21.05.2008

Lakonisches Lesen

Vor ein paar Tagen hatte ich mich zu Kriss Rudolphs Buch Heute ziehst du aus geäußert. Gestern war ich auf der Lesung. Wie man sich täuschen kann! Was mir zu Rudolphs Buch gefehlt hat, war die bestimmte Art und Weise, es zu lesen. Tatsächlich ist es weniger eine Geschichte als ein Sermon, den man sich mit teilweise offen überheblicher, teilweise unterschwellig arroganter Stimme lesen muss und dann funktioniert sogar die Erzählweise prima. Diese hatte ich ja zuvor moniert. Aber ich - von der Spannungsliteratur aus denkend - konnte mir hier diesen maroden Singsang nicht vorstellen, den Rudolph in seinem Buch zum Wirken bringt.
Rudolph liest übrigens ohne Punkt und Komma. Seine Pausen setzt er auf die Stellen im Satz, in der sich die Stimmung ändert, von einem Hoppla! Jetzt erzähl ich euch mal was aus meinem Leben! zu einem Und weißt du, was dem Deppen dann passiert ist? ändert, oder zu einem Stell dir vor, was diese Zicke gemacht hat.
Es gibt ja andere Autoren, die eine solche lakonische Leseweise in ihren Schreibstil einfließen lassen. Arno Schmidt zum Beispiel, den ich vor ein paar Jahren auf Schallplatte zu hören das Vergnügen hatte. Der schmeißt einem seine Sätze auch vor die Füße mit dem Duktus Da hast du's, ob's dir passt oder nicht! Und ähnlich habe ich eine Lesung von Jelineks Werk Lust empfunden. Jelinek übrigens kann ich so lakonisch und drakonisch lesen. Martin Walser wäre noch zu nennen. Walsers Schreibstil, spröde, fast reportagenhaft, ohne einen Anflug von Trauer oder Freude, entfaltet eine überaus subtile Wucht.
Es kommt also immer wieder beim Lesen auch darauf an, dass man einer passenden Stimme nahe ist. Oder sich die passende Stimme sucht. Manche Stimmen sind einem näher: man hat sich im Laufe seines Lebens in sie eingeübt.
Trotzdem glaube ich sagen zu dürfen, dass Rudolph keine Bücher für jeden schreibt, also keine Bestseller. Diesmal allerdings mit einer sozialen Begründung: diese Stimme, diese trockene Kürze, diese egozentrische Weitschweifigkeit, auf deren Rückseite die Ironie, teilweise der Zynismus mitschwingt, dürfte vielen Menschen fremd sein. Im allgemeinen neigt man ja eher zum derben und deutlichen Witz.
Arno Schmidt hat übrigens, um seine Leseweise zu unterstreichen, genau den grammatisch korrekten Satz liquidiert und die Satzzeichen als Markierungen für das Lesen verwendet. Das kann man dem heutigen Leser nicht mehr andrehen. (Gibt es eigentlich Lehrer, die mit ihren Klassen Elfriede Jelinek lesen? Oder Arno Schmidt? Also mal nicht die Pflichtlektüre Goethe, Schiller, Lessing, sondern moderne Klassiker, vor allem solche, die noch Witz haben?)

14.05.2008

Paasilinna

Neben vielen anderen Autoren habe ich seit etwa einem Jahr einen neuen Lieblingsautoren: Arto Paasilinna. Sein Metier ist das skurrile Abenteuer. Nicht nur, dass er wundervoll ulkig ist; seine Geschichten sind auch hintergründig, und versammeln unter der Oberfläche tiefgründige Gefilde, über die man leicht hinweglesen kann. Kann, nicht muss!
Abgesehen davon, dass ich einen guten Humor und einen knappen, funktionalen Gebrauch von Szenen schätze, mag ich es, wenn eine Geschichte nur unterhält, man sich aber jederzeit aussuchen kann, ob man sich auf eine intensivere gedankliche Auseinandersetzung mit dem Buch einlassen kann. Vor allem mag ich es, wenn das Buch dann immer noch gehaltvoll bleibt. Paasilinna schreibt solche Romane.
Sehr empfehlenswert!

