23.04.2018

Grundmuster wiederholen

Der Weg durch die Mathematikdidaktik hat mich noch einmal darin bestärkt, dass eine wesentliche Komponente eines glücklichen Denkens das Üben und das Wiederholen ist. Schüler erlernen den Zahlenraum, indem sie immer wieder ähnliche Aufgaben durcharbeiten. Dabei muss man Kant Recht geben, dass die mathematischen Begriffe vor allem Anweisungen zur Konstruktion von Sachverhalten sind. Vielleicht mag das dem einen oder anderen seltsam vorkommen, aber mathematische Begriffe sind höchst künstlerische, zugleich aber eben auch höchst künstliche Begriffe.

Mangas zeichnen

Meine Klasse steht zurzeit total darauf, Mangas zu zeichnen. Allerdings ist die Luft auch schon wieder halbwegs draußen. Denn es ist alles andere als einfach, auch nur eine kurze Geschichte zu entwerfen. Meist mühen sich die Kinder noch mit den Grundlagen des Zeichnens ab.
Dass ich selbst in gewisser Weise ein verhinderter Zeichner bin, habe ich, glaube ich, noch nicht gesagt. Jedenfalls besitze ich eine ganze Menge Bücher zum Zeichnen und Malen. Und einen Teil dieser Bücher habe ich dann meiner Klasse mitgebracht. Nun werden die Kinder darüber nicht unbedingt besser zeichnen lernen (manche jedoch schon). Alleine der didaktische Wert dieser Bücher ist allerdings enorm.
In einem Buch steht zum Beispiel sehr ausdrücklich, man solle unendlich oft üben. Das ist eine Sache, die ich meinen Schülern in fast jedem Unterricht „predige“. Ohne Übung läuft gar nichts.
Und um hier noch einmal meinen guten Jérôme Bruner herbeizuzitieren: durch die Überautomatisierung wird das interpretierte Muster zu einem interpretierenden. Irgendwann sehe ich die mathematischen Formeln in die Umwelt hinein, ohne mir Mühe geben zu müssen. Und irgendwann sehe ich die Möglichkeiten von Manga-Figuren und -geschichten in der Umwelt, ohne mich dafür zu entscheiden.

Vielfältige Muster

Der Vorteil vielfältiger Muster, vor allem jener Muster, die man intensiv geübt hat, besteht darin, dass sie die Umwelt anreichern und immer bunter und farbiger machen.
Es lohnt sich also, seine kleine Bibliothek mit Mustern zu pflegen, seien es wissenschaftliche Modelle, esoterische Erklärungen (die auf der Ebene der Zeichentheorie sich von wissenschaftlichen Modellen kaum unterscheiden), seien es Bewegungsabläufe (wie beim Tanzen oder beim Dribbling) oder visuelle Gestalten (von den geometrischen Grundgestalten bis hin zu hochkodierten Formen, wie sie zum Beispiel im Chibi-Manga üblich sind).
Der eine oder andere Schüler hat sich dann doch dazu hinreißen lassen, bestimmte grundlegende Formen mehr als einmal zu üben und an der Ausführung zu feilen. Das einfache Zeichnen eines Kreises wird plötzlich zur Herausforderung.

Probleme durch geübte Augen

Ein anderes Problem, über das meine Schüler stolpern, ist, dass sie relativ kompetent darin sind, Fehler in visuellen Medien zu erkennen. Leider erkennen sie auch ihre eigenen Fehler allzu gut. Und da hier eine recht große Lücke zwischen der Fähigkeit zur Beurteilung und der Ausführung klafft, entmutigen sich die Schüler fast automatisch selbst.
Da ich es als sehr angenehm empfinde, dass die Schüler sich auch im Zeichnen intensiv üben, muss ich mir natürlich Strategien der Ermutigung überlegen.

