16.04.2019

Warum mit Phrasen Schluss sein muss.

Kissler beginnt sein Buch Widerworte mit einer Phrase - "Warum mit Phrasen Schluss sein muss".
Danach betreibt er mal Haarspalterei, mal Phrasendrescherei. So wird die Metapher "Wurzel", die Steinmeier in einer Rede verwendet ("Respekt vor der Vielfalt unserer Wurzeln"), wörtlich, also, wie Kissler selbst sagt, botanisch genommen. Nicht, dass eine Metapher unkritisch sei. "Die Metapher verschließt das Ende eines Symptoms" schreibt der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan; nur, und dies muss man eben mitlesen, kann man diesem Symptom nicht dadurch beikommen, indem man die Metapher zur Nicht-Metapher erklärt, sondern indem man das Symptom freilegt.
Umgekehrt prangert er Gündogan an, wenn dieser von der Heimat seiner Eltern spricht, damit das türkische Dorf meint, in dem diese herangewachsen sind, und nicht der Ort, an dem sie seit vierzig Jahren in Deutschland leben. Kissler mutet einem Alltagsbegriff plötzlich eine philosophische Strenge zu, die er selbst nicht einzuhalten vermag. Daraus zieht er dann weitreichende und fast schon die Personen denunzierende Schlüsse. Vielleicht sind aber Fußballer einfach nicht die hellsten Köpfe. Vielleicht ist dieser Faux-pas, der zum Skandal hochgebauscht wurde, jene Gedankenlosigkeit, mit der manche Menschen durch die Welt schwirren.
Was ist eine Phrase? Kissler schreibt, schön metaphorisch übrigens: ein Stoppschild, das dem langen Nachdenken von Beginn an im Weg stünde. Bloy, den er aus einer etwas befremdlichen deutschen Ausgabe zu zitieren scheint, schreibt, dass "der authentische und unhinterfragte Bourgois in seiner Sprache notwendig auf eine sehr kleine Anzahl von Formeln beschränkt sei" ("l’authentique et indiscutable Bourgeois est nécessairement borné dans son langage à un très-petit nombre de formules", tome VIII, p. 7). Nicht Stoppschild ist die Phrase bei Bloy, sondern Ergebnis eines Daseins, das "nicht einen einzigen Tag durch die Sorge erschüttert wurde, etwas zu verstehen, was auch immer es sei" ("paraît vivre sans avoir été sollicité, un seul jour, par le besoin de comprendre quoi que ce soit"). Fehlende Sensibilität, fehlender Ehrgeiz, fehlendes Mitgefühl sind die Ursachen der Phrasen; die Phrase selbst nur deren sprachliche Erscheinung.
Diese verdrehte Argumentation zieht sich, als Phrase, durch das Buch von Kissler hindurch; sein Lamento von der Hohlheit wird gebetsmühlenhaft wiederholt, wie seine Mär vom Linksruck einer doch eigentlich neoliberalen Bundesregierung. Aber Bloy meint eben, was schon Kant in seinem Aufsatz zur Aufklärung geschrieben hat: dass der Pinsel (also der sich nicht aufklärende Mensch) sich von fremder Hand führen ließe. Und genau das überwindet Kissler nicht. Im Gegenteil. Nicht einen Moment verharrt er auf einem Phänomen, bricht es auf, wägt es ab; es sorgt ihn nicht. Das ist im Schweinsgalopp querfeldein zu hetzen, das ist dann sogar noch schlechte Philologie.
Die Phrase aber gründet auf dem unscharfen Begriff, im schlimmsten Fall auf der Tautologie. "Geschäft ist Geschäft" zitiert Kissler Bloy (im Original: "Les affaires sont les affaires"). Wollte man der Phrase entkommen, müsste man ihr den schwankenden, unscharfen Charakter nehmen, den darin enthaltenden Begriff scharf stellen, ihn diskutieren und vertiefen, die Logik auf eine argumentative Vernetzung umstellen. Vor allem aber müsste man dem Leser Regeln an die Hand geben, wie er selbst der Phrase entkommt. Den der anderen, vor allem aber seinen eigenen.
Das macht Kissler aber nicht. Das kann er auch nicht. Das konnte er nie, und - das steht zu befürchten - wird er auch nie können. Wollte Kissler aber tatsächlich mithelfen, die Phrasen aus der Welt zu schaffen, müsste er zu schreiben aufhören. Oder sorgfältig zu denken anfangen. Ersteres wäre von schnellerem und sichererem Erfolg gekrönt.

Und die Lengsfeld

Angepriesen wird das Buch dann auch von Vera Lengsfeld auf dem Blog der notorischen Nörgler, Ach gut. Was sie in der Überschrift so provokativ heraushebt, dass sich nämlich Politikversager in die Phrase flüchteten, scheint nur für andere zu gelten. Lengsfeld, die laut eigener Aussage, "nur zum Spaß" in den Bundestag gegangen ist, kann vor allem eines: die Schuld und die Pflicht, sich zu ändern, beim anderen zu finden, beim politischen Gegner.
Was sie hinzuzufügen hat, ist wenig. Neu an ihren Aussagen ist nichts. Die Klage, die Politik der Regierung sei stumpf, farblos, widersinnig, ist auch ihr zur Phrase geworden, die sie mal ums mal wiederkäut. Denken, also sich in neues Terrain vorzuwagen, sich einer anderen Stimme anzuvertrauen und ihr lange, im Guten und Schlechten, zuzuhören, das schafft auch Lengsfeld nicht.

Nein, ich werde keine Jubelrufe über die derzeitige Politik ausstoßen. Dazu gibt es keinen Grund. Aber man muss sich nur ansehen, was die Journaille von rechts fabriziert. Das ist doch kein Gegensatz. Da ist noch nicht einmal ein deutlicher Kontrast. Im Argument, sofern man ein solches findet, werden einige, wenige Wörter ausgetauscht. Wörter wohlgemerkt, nicht Begriffe. Mehr ist es nicht.
Eigentlich wollte ich nicht mehr schreiben, bis ich einige für mich drängende Fragen gelöst habe. Ein Jahr habe ich mir dafür Zeit gegeben, ein Jahr ist gut geschätzt. Doch im Moment läuft so vieles falsch: die Diskussion über den Genderstern wird mit Argumenten abgewürgt, die das Problem nicht richtig erfassen. Es ist nicht das generische Maskulinum, was daran schwierig ist, sondern die Polyfunktionalität von Sprachelementen. Es werden Argumente gegen Schüler*innen vorgebracht, die keine Antwort auf die dringenden Fragen des Klimawandels sind, sondern nur ein Schlag ins Gesicht unserer Jugend. Der Rechtsstaat wird von Rechtsradikalen unterwandert, und die relativ offene Gesellschaft von dogmatischen und Gewalt ausübenden Männern und Frauen bedroht. Doch selbst in Deutschland scheint das kaum jemanden zu stören.
Das Nichtssagende eines Kisslers, einer Lengsfeld, eines Broders sind Teil dieses Symptoms. Es ist eine Verarmung des Denkens, die nur durch "Selbstdisziplin" und eine breite, geduldige Denkerfahrung zu überwinden wäre.
Und damit kehre ich zurück zu meiner Selbstdisziplin.