Zur Zeit sammle ich noch Material zu ihm. Ausführlicheres wird folgen.

13.05.2008

Szenisches Schreiben

... wieder einmal. Seufz!
Ich habe gerade das Buch Der Bierzauberer fertig rezensiert. Nicht schlecht, dieses Buch, aber leider auch nicht gut. Nicht gut ist es auch deshalb, weil es keine klare Szenenaufteilung hat. Der Plot an sich ist klasse.
Was aber ist eine gute Szene und was ist gutes szenisches Schreiben?

Hypotypose

Haiku: Schreiben der Perzeption; ..."
notiert Barthes in Die Vorbereitung des Romans auf S. 107.
Das tangibilia ist ein Objekt, das man anfassen kann. Romane beruhen auf solchen Objekten; sie fingieren Realität, vor allem fingieren sie manipulierbare Realität. Ein Roman ohne solche realen Objekte ist kein Roman.
Die Hypotypose ist jene rhetorische Figur, die etwas sichtbar macht. Anders als das tangibilia besteht die Hypotypose nicht nur aus konkreten Gegenständen; ihre Aufgabe ist die Evokation, das Bild. Dieses Bild kann ganz gewöhnlich sein, wie eine Fotografie, in der sich die Menschen bewegen, in der sie handeln (vielleicht das Bezaubernde an den sich bewegenden Bildern in Harry Potter).

Haiku interpretieren und erklären nicht. Deshalb schreiben sie die Perzeption:
Das Kind
Führt den Hund aus
Unterm Sommermond
(Da es sich um eine Übersetzung handelt, hat das Haiku nicht die klassische Silbenzahl.)
Hält man sich Verse europäischer Dichter dagegen, haben sie ein interpretatives Element in sich:
Es ist, als hätt'
Der Himmel still die
Erde geküsst.

Den Herbst durchzieht
Das Sehnsuchtslied
Der Geigen
Das Vergleichende und die direkte Benennung der Stimmung (Sehnsucht) interpretieren das Bild schon. Hier wird nicht nur die Perzeption, sondern auch die Affektion und die Kognition geschrieben.
Nun möchte ich nicht für die reine Perzeption plädieren. Diese funktioniert in Haikus, aber nicht in Romanen. Doch hier kann man, in dieser kürzesten Form, die Perzeption einüben. Denn der erste Fehler, den man beim Szenischen Schreiben begehen kann, ist das Zuwenig an Sinnlichkeit.
Die Welt hatte Zähne, und sie konnte damit zubeißen, wann immer sie wollte. Das entdeckte Trisha McFarland, als sie neun Jahre alt war. Um zehn Uhr an einem Morgen Anfang Juni saß sie im Dodge Caravan ihrer Mutter auf dem Rücksitz, trug ihr blaues Trainingstrikot der Red Sox (das mit 36 GORDON auf dem Rücken) und spielte mit Mona, ihrer Puppe.
Stephen King: Das Mädchen
Tangibilia: Zähne (metaphorisch), Dodge Caravan, Rücksitz, Trainingstrikot, Puppe, Trisha McFarland, Mutter.
Neben den Tangibilia sind es die konkreten Verben, die hier den sinnlichen Halt geben: zubeißen, sitzen, tragen, spielen. Keine ungewöhnlichen Verben, zwei davon sogar Zustandsverben, also nur die beiden anderen Handlungsverben. Trotzdem sind die Tangibilia konkret genug, um ein Bild zu entwerfen, in dem etwas passiert. Es sind nur minimale Handlungen, eigentlich kaum der Rede wert. Andererseits bereitet Stephen King hier das Sprungbrett, von dem er sich immer wieder abstößt. (Das meiste an einem Roman ist konventionell.)
Das war im Mai, dass der alte Stechlin diese Worte zu seinem Freunde Kortschädel gesprochen hatte. Heute aber war dritter Oktober und ein wundervoller Herbsttag dazu. Dubslav, sonst empfindlich gegen Zug, hatte die Türen aufmachen lassen, und von dem großen Portal her zog ein erquicklicher Luftstrom bis auf die mit weiß und schwarzen Fliesen gedeckte Veranda hinaus.
Theodor Fontane: Der Stechlin
Tangibilia: Stechlin, Kortschädel, Zug, Türen, Portal, Luftstrom, Fliese, Veranda.
Konkrete Verben: sprechen, aufmachen, herziehen.