Fertig stellen

Eine andere Sache ist der „Biss“. Ich setze meinen Schülern als Ziel, ihre Zeichnungen zu vollenden. Ich bin zwar nicht unbedingt streng, aber „meckere“ schon herum, wenn eine Zeichnung auf der Hälfte des Weges abgebrochen wird. Ein Werk muss „vollendet“ werden, auch wenn man auf halbem Wege schon weiß, dass das Ergebnis nicht gut sein wird.
Hintergrund dieser Forderung ist, dass die weitere Ausarbeitung die Fehler klarer konturiert. Auf der einen Seite wird dadurch deutlicher, was der Schüler noch nicht kann, und auf der anderen Seite wird der Fehler kleiner, bearbeitbarer. Am Ende einer Zeichnung kann sich ein Schüler eine Liste anlegen, was er alles noch zu üben hat.
Manchmal ist das für die Kinder harter Tobak. Manchmal sind sie direkt verzweifelt. Dann kann ich immer nur aus eigener Erfahrung berichten, mit wie viel Tränen und Wut ich durch den Kurs Technisches Zeichnen während meiner Lehrzeit gegangen bin. Mein Ausbilder war völlig unempathisch und auch recht unpädagogisch. Hat eine Zeichnung Fehler aufgewiesen, hat er diese zerrissen. Dann musste man ganz von vorne anfangen. So schlimm treibe ich es bei weitem nicht. Mittlerweile kann ich aber in gewisser Weise diese Härte wertschätzen. Übernehmen muss ich sie allerdings nicht. Es gibt andere, sanftere Strategien.

Unendlich oft

Zweimal habe ich es jetzt in verschiedenen Lehrkursen zum Manga gelesen: Übe unendlich oft. So weit würde ich gehen. So weit geht niemand. Irgendwann muss man sein Werk präsentieren. Doch vorher sollte man eben, so oft es geht, geübt haben. Beim Zeichnen die Grundformen, den Kreis, das Quadrat, die Proportion. In der Mathematik das Erkennen von Mengen, ihre Aufteilung, die Übersetzung zwischen den verschiedenen Medien. In der deutschen Sprache sind es die Wortarten, der Satzbau, wie Satzglieder. Und wenn man in die Interpretation geht, bezieht sich alles auf die Grundformen des semantischen Gedächtnisses, das Image, das Skript, der Begriff, das Wortfeld.

16.04.2018

Gender? Klappt doch!

Das gefühlt hunderttausendste Video gegen den imaginierten gender-Wahnsinn wurde vor ein paar Tagen von zwei adretten jungen Leuten veröffentlicht. Dieses Video war allerdings nicht nur sachlich peinlich. Und so gab es, glücklicherweise, scharfe Kritiken.
Auch ich habe dazu etwas geschrieben. Ich mag es hier noch einmal zitieren, samt einem sehr freundlichen Einwand und meine Antwort darauf.

