22.07.2016

Deutsche Tugenden

Mäßigung und Wissenschaftlichkeit sind doch auch irgendwie deutsche Tugenden, hoffe ich.
Just an mir vorbeigegangen ist, was in München passiert. Ich hatte zwar Twitter geöffnet, aber über eine Stunde nicht mehr hinein gesehen.
Ich wünsche mir: Mäßigung. Das immerhin ist noch eine ciceronische Tugend, vielleicht auch eine von Kant. Ethos, so lautet der alte, griechische Begriff. Er ist dem Pathos gegenübergestellt. Insgesamt bezeichnet er eine Tendenz, zu was in einer Rede aufgerufen wird, ist also ein Begriff aus der Rhetorik.
München! Bedenkt man, wie wenig Menschen Terroranschläge begehen, ist die Aufregung unverständlich. Eher sollte man doch Autos des Landes verweisen. Oder wackelige Stühle.
Natürlich werden diese Anschläge in München, samt den Opfern, politisch instrumentalisiert. Das lässt sich wohl kaum vermeiden. Von etwas eine Meinung zu haben bedeutet zwangsläufig, der Tatsache etwas hinzuzufügen. Wie anders könnte man aber auch in der Gesellschaft über Tatsachen reden? Wie anders ließen sich Tatsachen auch als soziale Ereignisse verstehen?
Ich hatte schon vor langer Zeit geschrieben, dass sich Terroranschläge in Deutschland wohl nicht werden vermeiden lassen. Allerdings bezweifle ich, dass diese etwas mit den Flüchtlingen zu tun haben. Ich möchte doch behaupten, dass Terroristen, die in Deutschland Terroranschläge verüben wollen, so oder so nach Deutschland kommen werden, ob versteckt in Flüchtlingsströmen oder nicht. Das beste Beispiel sind die Anschläge vom 11. September. Die Täter haben sich nachweislich über längere Zeit in Deutschland aufgehalten und zum Teil auch von hier aus die Anschläge geplant.
Deshalb beunruhigen mich diese vielen greifbaren völlig verdrehten Kommentare in den social medias zu dem angeblichen Deutschtum und der deutschen Kultur viel mehr. Natürlich möchte ich nicht, dass Menschen getötet werden, in wessen Namen auch immer. Aber die deutsche Kultur abschaffen werden die Islamisten nicht; so wie es zur Zeit aussieht, braucht man dazu nur eine größere Menge an deutschen Deppen.

Zu rasch ...

Eben habe ich einen Artikel veröffentlicht, den ich noch gar nicht veröffentlichen wollte (und jetzt wieder gelöscht). Aus einer Laune heraus hatte ich diesen vor anderthalb Wochen angefangen und dann immer wieder daran weiter gearbeitet. Im Kern ist er stimmig, aber in seinem Ablauf nicht differenziert genug.
Er wird wohl, wie viele meiner Artikel im letzten Jahr, in der Versenkung verschwinden, bis ich meine Position so weit überdacht habe, dass ich ihn werde anders schreiben können.
Zwischendurch sind mir eben auch ganz andere Sachen unter die Finger gekommen. JavaScript (mal wieder), der Putsch gegen Erdogan (obwohl ich diesen nur ganz halbherzig verfolgen konnte), und immer wieder diese politischen Kommentare. Darum ging es in dem gelöschten Artikel vornehmlich. Es ist unglaublich, was sich dort die Menschen teilweise an einer komplett widersinnigen Umschreibung der Geschichte leisten. Den einen oder anderen müsste man wirklich anzeigen.
Nun, ich habe besseres zu tun. Thema des Artikels war (und ist) das unablässige Selbstbewusstsein und die Flucht davor. Es fügt einigen Themen, die ich in den letzten Jahren bearbeitet habe (Langeweile, Gefühlslosigkeit), noch einmal einen neuen Aspekt hinzu. Was ich derzeit schmerzhaft vermisse: ich hatte mir letzten Jahr zwei weitere Bücher von Leon Wurmser gekauft. Die Maske der Scham besitze ich seit 25 Jahren. Ich komme aber nicht dazu, diese Bücher zu lesen. Ich habe in einigen geblättert. Gerade jetzt wünsche ich mir, ich hätte dazu die Zeit. Ich bin kein großer Freund der Psychoanalyse, aber Wurmser habe ich immer als anregend gefunden, wenn es um die Betrachtung komplexer psychosozialer Zustände ging. Ein andermal vielleicht.

14.07.2016

Zeugnisse und Datenbanken

In den letzten drei Wochen bin ich nicht mehr zum Programmieren gekommen; ich habe auch kaum ein Buch angefasst, jedenfalls kein Buch, das mit Philosophie oder Literatur zu tun hätte. Selbst meine Anmerkung über Kant habe ich nur aus dem Zettelkasten herausgezogen.

Datenbanken entwerfen

Ohne es direkt zu wissen habe ich angefangen, eine Datenbank zu entwerfen. Nein, eigentlich habe ich nur Daten so strukturiert, dass sie möglichst einfach und flexibel einsetzbar sind. Ziel ist ein Programm, dass mir meine Lernprozesse strukturiert und übersichtlich macht, ein Kanban für Autodidakten.
Vor einigen Wochen habe ich mir auch ein Buch über Datenbanken gekauft. Jetzt hätte ich gerne Zeit, mir dieses Buch intensiver anzuschauen. Noch fehlt mir die Zeit, aber bin mir ziemlich sicher, dass ich in den nächsten Tagen dazu kommen werde.