Das Bild ist hier ein vermittelnder Aspekt zwischen den Tangibilia & konkreten Verben und der Hypotypose. Während das Bild die konkreten Gegenstände abbildet, und die konkreten Verben ahnen lässt, weist die Hypotypose anhand des Bildes über das Wahrnehmbare hinaus. Die Welt hat Zähne; das bedeutet: die Welt ist gefährlich, sie kann dich verletzen. Beim Bild, das Fontane entwirft, drängen sich einem andere Sachen auf: der locus amoenus, die Idylle, der Müßiggang.
Wie das Bild einen affektiven Wert suggeriert, so kann der affektive Wert durch ein Bild ausgedrückt werden.

Hier kann man die Übung, ein Bild zu beschreiben, schätzen lernen. Welche Elemente könnte eine solche Bildbeschreibung enthalten? Jedenfalls nicht klassisch die Komposition ablichten. Das ist Aufgabe der Kunstwissenschaft. Hier geht es eher darum, narrative Keime zu erwecken.
Als Elemente dienen hier eher die Tangibilia, ihre Qualitäten (Adjektive), die möglichen konkreten Verben, die Stimmungen, an denen sie teilhaben. So habe ich zu einer Fotografie, die eine nebelgefüllte Talsenke zeigt (ein wirklich kitschiges Bild):
Nebel, Tal, Wacholdersträucher, wogen, wabern, dunstig, rauchig, golden, grün, Rehe (nicht zu sehen), Reiter tauchen aus dem Nebel auf (nicht zu sehen), schwimmen (metaphorisch), verborgener Lagerplatz, Schafherde, Unruhe, Morgen, vor dem Sonnenaufgang
Sicher, damit ist noch wenig gesagt. Probieren wir also von hier aus Haikus:
Im Nebel schwimmen
Schafe. Goldgelber Wacholder.
Junimorgen.

Nebelsee im Tal.
Golden die Hänge und grün
und still. Reifer Herbst.
Nun sind Romane nicht an Landschaften gebunden und vor allem nicht an diese matten, momenthaften Idyllen, die in den Haikus aufscheinen. Hier kann aber die Form des Haikus schon anregend wirken. Denn das Haiku ist etwas anderes als ein Satz in einem Roman. In gewisser Weise schreibt sich durch die Form eine andere, neuartige Perspektive ein. Und damit kann man wieder die Kreativität anregen. (Gabriele Rico schlägt genau diese Art in ihrem Buch Garantiert schreiben lernen vor: auch bei ihr sind die Gedichte kein Selbstzweck, sondern in einen Prozess der Umformung eingebunden.)

Hier kann man also wiederum eine Übung vorschlagen: Schreiben Sie zu jeder Beschreibung Haikus, die sich so dicht an der Form und den Inhalten des Haikus orientieren, wie möglich. Form: 5+7+5 Silben. Inhalt: mindestens 1 tangibilia, Bezug zu einer Jahres- oder Tageszeit, keine psychologische oder ideelle Deutung.

Schließlich aber muss man sich als Romanschreiber klar sein, dass man mit seinen Beschreibungen, mit den Bildern über das einfach Gemeinte hinausweist. Bilder können durch eine bloße Aneinanderreihung Stimmungen erzeugen, die in die eine oder andere Affektivität gehen:
Schwere Regenwolken trieben über das Zinnoberrot der Wüste entlang. Jared trat auf die Veranda und runzelte die Stirn.

Die Sonne hing schwer und orange am Horizont. Auf dem See bildeten sich um die Haubentaucher kleine Wellenringe. Sonst lag das Wasser glatt wie ein schlafendes Kind. Arvo dachte an seine Magengeschwüre, während er die Angel auswarf.