Bildungsziel leider verfehlt

So könnte man mein Fazit zu diesem Video zusammenfassen. Ich schrieb also:
Das Video wird schon da unsinnig, wenn Gender als das persönlich empfundene Geschlecht definiert wird. Und über den Rest muss man gar nicht reden. Auch in der Gender-Theorie kann man nicht heute ein Mann und morgen eine Frau sein. Eins kann man sich aber auch nicht aussuchen: wer wie diese beiden heute solch einen ideologischen Unsinn erzählt, wird morgen auch nicht intelligenter reden.
Daraufhin fragte ein gewisser Johnny Blunck folgendes, bzw. gab folgendes zu bedenken:
Ist das so?
In der Linguistik bezeichnet das Wort gender zunächst im Englischen den Genus bzw. das grammatikalische Geschlecht – d.h. die Unterscheidung zwischen weiblich, männlich und sächlich. Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch wird gender als Bezeichnung für das soziale Geschlecht und in Abgrenzung dazu sex als biologisches Geschlecht definiert.
Tatsächlich ist dieser Einwand kein wirklicher Einwand gegen das, was ich geschrieben habe, aber zeigt doch auf eine Unschärfe in meinen Sätzen, die berechtigt, hier nachzuhaken. Ich habe mich also darauf hin etwas ausführlicher ausgelassen:
Nun, meine Antwort darauf war tatsächlich unterkomplex.
Erstens gibt es nicht die Gender-Theorie. Die Ansätze konkurrieren gelegentlich sehr stark in der wissenschaftlichen Basis, so wie Judith Butler sich relativ stark auf Foucault und damit indirekt auf Kant bezieht, während Luce Irigaray eine relativ stark an Lacan orientierte Position einnimmt. Martha Nussbaum wieder argumentiert sehr dicht am amerikanischen Pragmatismus.
Zweitens wird sehr häufig (und darin gehen Butler, Irigaray und Nussbaum konform) von einer kulturellen Konstellation ausgegangen, in die die Menschen eingebettet sind. Diese übersteigt die Wahlfreiheit des Individuums, so dass von einer Wahl des Geschlechts keine Rede sein kann. Aber eben auch nicht von einem einfachen Verhältnis zur Biologie.
Man kann, vereinfacht gesagt, zum Beispiel in der Diskursanalyse davon ausgehen, dass ein Mensch durch all die Sätze definiert wird, die sich auf ihn beziehen. Dazu gehören sehr weit gefasste Sätze (Die Würde des Menschen ist unantastbar.) oder sehr individuelle (Kannst du morgen etwas früher aufstehen?). Geschlechtsspezifisch sind die Sätze dann, wenn sie sich direkt oder indirekt auf das (vermeintliche) Geschlecht beziehen.
Es geht nun zum Beispiel darum, dass die allgemeinen Sätze (Frauen sind eher emotional.) weniger Einfluss auf die individuelle Teilhabe bekommen und dass die individuelle Teilhabe auf Augenhöhe und nicht durch ein vorgeprägtes Machtgefälle stattfinden kann.
Dabei sollte aber auch klar sein, dass dieses "weniger Einfluss" ein gradueller Aspekt ist. Erstens kann kein einzelner Mensch alle Aussagen über sich kontrollieren. Zweitens sprechen auch konservativere, nicht-feministische Denker - etwa Sloterdijk - von einer zweiten, sozialen Geburt des Menschen durch die Sprache (oder das Sprechen). Der soziale Mensch kann, so einer der Gedanken dabei, nicht hinter seine Geburt zurück, auch nicht hinter seine soziale Geburt; er / sie ist gezwungen, das Besprochen-werden durch ein Mit-Sprechen zu ergänzen.
Gelassenheit wäre die eigentlich richtige Haltung bei diesem Thema. Mich macht allerdings ziemlich sauer, dass sich hier Menschen hinstellen, die anscheinend noch nicht einmal in der Lage sind, eine Verordnung richtig zu lesen, und sich zu Moralaposteln und Rettern des Abendlandes aufspielen. Natürlich muss man die Gender-Theorien weiterhin kritisieren dürfen, natürlich auch deren Umsetzung. Aber dann sollte das Ganze doch auf Fakten basiert sein und ein gewisses Maß an Intelligenz bereitstellen. Ständig gegen dieselben Dummheiten argumentieren zu müssen ist doch langweilig.

Gewaltfreie Kommunikation

Ich gebe zu,dass die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall Rosenberg bei mir ein etwas schwieriges Thema ist. Kennengelernt habe ich diese in einer Situation, die für mich beruflich recht anstrengend war. Und dort über eine Frau, die ihre Sätze nicht zu Ende bringen konnte. Sie hat sozusagen nur halbe Sätze geäußert, mit denen sie ein sinnvolles Ganzes angekündigt hat, aber dann nie dazu gekommen ist. Ich kann das gar nicht nachmachen. Vielleicht ahnt ihr aber, dass mich dieser Mensch innerhalb kürzester Zeit zur Weißglut getrieben hat.
Eine zweite Erfahrung habe ich dann in einem Seminar, einer Fortbildung gesammelt. Auch diese war nicht glücklich. Wir haben, glaube ich, ziemlich aneinander vorbeigeredet. Allerdings, so muss ich sagen, fand ich das nun nicht so schlimm, da ich deutlich in anderen Welten gelebt habe, als die anderen drei Teilnehmer. Dann ist in einer solch kurzen Zeit von anderthalb Stunden auch schlecht ein Brückenbau möglich.