Zeugnisse schreiben

Heute habe ich dann doch noch programmiert, sogar eine kleine Datenbank.
Seit Tagen sitze ich über den Zeugnisnoten meiner Schüler. Nicht, dass die Noten nicht feststehen würden. Aber ich warte noch auf irgend ein Zeichen, das diese Noten zu ehrlichen Beschreibungen meiner Schüler macht. Dieses Zeichen ist bisher ausgeblieben.
Nein, ich mag solche einfachen Noten nicht. Sie beschreiben keineswegs die Qualitäten meiner Schüler, keinerlei Tendenzen, eigentlich gar nichts. Ein Samenkorn beschreibt die fertige Pflanze besser als eine Note die Schülerarbeiten. Ich habe also ein wenig gelitten.
Vielleicht hätte ich während meines Studiums nicht so sehr mit dem philosophischen Unterschied von Qualität und Quantität beschäftigen sollen. Sie verleidet einem doch jegliche Quantifizierung psychologischer Phänomene.

Ein rasches Programm

Trotzdem habe ich mir heute noch schnell ein Programm geschrieben, welches mir die Noten zusammen rechnet und strukturiert ausgibt. Besonders wichtig war mir das im Fachbereich Deutsch. Dort gibt es vier Noten auf dem Zeugnis, drei Teilnoten und eine Gesamtnote. Zudem muss man die mündlichen und die schriftlichen Noten unterschiedlich gewichten. Und da die drei Teilnoten zum Teil aus schriftlichen und zum Teil aus mündlichen Noten zusammengesetzt sind, kann man nicht einfach die Teilnoten zusammenrechnen. Da ist ein kleines Programm schon recht sinnvoll.
An meinen von Hand ausgeführten Berechnungen hat sich zwar nichts geändert, aber zumindest weiß ich jetzt, dass ich richtig gerechnet habe.
An meinem grundsätzlichen Vorbehalt gegenüber den Noten hat sich aber nichts geändert. Der Zweifel bleibt.

11.07.2016

Berlin. Stadt der Frauen

So kann man es derzeit auf einem Plakat lesen. Darunter steht:
Nur noch bis zum 28.8.2016.
Danach ist Berlin nicht mehr Stadt der Frauen, oder was?
Das ist fast so schön wie die Widmung unter Benjamins Trauerspiel.

08.07.2016

Kant zur objektorientierten Programmierung

Das soll natürlich ein wenig provozierend sein, aber tatsächlich nur ein ganz klein wenig. Dass Kant sich nicht zur objektorientierten Programmierung geäußert hat, nicht direkt, dürfte klar sein. Trotzdem lassen sich bestimmte Gedanken Kants auf die Philosophie des modernen Programmierens übertragen.

Das Objekt im objektorientierten Programmieren

Die Kunst des objektorientierten Programmierens besteht darin, ein Objekt (meistens aber ziemlich viele) zu erschaffen, das in irgend einer Art und Weise der Realität entspricht. Ein Objekt ist zunächst eine Art Schablone, man nennt dies auch Klasse, aus der dann ein konkretes Objekt (auch Instanz genannt) erzeugt wird.
Nehmen wir zum Beispiel eine Klasse an, die ganz allgemein Bücher „repräsentieren“ soll. In dieser Klasse legt man bestimmte Datensätze fest, die wie eine Schablone wirken: interessant wäre zum Beispiel der Autor, der Titel, der Preis, die Seitenzahl, der Verlag. In der Klasse werden diese Datensätze festgelegt, ohne dass sie aufgefüllt werden. Erschafft man eine Instanz von einer solchen Klasse, dann wird zum Beispiel als Autor Immanuel Kant angegeben, Titel wäre Kritik der praktischen Vernunft, der Preis beliefe sich auf zehn Euro, die Seitenzahl auf 302, und der Verlag wäre der Suhrkamp-Verlag in Frankfurt am Main.

Abstraktion entlang des Gebrauchs

Allerdings schleicht sich in eine solche Klasse und ein solches Objekt bereits die Abstraktion massiv ein. Wollte man ein Buch wie die Kritik der praktischen Vernunft so real wie möglich beschreiben, dann wäre es notwendig, auch den gesamten Text (der ja das eigentlich interessante an diesem Buch ist) in der Instanz zu speichern. Die Instanz, und damit auch die Klasse, bräuchte also ein weiteres, wahrscheinlich ziemlich komplexes Datenobjekt, welches den Text abspeichern würde.
Das reduzierte Objekt, welches ich zunächst vorgeschlagen habe, ist eindeutig nicht an dem Objekt selbst gewonnen worden, sondern an dem Interesse eines möglichen Konsumenten.
Damit entpuppt sich die Rede davon, dass das programmierte Objekt ein reales Objekt abbilde, als eine sehr schlampige Darstellung. Tatsächlich bildet das Objekt vor allem den Gebrauch ab; es ist also keineswegs die Abbildung eines Gegenstandes, sondern einer begrenzten Anzahl von Handlungen. Damit bildet es auch nicht ein Stück meist physikalisch gedachter Welt ab, sondern ein Stück subjektiven Bedürfnisses. Anders ließe sich auch gar nicht erklären, dass sämtliche Fantasy-Spiele, die es auf dem Markt gibt, objektorientiert programmiert sind. Hier wird, über den Gebrauch, eine Welt erschaffen und eben nicht abgebildet.

