass man sich dieses Muster als Denkraster nach und nach zu eigen macht und schließlich auf das Aufschreiben sogar verzichten kann. Es heftet sich dann relativ automatisch an alle möglichen Begebenheiten. Es ist, wie ich oben bereits zum Rechnen geschrieben habe, überautomatisiert. Es ist Teil unserer Art und Weise zu denken geworden. Zu diesem Lernprozess gehört, dieses Schema eine Zeit lang schriftlich zu fixieren.
Aber noch wichtiger als dieses eine Muster zu nutzen, ist, mehrere dieser Muster vorrätig zu halten. Für sein eigenes Programm hat deBono, wenn ich mich recht entsinne, 64 Muster zusammengestellt. Man kann sich aber auch solche kleinen Denkmuster selbst erfinden, bzw. diese aus allen möglichen Anleitungen heraussuchen, psychologischen Modellen zum Beispiel, nützlich sind hier auch gewisse Schreibratgeber oder Artikel zur Lebenshilfe. Gerade auch Artikel zur Lebenshilfe sind eine ganz wichtige Fundgrube; und ich sage dies vor allem auch mit dem Hintergrund, dass ich solche Artikel ansonsten für recht überflüssig erachte.
Die Muster allerdings, die man daraus hervorbringen kann, sind nichts anderes als kleine Werkzeuge, die nicht besser und nicht schlechter als andere Muster unseres Denkens sind, mit dem einzigen Unterschied, dass wir sie uns bewusst anerzogenen haben und dadurch auch relativ bewusst auf sie reflektieren können. (Siehe dazu als Beispiel eines von mir selbst entworfenen Musters: SWEN.)

Temporalisierung

Ein anderes grundlegendes Problem ist und bleibt die Trennung zwischen Kognition und Metakognition. Genauso, wie Metakommunikation Kommunikation ist, die sich auf andere Kommunikation bezieht, so ist Metakognition grundlegend zunächst einmal eines: Kognition. In der klassischen Logik geraten wir dabei in einen unendlichen Regress. Sinnvollerweise wurde dieser unendlichen Regress zwar nicht als unmöglich, aber zumindest als eine äußerst schwache, weil nie zu Ende zu bringende Form der Reflexion bezeichnet. Denn wir könnten uns natürlich genauso wieder über die Metakognition Gedanken machen, gerieten so in eine Meta-Meta-Kognition, die wiederum für eine Metakognition bereit stünde, und so fort, ohne dass ein Ende abzusehen wäre.

Nun hat die modernere Logik, gestützt auf die Evolutionstheorie, eine andere Möglichkeit entdeckt, aus diesem Spiel auszusteigen: durch die Temporalisierung. Die Temporalisierung vermeidet die Paradoxie nicht, dass sich die Metakognition auf sich selbst beziehen könnte, sondern stellt schlichtweg fest, dass sich die derzeitige Metakognition immer auf eine vorzeitige Kognition bezieht, selbst wenn sie diese dann in die Zukunft projiziert, um Lösungswege zu planen. Die einzelnen Elemente dieses Lösungsweges und Erfahrungen mit solchen Planungen müssen immer schon in der Vergangenheit gesammelt worden sein und in der Gegenwart, in der ich meine metakognitiven Kompetenzen anwende, bekannt sein.
Alles weitere, die endgültige Qualität einer metakognitiven Planung, Steuerung und Kontrolle der Denkstrategien überlässt man dann einfach auch den Zufälligkeiten ihres Erfolges, und nimmt sozusagen die Beulen und Kratzer in Kauf, die auch die schönste Planung in ihrer Ausführung erfahren muss.

Ich will damit nicht gegen metakognitive Fertigkeiten sprechen, auch nicht gegen die zum Teil erstaunlichen Ergebnisse, die metakognitive Trainings bewirken; aber vor einem Allmachtsglauben warne ich. Am Ende gibt es auch noch in jedem so umsichtigen Projekt größere oder kleinere blinde Flecken. Sie stammen nicht nur aus den nicht vorherzusehenden Bewegungen, denen jedes Projekt in der Realität ausgesetzt ist, sondern eben auch aus dem fruchtlosen Bemühen, etwas wirklich zu Ende denken zu können.

Ästhetische Techniken

Zum Schluss sei noch einmal darauf hingewiesen, dass jede metakognitive Fähigkeit darauf angewiesen ist, die Wirklichkeit gut zu beschreiben. Deshalb gehören sinnvollerweise zu diesen Fähigkeiten auch Techniken, den ersten Eindruck zu hinterfragen. Dafür sind klassischerweise ästhetische Techniken zuständig. Sie bilden nicht nur das fachliche Feld ab, sondern reduzieren es, verfremden es, reichern es mit neuen Perspektiven oder mehr oder weniger zufälligen Elemente an; sie bilden, wenn auch nicht in der Form großer ästhetischer Strömungen (Naturalismus, Impressionismus, Kubismus, etc.), so doch im kleinen eine enge Verknüpfung zwischen ästhetischer Form, ästhetischer Technik und der Grundlage (dem sogenannten Original).
Dies gilt auch für die Metakognition selbst. Indem ich die Kognition zu denken lerne, mache ich sie erkennbar, und indem ich sie erkennbar mache, mache ich sie einer ästhetischen Praxis zugänglich. Dies allerdings ist ein weites Feld – und man verzeihe mir, wenn ich mir die Unkenrufe verbitte, dies habe der Vater von Effi Briest genauso gesagt, um daraufhin ja nicht weiter zu denken.