Bedürfnis und Strategie

Die gewaltfreie Kommunikation stellt mit ihrem Modell von Bedürfnis und Strategie eine recht alte Figur in einen neuen begrifflichen Zusammenhang, ohne damit wirklich etwas Neues zu sagen. Das Bedürfnis ist stärker psychologisch und zum Teil auch biologisch, während die Strategien erlernt sind. Das Verhältnis zwischen ihnen ist weder notwendig noch beliebig. Der Fachbegriff dafür lautet: er ist kontingent.
Damit hat die Strategie, mit der ein Mensch sein Bedürfnis erfüllt, keinen Signalcharakter. Ein Signal muss nur zugeordnet werden, während die Strategie interpretiert werden muss. Interpretation bedeutet an dieser Stelle, dass weitere Einflüsse bedacht und überprüft werden.
Der Zusammenhang, der hier vorgestellt wird, ist natürlich kein neuer. So hat zum Beispiel Sigmund Freud das Verhältnis zwischen Trieb und Triebobjekt gedacht: der Trieb heftet sich mit seiner Energie an ein Triebobjekt, kann sich von diesem aber auch wieder lösen, wenn ein anderes, scheinbar günstigeres Objekt auftaucht. Das Verhältnis zwischen beiden muss zwar notwendig existieren (jeder Trieb hat notwendig ein oder mehrere Objekte), aber nicht notwendigerweise so.
Gerade lese ich von Gottfried Orth und Hilde Fritz das Buch Gewaltfreie Kommunikation in der Schule (Paderborn 2013), und auch wenn mich die Theorie nicht hinreißt, bin ich doch von der Praxis recht angetan und war den ganzen Tag am Kommentieren, neben all den anderen Sachen, die ich getan habe.

Und was ich sonst noch tue

Gestern waren wir im Garten. Heute habe ich mich mit den Vera 3-Arbeiten beschäftigt, diese ein wenig quer kommentiert, verschiedene Filme und Arbeitsblätter zu Steinzeit-Menschen angesehen, einige Lehrvideos bearbeitet, Lernhefte zusammengestellt (ohne eins wirklich fertigzumachen), gezeichnet, E-Mails geschrieben, usw. Kein arbeitsfreier Sonntag, sondern ein arbeitsreicher. Loben wird mich dafür wohl niemand. Aber so ist das eben.
Außerdem habe ich in Slavoj Žižeks Buch Der Mut der Hoffnungslosigkeit weiter gelesen, aber nur zwei kurze Unterkapitel. Mehr Zeit war gar nicht.

09.04.2018

Beschämung

Meine Arbeitsweise kennt ihr ja. Ich habe sie häufig genug geschildert. Im Moment lese ich gar nicht neue Bücher, sondern vor allem meine Aufzeichnungen aus den letzten Monaten, die sich mal strenger, mal lose insbesondere um die Mathematikdidaktik reihen. Die Fächer Deutsch (Sachaufgaben), Informatik (Algorithmen und Datenstrukturen) und Kunst (Modellieren und Visualisieren) fügen sich darin ein.
Begonnen habe ich allerdings auch, Die Maske der Scham von Leon Wurmser endlich mal wieder zu lesen. Fast dreißig Jahre ist es nun her, dass ich dieses Buch durchkommentiert habe, eine viel zu lange Zeit.
In einem anderen Kontext (André Zimpel: Einander helfen. Der Weg zur inklusiven Lernkultur) habe ich, mit Verweis auf Wurmsers Buch, folgenden Kommentar verfasst (das muss im April 2015 gewesen sein):