Kants Objekte

Immanuel Kant hat sich die Objekte als Sinnesdaten gedacht, die durch das Wirken der Vernunft in eine idealisierte Form gebracht werden. Der Weg, den jegliche sinnliche Mannigfaltigkeit zum idealisierten Objekt geht, ist der der Abstraktion. Wie auch immer sich Kant das dann genau gedacht hat, so bleibt doch festzustellen, dass das Objekt nicht gemäß der Prinzipien der Realität, sondern denen der Vernunft konstruiert wird, also nicht entlang von naturwissenschaftlichen Gesetzen, sondern von subjektiven, spontanen Formen.
So muss auch die objektorientierte Programmierung den Benutzern gehorchen. Dies ist, auf der einen Seite, natürlich derjenige, der das Programm später gebraucht. Zuallererst aber werden diese Objekte von dem Programmierer selbst benötigt, und so sind sie auch zuallererst Konstrukte des Programmierers. Die Kundenfreundlichkeit eines Programms besteht dann ja auch aus dem Zusammenwirken zahlreicher Objekte, bzw. deren Instanzen.

Hilfs-Ich

In der Psychoanalyse beschreibt man mit dem Begriff des Hilfs-Ichs ein Objekt, welches zwischen den Triebregungen des Subjekts und den „objektiven“ Anforderungen der Umgebung vermittelt, wenn die Anpassung schwierig oder gestört ist. Dies scheint mir auch eine ganz gute Darstellung der Leistungen zu sein, die Objekte bieten. Jedes Programm ist ein Werkzeug, welches dem Benutzer bestimmte Arbeiten vereinfachen soll. Anders beschrieben passt es die Bedürfnisse des Benutzers an eine sonst zu komplexe Realität an. Damit übernimmt das Programm die Funktionen eines Hilfs-Ichs und könnte demnach auch mit solchen Begriffen beschrieben werden.
Damit wäre es möglich, die gesamte Philosophie der objektorientierten Programmierung auf eine andere Basis zu stellen.

04.07.2016

Freiheit des Willens

Dass der Wille ein hübsches, aber schwierig zu fassendes Ding sei, das hatte ich, glaube ich, schon einmal erwähnt. Erwähnt hatte ich irgendwo auch, dass mich der Begriff der Natalität, so, wie er bei Hannah Arendt vorkommt, sehr interessiert. Natalität, das bedeutet, wenn ich hier so ins Grobe sprechen darf, das Vermögen, etwas neu anzufangen.

Uns ist ein Kind geboren

Jesus von Nazareth

Neben vielem anderen durchstreife ich in den letzten Monaten meine Aufzeichnungen zu Derridas Vorlesung über die Geste des Verzeihens. Im fünften Kapitel von Arendts Vita Activa, dem Kapitel über das Handeln, merkt Arendt an:
Im Unterschied zum Verzeihen, das im Politischen niemals ernst genommen worden ist, schon weil es in einem religiösen Zusammenhang entdeckt und von ›Liebe‹ abhängig gemacht wurde, hat das Vermögen, Versprechen zu geben und zu halten, und die ihm innewohnende Macht, das Zukünftige zu sichern, in der politischen Theorie und Praxis, wie sie uns aus der Überlieferung entgegentreten, eine außerordentliche Rolle gespielt. (S. 311)
Am Ende setzt Arendt dann das Schwergewicht des menschenwürdigen Daseins auf das Verzeihen, nicht auf das Versprechen.
Dass es in dieser Welt eine durchaus diesseitige Fähigkeit gibt, »Wunder« zu vollbringen, und dass diese wunderwirkende Fähigkeit nichts anderes ist als das Handeln, dies hat Jesus von Nazareth … nicht nur gewusst, sondern ausgesprochen, wenn er die Kraft zu verzeihen mit der Machtbefugnis dessen verglich, der Wunder vollbringt, wobei er beides auf die gleiche Stufe stellte und als Möglichkeiten verstand, die dem Menschen als einem diesseitigen Wesen zu kommen. (S. 316)

Natalität

Kurz darauf bezeichnet Arendt die Tatsache der Natalität als das Wunder, das den Gang der menschlichen Dinge „vor dem Verderben rettet“. Das »Wunder« bestehe darin,
dass überhaupt Menschen geboren werden, und mit ihnen der Neuanfang, den sie handelnd verwirklichen können kraft ihres Geborenseins. (S. 317)
Wie sehr dieser Neuanfang den Geburtsstatistiken widerspricht, wird deutlich, wenn man den Neugeborenen nicht als animal laborans, sondern als zoon politikon begreift:
Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen –, d.h., in der Erfahrung des Lebens, die vorgeprägt ist von den Prozessabläufen, die ein Neuanfang unterbricht –, immer wie ein Wunder an. Die Tatsache, dass der Mensch zum Handeln im Sinne des Neuanfangens begabt ist, kann daher nur heißen, dass er sich aller Absehbarkeit und Berechenbarkeit entzieht, dass in diesem einen Fall das Unwahrscheinliche selbst noch eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, und dass das, was »rational«, d.h. im Sinne des Berechenbaren, schlechterdings nicht zu erwarten steht, doch erhofft werden darf. (S. 216 f.; siehe dazu auch Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, S. 81 f.)

Willensfreiheit

Die dritte Antinomie

In seiner transzendentalen Dialektik behandelt Immanuel Kant den Streit um den freien Willen, was er auch als spekulative Vernunft bezeichnet. Dies soll uns an dieser Stelle nicht allzu sehr interessieren. In seinem Beweis führt Kant kein moralisches, sondern ein mathematisches Argument ins Feld. Die Kausalität sei, wenn man dies recht bedenke, der Vollständigkeit verpflichtet. Nun würde man aber, wenn man den Zuständen rückwärts in die Vergangenheit folgen würde, nicht nur der Zustand selbst, sondern auch dessen Kausalität kausal verursacht sein müssen, sodass sich, je weiter man in die Vergangenheit reist, das kausale Prinzip stetig verkomplizieren würde, bis eben keine Vollständigkeit mehr möglich sei. Und damit widerspreche sich das kausale Prinzip selbst (vgl KdrV B 474).

Die Freiheit zu handeln

In den Anmerkungen zu dieser dritten Antinomie nennt Kant das Vermögen, eine Reihe in der Zeit anzufangen, als prinzipiell bewiesen, aber nicht als eingesehen. Man muss also davon ausgehen, dass es möglich ist, etwas Neues zu beginnen. Wie dies aber genau funktioniere, sei noch nicht begriffen.
Dann nimmt er einen Einwand vorweg, den ich für bemerkenswert halte:
Man lasse sich aber hierbei nicht durch einen Missverstand aufhalten: dass, da nämlich eine sukzessive Reihe in der Welt nur einen komparativ ersten Anfang haben kann, indem doch immer ein Zustand der Dinge in der Welt vorhergeht, etwa kein absolut erster Anfang der Reihen während dem Weltlaufe möglich sein. Denn wir reden hier nicht vom absolut ersten Anfang der Zeit nach, sondern der Kausalität nach. (KdrV B 478)
Was Hannah Arendt als unendlich Unwahrscheinliches bezeichnet, wird bei Kant bewiesen, indem es mathematisch notwendig, aber ästhetisch undurchdrungen dargestellt wird. Kant zeigt sich auch in der Darstellung selbst als abstrakter. Bei Arendt ist es der Mensch, der etwas Neues anfängt, und bei ihr wird dies an die politische Daseinsweise des Menschen zurückgebunden. Der alte Königsberger dagegen sieht hier nur eine Art Nullpunkt der Kausalität.

Unbedingte Kausalität

Kurz zuvor spricht Kant von der Freiheit des Willens, als einer absoluten Spontanität der Handlung, oder, wie wir heute wohl recht missverständlich lesen werden, einer unbedingten Kausalität. Wie ich oben erläutert habe, hat Kant die vollständige Bedingtheit der Natur (und damit auch des Menschen) durch einen negativen mathematischen Beweis außer Kraft gesetzt. Wäre dem nicht so, dann wäre alles in der Natur bedingt, aus einem vorhergehenden Zustand erzwungen. Wir können jenes ›unbedingt‹ also nicht als das verstehen, als was wir es heute verstehen, nämlich als genaues Gegenteil, als gnadenlos, notwendig, unerbittlich. Die unbedingte Kausalität ist eine, die von nichts verursacht wurde. Es ist geradezu die Paradoxie einer Kausalität, nämlich einer Wirkung ohne Ursache, die erst dann, im weiteren Verlauf, wie eine Kausalität aussieht. (Hier ist an die Stoiker zu denken, die die Ursachen als sich unter einander bedingend, und die Wirkungen als sich unter einander bewirkend darstellen, während die Ursachen und die Wirkungen gerade nicht kausal zusammenhängen. Dies ist eine Denkweise, die dem modernen Menschen komplett widerspricht.)

Verantwortbare Kausalität

Das Problem schildert Kant dann so:
Dasjenige also in der Frage über die Freiheit des Willens, was die spekulative Vernunft von jeher in so große Verlegenheit gesetzt hat, ist eigentlich nur transzendental, und gehet lediglich darauf, ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von sukzessiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen. (KdrV B 476)
Hier ist anzumerken, dass Kant sich im Laufe seiner folgenden Werke immer wieder an diesem Vermögen abgearbeitet hat. Man müsste zum Beispiel die Kritik der teleologischen Urteilskraft, einem Teil der Kritik der Urteilskraft, zu nennen. Es ist klar, warum die Willensfreiheit dort eine so große Rolle spielt, setzt sich der Wille doch ein Ziel, ohne auf eine Kausalität zurückgreifen zu können. Pragmatisch gesehen argumentiert man immer mit einem vorher/nachher. Was die Willensfreiheit allerdings so schwierig macht, ist, dass sie auf ein solches vorher verzichten muss. Ihr lastet also die Gesamtheit der Verantwortung für den Ursprung einer Kausalität an.