Beschämung

Offensichtlich hat die Beschämung einen ungünstigen Effekt auf Zielsetzungen, Hoffnungen oder das Wollen. Was aber verursacht hier das Entstehen einer Schwelle oder eines Bruchs, den wir dann Beschämung nennen können?
Zunächst kann man hier auf eine Bewegung in der Bedeutung verweisen: die Beschämung zeigt deutlich auf ein moralisches Gefälle entlang der innen/außen-Differenz. Dies ist natürlich nur ein semantischer Effekt; er muss weitere Wirkungen nach sich ziehen.
Jedenfalls steht bei dieser innen/außen-Differenz eine veränderte Ökonomie entlang der Veräußerlichung des Schaffenden vor Augen. Dies kann sich auch auf Lernziele und die Entwicklung des Willens auswirken. Die Beschämung greift sozusagen von Anfang an in das Mitmachen und Sich-Befehlen-lassen ein und schafft einen eigenen, aber unbewussten, also gespaltenen und schlecht kontrollierbaren „Zweitwillen“.
Mit anderen Worten entwickelt der beschämte Mensch einen hintergründigen Willen, einen anderen Willen zu simulieren. Der simulierte Wille scheint so etwas wie eine Verschleierung zu sein. Aus meiner Erfahrung stammen Schamgefühle häufig aus einer verletzten Körpergrenze, einer Entblößung oder Entstellung. Dieser verborgene, konfliktlos gewordene Zweitwillen arbeitet dann daran, eine Oberfläche aufrechtzuerhalten, die für weitere Verletzungen oder Entblößung „zu glatt“ ist. Der Konflikt, so scheint die Fantasie der Beschenkten zu sein, gleitet an dieser glatten Oberfläche ab, ohne sie zu durchstoßen.

08.04.2018

Gewisse Vollständigkeiten

Man kann zum Beispiel die ganze Logik auf ihre Anwendung in den verschiedenen ethischen Bereichen des Lebens hin aufteilen: das herstellende, das politische und das theoretische Leben.
Die herstellende Lebensweise nutzt die Logik, um Abläufe in der Umwelt vollständig zu erfassen und dazu gehören so verschiedene Dinge wie die Auswirkung der Meeresverschmutzung auf den Fischbestand, die Verbesserung eines mechanischen Gerätes oder das Erstellen einer Internetseite. In dieser Lebensweise erscheint der Mensch als Mensch in der Gemeinschaft gleichsam weg abstrahiert und taucht nur noch am Rande, in Form eines Warennutzens, auf.
Ist die herstellende Lebensweise tatsächlich auf ein eher formales Funktionieren der Logik geeicht, so ist die politische Lebensweise eine, die andere Gebiete der Logik hervorhebt, nämlich zum Beispiel die Vollständigkeit der Argumente und die politische Tragweite von Schlussfolgerungen (wobei politisch in diesem Fall im weitesten Sinne verstanden werden soll, nicht im Sinne einer Berufspolitik).
Schließlich betont die theoretische Lebensweise die gute Begriffsbildung und die gute Nachbarschaft der Begriffe. Und insofern hat Hannah Arendt recht, wenn sie die politische Lebensweise entgegen der antiken Meinung aus ihrer untergeordneten Stellung gegenüber der theoretischen Lebensweise heraushebt. Das gute Leben, zu dem Freundschaft, Familie und eben die „politische“ Gemeinschaft gehören, kann nicht durch Rückzug und Kontemplation erreicht werden, sondern nur durch Teilhabe. Dass diese Teilhabe durch eine Ordnung des Denkens gefördert wird, also natürlich auch durch die Möglichkeit, die theoretische Lebensweise, die Vita contemplativa auszuführen, wird damit ja nicht bestritten.

07.04.2018

Ich bin gerade in Belgien in Ferien. Rechter Feminismus?

Nein, natürlich nicht. Ich verweile in Deutschland. Allerdings findet sich der Satz „Ich bin gerade in Belgien in Ferien“ auf dem einzigen Schriftstück, welches die Akte Julia Kristeva von ihr persönlich enthält. Diese Akte ist gerade publik geworden, weil Kristeva für eine bulgarische Zeitung zu schreiben gedenkt und man darauf hin ihre Verstrickungen mit dem „kommunistischen“ Regime überprüft hat. Dass man ihr vorgeworfen hat, ein Spitzel für die Kommunisten gewesen zu sein, lässt sich allerdings wohl nicht belegen. Tatsächlich wird ihr in der Akte angelastet, zu vereinbarten Treffen nicht zu kommen und immer nur völlig unbrauchbare Informationen geliefert zu haben.

Destruktion des Feminismus

Ganz so unbefangen kann ich allerdings den ganzen Fall nicht sehen. Julia Kristeva gehört zu den bedeutendsten Intellektuellen der letzten 50 Jahre. Sie ist zwar in Deutschland aus der Mode gekommen, auch, weil ihre Einwände gegen die Lacansche Psychoanalyse noch komplizierter sind, als die Lacansche Psychoanalyse selbst. Aber sie hat aus mehreren Gründen einen zentralen Platz in der modernen europäischen Kultur verdient. So hat sie den russischen Literaturtheoretiker Michael Bakhtin nach Frankreich gebracht und von dort aus in die ganze westliche Welt. Bakhtin ist sein ganzes Leben lang mit einem Veröffentlichungsverbot belegt gewesen und hat bedeutende Schriften nur über befreundete Schriftsteller in der Öffentlichkeit platzieren können. Als Kristeva nach Paris kam, war Bakhtin dort komplett unbekannt. Und es ist einer ihrer Verdienste, ein vielleicht nicht sonderlich kreativer, aber zumindest politisch recht wichtiger Verdienst, dass etwa ein Jahr vor dem Tod von Bakhtin eine gesammelte Ausgabe seiner Schriften begonnen werden konnte.
In den französischen Medien stellt sich der Fall deutlich weniger harmlos dar. Wie in Deutschland haben auch dort zunehmend rechte Strategien Einfluss auf die Meinungsbildung. Kristeva ist nicht nur eine bedeutende Literaturtheoretiker, sondern auch, auf ihre Weise, eine radikale Feministin. Das ist den Rechten natürlich ein Dorn im Auge. Und insofern ist die Destruktion einer der feministischen Ikonen auch eine Destruktion des Feminismus selbst.
Dass diese Destruktion nicht auf der Grundlage einer umfassenden Kritik passiert, sondern vor allem aus Unterstellungen und Vorurteilen besteht, muss man, glaube ich, nicht mehr dazuschreiben. Das ist eben das Wesen des neuen „Konservatismus“.

Paglia und Vinken

Die Causa Paglia wird gerade auf Facebook stark diskutiert. Wen kümmert das eigentlich? Mich nicht. Irgendwie aber schon. Ich bedauere zutiefst, dass der Feminismus in seiner institutionalisierten Form nicht nur recht dogmatische Blüten treibt, sondern sich auch einer feindlichen Übernahme geradezu andient. Ich kenne das Buch von Paglia nun nicht. Es sollte im Antaios-Verlag publiziert werden. Dort ist es in den Überschriften zu den Kapiteln ziemlich entstellt worden, ins Hyperbolische, maßlos Übertriebene, eben mit jener Strategie, mit der rechte „Intellektuelle“ wohl arbeiten, wobei da natürlich das Wort „intellektuell“ völlig unangebracht ist.
Paglia meine zum Beispiel, Frauen könnten keine Kunst machen, weil sie nicht sublimieren können. Stattdessen hätten sie Babys. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Frau Kinder hat. Ich halte es jedenfalls für eine Kunst, Kinder gut zu erziehen. Vinken, Literaturwissenschaftlerin und Professorin in München, wirft ihr deshalb eine „Verstümmelung psychoanalytischer Theorien“ vor; ihre „Ansichten hätten nur ein sinnloses Schockpotential“.
Zoe Beck findet diese Aussage furchtbar, allerdings auch, weil Vinken gesagt hat, die deutsche Ausgabe sei „liebenswert gemacht“, also jene Ausgabe vom rechtsradikalen Antaios-Verlag. Wir streiten uns nun nicht darüber, ob der Antaios-Verlag überflüssig sei. Die meisten seiner Bücher sind überflüssig. Pirinçcis Buch zur Umvolkung ist nicht nur eine Meisterleistung an sprachlicher Inkompetenz, sondern auch noch an völlig faktenloser Argumentation. Und das ist nicht das einzige Buch, das sich dieser Beurteilung erfreuen dürfte. Das ist eben die Argumentation der neuen Rechten.
Vinkens Einwand ist durchaus sehr ironisch. Die Überschrift allerdings, die wohl nicht von Vinken selbst ausgewählt wurde, spricht eine andere Sprache. Sie entbehrt der Ironie.