Praktische Vernunft

Recht quer zur Bestimmung der Willensfreiheit steht bei Kant dann die Definition des Willens selbst. Diese Definition vollzieht er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten in drei raschen, dogmatisch wirkenden Schritten. Zunächst bestimmt er die Wirkung des Naturdings nach Gesetzen. Das Naturding ist diesen Gesetzen unterworfen. Es kann sich nicht subjektiv zu ihm verhalten und es nicht objektiv erkennen. Erst das vernünftige Wesen bringe die Voraussetzung mit sich, Subjekt und Objekt zu trennen, und eine Handlung als subjektiv und objektiv notwendig zu erkennen. Dies sei aber nur gegeben, wenn die Vernunft den Willen bestimmt. Wie aber ist das dem vernünftigen Wesen (Kant redet nicht von Menschen) möglich? Nun, es besitzt ein Vermögen, nicht nach den Gesetzen selbst, sondern nach der Vorstellung der Gesetze zu handeln. Die Vorstellungen der Gesetze nennt Kant Prinzipien, und das Handeln nach diesen Prinzipien sei der Wille.
Die Stelle bei Kant – in Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – lautet dann so:
Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen. Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln, oder einen Willen. Da zur Ableitung der Handlungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anders, als praktische Vernunft. Wenn die Vernunft den Willen unausbleiblich bestimmt, so sind die Handlungen eines solchen Wesens, die als objektiv notwendig erkannt werden, auch subjektiv notwendig, d. i. der Wille ist ein Vermögen, nur dasjenige zu wählen, was die Vernunft, unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt. (GMS, BA 37)

Der heilige Wille

Ich möchte nicht jedem Gedankengang und jeder Klippe dieser Definition nachgehen. Kant selbst bestimmt die Ambivalenz seiner Definition sehr gut. Zunächst sagt er, dass die Vernunft dem Willen (oftmals) nicht genüge, sodass dieser objektiv notwendig, aber subjektiv zufällig sei. Demnach werde der Mensch zu seinem Willen genötigt.
Den guten Willen setzt er mit dem göttlichen, bzw. dem heiligen Willen gleich. Dieser stünde zugleich unter den objektiven Gesetzen des Guten, würde durch diese Gesetze aber nicht genötigt, weil zugleich die Prinzipien seines Handelns durch die Vorstellung des Guten bestimmt würden.
Ein solcher Wille sei nicht von Geboten, Kant nennt diese auch Imperative, abhängig, welche einen Willen erzwingen, sondern wolle von sich aus das Gesetz. Imperative dagegen würden darauf hinweisen, dass die objektiven Gesetze auf eine ›subjektive Unvollkommenheit des Willens …, zum Beispiel des menschlichen Willens‹ stoßen.

Zwei Anmerkungen

Vielleicht stößt sich der eine oder andere Leser an dem Begriff objektiv. Tatsächlich sind Subjekt und Objekt bei Kant deutlich anders besetzt, und auch objektiv und subjektiv stehen nicht für real, bzw. emotional und persönlich, wie man dies heute gerne versteht. Objektiv ist der Erkenntnisinhalt, der gerade dadurch, wenn man nur ihn ins Auge fasst, besonders trügerisch ist. Weshalb der Akt der Erkenntnis, das Subjektive, viel gewisser zu erkennen ist.
Auffällig an der eben zitierten, bzw. umschriebenen Passage ist, wie und an welcher Stelle der Mensch auftaucht. Zunächst bezieht Kant seine Ausarbeitung nur auf ein vernünftiges Wesen, welches eines guten oder eines nicht ganz so guten Willens fähig sei. Erst in dem Moment, wenn es darum geht, die Unvollkommenheit des Willens durch ein Beispiel zu illustrieren, nennt er den menschlichen Willen. Diesen hatte er kurz zuvor dem heiligen oder göttlichen Willen gegenübergestellt.

Glückseligkeit

Stellt man diese beiden Anmerkungen zusammen, dann ist der unvollkommene Wille zugleich der subjektiv zufällige. Ein solcher Wille „scheitert“ daran, dass er nicht gemäß seiner eigenen Prinzipien handeln kann. In gewisser Weise beerbt Kant hier noch Aristoteles, bei dem die Glückseligkeit darin bestand, so zu handeln, wie man spricht, und so zu sprechen, wie man handelt, in einer Art vollendetem psychophysischen Parallelismus. Glückseligkeit war das höchste zu erringende Gut des tugendhaften Menschen, und soweit ich Aristoteles verstanden habe, hat sich diese Glückseligkeit des Tugendhaften dadurch steigern lassen, indem er unter anderen Tugendhaften lebt. (Was natürlich auch bedingt, dass das höchste Gut gelegentlich nicht ganz so hoch ist, zumindest der Steigerung noch fähig sei.)

Die Aufhebung der Willensschwäche im Pragmatisch-Spekulativen

Dem möchte ich noch einen letzten, recht spekulativen Absatz zufügen. Er wäre nun das, weswegen ich diesen Artikel lieber doch nicht geschrieben hätte.
Tatsächlich könnte dies sogar verrucht sein, was ich hier versuche. Denn nach Kant ist der Wille genau dann ein guter, wenn er sich gemäß des objektiv und subjektiv Notwendigen verwirkliche, also kategorisch wird und nur aus sich heraus handelt. Der kategorische Imperativ ist einer, der keinen Zweck über sich selbst hinaus hat, und man lese dies parallel zum interesselosen Wohlgefallen, der großen Kunstwerken eigen ist. Man könnte von einer pflichtlosen Pflicht sprechen. Trotzdem scheint die pflichtlose Pflicht nicht ganz makellos zu sein.
Sie betrifft allerdings nicht den Ursprung eines solchen Willens, der gemäß Kant die Nichtkausalität in die Kausalität einführt, sondern die Beliebigkeit, wie diese Kausalität weitergeführt wird. Sie ist, und dies ist meine Spekulation, durch eine ganz andere mathematische Unvollkommenheit bedroht, nämlich der, nur einmal, und nur situativ, einen solchen Neuanfang neu anfangen zu können. Der kategorische Imperativ scheitere daran, dass er im Akt der Willensfreiheit auf die Zufälle der Weiterführung trifft. Plastischer gesagt scheitert er daran, dass er nicht zugleich mit allen Menschen diesen Neubeginn wird teilen können und dass er nicht von allen Menschen aufgenommen werden kann. Der kategorische Imperativ scheitert am sozial Erhabenen, an der schieren Menge von Menschen.
So bleibt die Willensfreiheit immer nur eine Willensfreiheit auf Probe, und der kategorische Imperativ, der für sich selbst subjektiv und objektiv notwendig ist, zeigt seine Notwendigkeit immer nur einer begrenzten Anzahl von Menschen. Der Imperativ muss, will er nicht solipsistisch den Prinzipien den Vorrang vor seiner Verwirklichung geben, pragmatisch bleiben, und d.h. in diesem Falle spekulativ, denn was mit dieser Verwirklichung anderswo geschehen wäre, entzieht sich der empirischen Wahrnehmung; die Kausalität, die der Nichtkausalität folgt, wird nur dort tatsächlich (d.i. empirisch), wo sie stattfindet.
Hier scheint sich die Willensschwäche, also die ›subjektive Unvollkommenheit des Willens‹, mit einer ›strukturellen Unvollkommenheit des Willens‹ zu verschmelzen. Zugleich werden sich das mathematisch Erhabene, welches die Forderung der Kausalität ins Absurde treibt, und das sozial Erhabene (von dem Kant nicht spricht) ähnlich genug, um sie verwechseln zu dürfen. Dann aber wäre die Willensschwäche zugleich auch die Chance, sich an der ganzen Menschheit zu vergesellschaften.
Sie würde dadurch auch erst behoben.

Befehlen und gehorchen

dokai moi

In ihrem letzten Werk greift Arendt auf die Werke des Schweizer Biologen Adolf Portmann zurück. Dieser hatte, durchaus im Gefolge der Gestalttheorie, die Funktionen nicht als den Organen komplett immanent, als Verursacher angesehen, sondern in Wechselwirkung über die Grenze der Organe oder des Organismus hinaus betrachtet. Arendt zitiert ihn folgendermaßen:
Allen Funktionen der Selbsterhaltung und Arterhaltung vorgeordnet … finden wir die einfache Tatsache des Erscheinens als Selbstdarstellung, wodurch diese Funktionen sinnvoll werden … (Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes. Das Denken, München 2015, S. 37)
Deutlich wird hier, dass Arendt, die bei den Phänomenologen in die Schule gegangen ist, dem Phänomen selbst eine große Bedeutung beimisst. Zugleich aber kann sie dadurch das Politische der gesamten Natur betonen, ist doch das Politische ebenfalls ein Erscheinen als Selbstdarstellung, als autonomes, aber auf Wechselwirkung bedachtes Individuum.
Dementsprechend taucht ein barocker Topos gleich zu Beginn des Buches auf:
Lebewesen haben ihren Auftritt wie Schauspieler auf einer für sie aufgebauten Bühne. (Ebenda, S. 31)
Das große Welttheater allerdings findet ohne göttliche Hilfe statt, und man darf hier spekulieren, dass es auch auf den heiligen oder göttlichen Willen verzichten muss. Jenes ›es scheint mir so‹, das dokai moi, ist zugleich die Anerkennung des Scheins und des Perspektivismus.
Das ewige Zurückweichen der Wahrheit findet sich zugleich darin, dass der Schein nur zugunsten eines anderen Scheins überwunden werden kann, die Perspektive nur verschoben, aber nicht aufgelöst werden kann.