Biologismus

Ich komme nicht drumherum. Die Biologie ist das große Streitthema im Feminismus. Die Anti-Feministen haben sich scheinbar biologisch postiert. Sie argumentieren mit der Evolution. Nun ist die Zweigeschlechtlichkeit tatsächlich ein Erfolgsmodell. Nur lässt sich daraus noch nicht herauslesen, was den Menschen von Tieren unterscheidet. Und vor allem lässt sich daraus nicht herauslesen, warum wir in den letzten 40 Jahren einen solchen Hype der Neurophysiologie hatten. Alles sei doch irgendwie „gehirngerecht“. Nur eben nicht die klassische Geschlechterverteilung. Die sei völlig anatomisch.
Tatsächlich aber ist die großartige Leistung unseres Gehirns darin begründet, dass es die eigene Identität nicht nur durch Rekonstruktion der Körpergrenzen und Körperfunktionen erschafft, sondern zu einem wesentlichen Teil auch durch „irrationale“ Verarbeitung sozialer Signale – Stichpunkt: Spiegelneuronen. D. h. übrigens nicht, dass ein homosexueller Mensch die eigene Identität irrationaler verarbeiten würde als ein heterosexueller. Eher verhält sich die Anatomie zum rekonstruierten Körper so, wie bei Heidegger das Seiende zum Sein, als eine absolute, nicht zu hintergehende Differenz. Diese Differenz ist nicht graduell, sondern kategorial. Auch heterosexuelle Menschen erfreuen sich eines nicht näher zu bestimmenden Irrationalismus, was ihre politische „Geschlechtlichkeit“ angeht.
Insofern ist die politische Identität von Frauen auch nicht graduell zu begreifen. Weder untereinander, noch gegenüber Männern. Mit einer gleichberechtigten Stimme zu sprechen, aber eben auch nur für sich selbst (und nicht für andere Frauen) zu sprechen, sollte weiterhin Anliegen des Feminismus sein. Dass der rechte „Feminismus“ insofern richtig ist, als Frauen natürlich nicht Karriere machen müssen, als es ebenso möglich sein muss, dass eine Frau auch ein klassisches Rollenbild leben darf, bestreite ich nicht. Dagegen ist weiterhin unerfreulich, dass anderen Frauen, die eben genau dieses Rollenbild nicht ausfüllen möchten, mit so viel Häme und Abwertung begegnet wird. Rein neurophysiologisch gesehen gibt es nämlich keinerlei Unterschied zwischen den Denkleistungen von Männern und Frauen, zumindest statistisch gesehen. Und insofern ist es auch sehr fragwürdig, wenn Frauen weniger verdienen, weniger präsent in kulturellen Gremien sind. Oder warum ein Mann nicht seinen Lebenszweck in Kinderaufzucht und Apfelkuchen-Backen sehen sollte.
Auch das ist eine intellektuelle Fehlleistung, die sich Rechte gerne leisten: der Wille einer einzelnen Frau ist noch kein Einwand gegen die statistisch begründbare Ungleichheit der verschiedenen Geschlechter und gender-Identitäten. Und natürlich gibt es auch ganz furchtbare Frauen (oder Homosexuelle), die es bis an die Spitze unserer Gesellschaft geschafft haben. Aber auch das ist eben kein Einwand. Warum sollte es, wenn es so viele männliche, heterosexuelle Nieten gibt, nicht auch weibliche und homosexuelle Nieten geben? Wollte man hier daraus den Frauen einen Strick drehen, sollte man doch zuerst die eigentlich näherliegende Frage beantworten, warum unsere Gesellschaft solchen Menschen eine glänzende Karriere ermöglicht, während sie viel vernünftigeren Menschen eine solche Karriere verwehrt.
All das hat mit Biologie zu tun. Natürlich! Wie sollte ein Mensch auch ohne biologische Basis existieren können? Aber eine einfache Antwort, vor allem eine Antwort aus einer recht pennälerhaften Kenntnis der Biologie, wird man wohl kaum bekommen, es sei um den Preis einer radikalen Verkürzung und Verdummung.