Die Komplikation des Willens

Nietzsche hat das Konzept des Willens deutlich anders gefasst. Im Prinzip antwortet er damit auf das Problem Kants, die Willensfreiheit zwar ableiten, aber nicht begreifen zu können. Bei Nietzsche ist das
Wollen … vor Allem etwas Kompliziertes, Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, – und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurteil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist. … in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesen „weg“ und „hin“ selbst, dann noch ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine“ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen“, sein Spiel beginnt.
(Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. in ders.: KSA V, § 19, bzw. S. 31-34)

Sich-selbst-Befehlen

Nietzsche bereitet in diesem Aphorismus einigen Paralogismen des Willens den gedanklichen Nährboden. Zunächst hebt er pointiert hervor, dass der Wille eine Dreifaltigkeit aus Fühlen, Denken und Affekt sei. Der Affekt sei jener des Kommandos. Und dies präzisiert er dadurch, dass er der Willensfreiheit eine ganz andere Deutung gibt, als Kant:
Das, was „Freiheit des Willens“ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss: „ich bin frei, „er“ muss gehorchen“ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, …
Allerdings hat Nietzsche hier keineswegs den Befehlshaber, sei es in der Armee, sei es in der Wirtschaft, im Auge. Es ist der Wollende, der sich selbst etwas befiehlt:
Ein Mensch, der will –, befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. … insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden und Gehorchenden sind …
So dass die Freiheit des Willens keineswegs in der äußeren Welt gesucht werden muss, sondern im Verhältnis zu sich selbst, also in der Tugendhaftigkeit (um hier noch einmal auf Aristoteles anzuspielen), die Nietzsche hier als Lust an der Selbstbeherrschung versteht (und damit gerade nicht in einem griechischen Sinne):
„Freiheit des Willens“ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit genießt, aber bei sich urteilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinden.

Sich-selbst-Gehorchen

Der letzte Ausschnitt aus dem gesamten Aphorismus verweist deutlich auf eine seltsame Logik. Derjenige, der sich befiehlt, gehorcht auch sich selbst. Das Wollen selbst scheint zunächst in sich selbst zu laufen, und etwas weiter unten auf der selben Seite redet Nietzsche dann auch von dem ›dienstbaren „Unterwillen“ oder Unter-Seelen‹. Doch ganz so einfach ist es nicht, denn kurz zuvor hat Nietzsche diesem Seelenbau bereits eine ganz andere Menge hinzugefügt, jene Menge, die Widerstand leistet. Nun könnte man behaupten, dass dieses Sich-selbst-Befehlen und Sich-selbst-Gehorchen um weitere Unter-Seelen erweitert, die überwunden werden müssen. Jedoch fährt Nietzsche auf irritierende Art und Weise fort:
der [Wollende] als solcher den Triumph über Widerstände mit genießt, aber bei sich urteilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde
Man frage sich hier, was das für ein Wille ist, der über die Widerstände triumphiert, ohne sie selbst überwunden zu haben. Nietzsche sagt uns nun nicht, ob es hier vielleicht eine dritte Partei gäbe, die an dieser Niederschlagung der Widerständigen beteiligt sei, was den Schluss nahelegt, dass der Widerstand eine Inszenierung ist, um dem Befehlenden seinen Triumph zu ermöglichen. Mithin sei im Widerstand schon die Niederlage mit angelegt, ja es sei wesentlicher Sinn und Zweck des Widerstands, zu unterliegen. Doch wem unterliegt der Wollende? Immer nur sich selbst.

Die Freiheit des Willens

Was uns Nietzsche hier deutlich macht, ist, dass die Freiheit des Willens auf einem großartig angelegten Selbstbetrug beruht. Der Wille überwindet nur sich selbst, wenn auch sich selbst als einem anderen.
Wir können an dieser Stelle verstehen, wie Nietzsche auf Kants Paradoxie der Nichtkausalität der Kausalität antwortet. In einem ersten Schritt nimmt er das Vermögen, welches Kant spekulativ einführt, und vervielfältigt es: der Wille ist eine Komplikation. In einem zweiten Schritt, den ich oben nicht erwähnt habe, weist er auf die Täuschung hin, die dem Wörtchen ›Ich‹ anhaftet, indem es über die Zweiheit von Befehlendem und Gehorchendem hinwegtäusche und sie als Einheit präsentiere. Und schließlich sei die Freiheit des Willens nur eine Selbstüberwindung, allerdings eine Selbstüberwindung, die wiederum inszeniert ist, um jenem befehlenden Seelenanteil den Triumph und die Lustgefühle zukommen zu lassen.
Und anders als bei Hannah Arendt ist nicht die Welt die Bühne, sondern die eigene Seele.

03.07.2016

Neues aus dem Hinterland

Kinnerchens, das war ein Wochenende.
Ich weiß mal wieder gar nicht, wo ich anfangen soll bei dem, was ich nicht geschafft habe.
Immerhin haben zwischendurch zwölf Bücher meinen Schreibtisch besucht und dann wieder verlassen, zwölf Nicht-Computer-Bücher.

Immanuel Kant

Immanuel Kant war dabei, die Grundlegung der Metaphysik der Sitten. Was ja auch noch so ein unvollendetes Projekt von mir ist. Irgendwann mal, vor ca. fünf Jahren, wollte ich mal sämtliche Stellen, die ich nicht verstanden habe, herausschreiben und mit Fragen versehen. Nach gefühlten 1000 Seiten habe ich diese Aufgabe abgebrochen. Empirisch gesehen waren es dann aber doch nur 70 Seiten. Komischerweise, denn ansonsten bin ich doch eigentlich ein recht hartnäckiger Leser. Ich glaube, dass ich aus lauter Ehrfurcht zum funktionellen Analphabeten mutiere.

Hannah Arendt

Sehr viel mehr Spaß dagegen macht mir Hannah Arendt. Nicht, dass ich dieses Projekt nicht auch immer wieder aufschieben würde. Sie beginnt ihr letztes großes Werk, Vom Leben des Geistes, mit einigen für mich sehr zentralen topoi, dem Drang zur Selbstdarstellung, dem Leben als Bühne, dem Schein, der Verdopplung des Denkers im Denken. Schließlich sind die beiden Teilwerke (der Band umfasst Das Denken, und Das Wollen, während der dritte Teil, Das Urteilen, leider nicht mehr fertig gestellt wurde) voller wunderbarer Metaphern des Lesens, was wir mal wieder beweist, dass das Lesen theatralisch ist.

Autobiografisches

Autobiografeme

So nennt Roland Barthes die Fragmente, die jemand aufschreibt, um sein Leben, ja was? Darzustellen? Zu rechtfertigen? Nun, jedenfalls ist die Autobiografie ein Mythos, solange sie der Einheit des Subjekts aufsitzt. Das Andersartige schreibt sich doch ein drückt sich aus.

Drang zur Selbstdarstellung

Dieses Thema ist schon viele Jahre alt, und eigentlich habe ich mich auch weniger mit dem Drang zur Selbstdarstellung beschäftigt, als mit deren Pathologien. Damals, ich muss 21 gewesen sein, war es Leon Wurmser, der mich sehr beschäftigt hat. Ich habe sein Buch Die Maske der Scham nicht nur durchkommentiert, sondern als Anregung genommen, alles mögliche aufzuschreiben und zu „durchleuchten“. Einmal in meinem Leben habe ich meine ganze Kindheit und Jugend zu Papier gebracht, nicht, um das zu veröffentlichen, sondern um zu klären, was überhaupt passiert ist.
Es war, möchte ich auch behaupten, mein erstes Buch, was ich nicht nur inhaltlich, sondern auch strukturell, grammatisch, nach übergeordneten Relationen gelesen habe, und auf der anderen Seite in einer sehr konnotativen Art und Weise kommentiert habe. Weshalb mir später Roland Barthes so rasch ans Herz gewachsen ist.

Scham und Schuld

In diese Zeit fällt auch meine Auseinandersetzung zu Scham und Schuld. Ich erinnere mich gar nicht mehr genau, was ich damals alles dazu gedacht habe. Ich weiß nur, dass sich die Gedanken noch jahrelang weiter gesponnen habe, und dass sie heute immer noch mein Denken prägen.
Wurmser zergliedert verschiedene Formen von Scham und Schuld, und zeigt sowohl an Fallbeispielen aus seiner psychoanalytischen Praxis wie auch an der Literatur, dass hinter den Phänomenen von Scham und Schuld sehr unterschiedliche pathologische Prozesse stehen können. Er spricht über eine ganze Reihe von Phänomenen, die mit dem Sehen und Gesehen-werden tun haben, von gefräßigen Augen, von Verschleiern, Enthüllen und Überwachen. Immer wieder habe ich während meiner Unizeit diese Themen aufgesucht.

Das Leben als Bühne

Dieser Topos gehört direkt zu Scham und Schuld dazu. Und natürlich ist es ein Thema der Literaturwissenschaft, Calderón etwa, aber auch die Bühnenstücke von Hofmannsthal und Horvath. Nicht zu vergessen Shakespeare und Cechov, den wunderbaren Sommernachtstraum, die Möwe.

Lesen

Recht spät ist dies dann für lange Zeit zentrales Thema geworden, fast bis ans Ende meiner Unizeit. Im Gegensatz zu den anderen Themen war dies aber kein inhaltliches Thema, sondern ein methodisches. Es ging um Strategien des Lesens, auch um die Produkte, die daraus entstehen. Ich habe alles ausprobiert, die Analyse, das Kreative, die lose und die strenge Konstruktion. Das war die Zeit meiner großen Textexperimente. Ich musste noch einmal alles zerstören und vom Grunde auf aufbauen, was sich bis dahin erfahren und erlebt habe. Das war eine gute Zeit.
Es war eine Zeit der zahlreichen Sprachen. Leider ist mir vieles abhanden gekommen. Oder vielleicht auch nicht. Vielleicht liegen ja einige meiner Uniordner noch bei meiner Exfrau, und vielleicht macht sie das, von dem ich vermute, dass sie das am besten kann: abschreiben und sich mit fremden Federn schmücken.
Na gut, ich soll nicht lästern.
Was habe ich heute gemacht? Also, was habe ich noch gemacht? Ich habe, wenn auch in aller Eile, Abschnitte von Kant, Nietzsche und Arendt miteinander verglichen. Dabei sind die Fragen nur so aus meinem Stift geflossen. Wenn man bei einem Text völlig auf dem Schlauch steht, ist es hilfreich, verwandte Texte zu lesen, die inhaltlich einfacher sind.
Das Programmieren ist zu kurz gekommen.