Drei schwarze Reiter schwammen durch den Nebel. Juli verfolgte ihren Weg mit zusammengekniffenen Augen. Sie waren eben aus dem Dunst hervorgekrochen wie kleine, schäbige Insekten, und schienen sich Richtung der alten Burg zu bewegen.
Die Stimmung eines Bildes kann natürlich nicht nur von oben - von der Benennung der Stimmung her: die Hypotypose - entworfen bzw. analysiert werden. Sie kann auch von unten erfasst werden. Dieses Werkzeug kennen die aufmerksamen Leser dieses Blogs schon: es ist die Konnotation. In der Konnotation wird ein systematisiertes Gefühl, eine affektive oder kognitive Idee zum Text erfasst.

Auch dies kann man in eine Übung verpacken. Es gibt eine schöne Seite mit (recht idyllischen) Landschaften hier. Sammeln Sie kleine Szenen, vier, fünf verschiedene pro Bild, in denen in dieser Landschaft etwas passiert. Was auch immer genau das ist, ob eine heimliche Begegnung zwischen zwei Liebenden oder ein Kampf oder eine einfache Wanderung einiger Menschen. Vergessen Sie nicht handwerkliche Tätigkeiten oder Rituale: die werden häufig nicht genutzt, eignen sich aber hervorragend, um einer Landschaft ihre Stimmung abzugewinnen. Wichtiger als viele Bilder zu beschreiben ist es, hier verschiedene Szenen für ein Bild zu erfinden. Es geht nicht darum, viele Bilder "abzuarbeiten", sondern seine Phantasie zu vervielfältigen. Deshalb ist das Beharren auf einem Bild wichtiger: man muss ihm seine möglichen narrativen Aspekte abgewinnen, manchmal auch gegen einen ersten Widerstand schon alles gesagt zu haben.

Szenen

Das sinnliche Schreiben ist natürlich nur ein Bereich, der eine Szene greifbarer machen kann.
Ebenso wichtig ist aber die Struktur der Szene. Jede Szene ist eine für sich abgeschlossene Einheit, auf der einen Seite. Auf der anderen Seite ist jede Szene nur ein Element in einer Geschichte. Also muss man zu einem Modell vordringen, in dem der Szene sowohl ihre Geschlossenheit wie auch ihre Offenheit zugestanden wird.

Als eine erste Übung kann man sich hier verschiedene Szenen aus Büchern herausziehen und beschreiben, wie sie gestaltet sind. Wichtig ist hier das Wie?, also nicht der Inhalt, bzw. nicht der ausschließliche Inhalt. Dabei sollte man nicht zu penibel sein: denn auch wenn ich noch ein Modell für eine "gute" Szene vorstelle, die meisten Szenen gehorchen diesem Idealbild nicht.
An dem Nachmittag, an dem sich ihr Vater geweigert hatte, ihr ein Buch zu kaufen, machte sich Matilda ganz allein auf und ging in die Stadtbücherei. Dort stellte sie sich der Bibliothekarin vor, einer Frau Phelps. Sie fragte, ob sie sich ein bisschen hinsetzen und ein Buch lesen dürfe. Frau Phelps, etwas verwirrt, dass so ein kleines Mädchen ohne elterliche Begleitung bei ihr auftauchte, erwiderte ihr trotzdem, dass sie herzlich willkommen sei.
«Wo sind bitte die Kinderbücher?» erkundigte sich Matilda.
«Sie stehen da drüben auf den untersten Regalen», erklärte ihr Frau Phelps. «Möchtest du vielleicht gern, dass ich dir ein schönes mit lauter Bildern heraussuche?»
«Nein danke», antwortete Matilda, «ich kann das schon alleine.»
Roald Dahl, Matilda

Kommentar:
Der erste Satz der Szene greift auf die vorhergehende Szene zurück. In dieser möchte Matilda ein Buch gekauft bekommen, aber ihr Vater sieht keinen Sinn darin. Die vorhergehende Szene endet also mit einer Blockade der Geschichte. In dieser Szene sucht und findet Matilda einen Ausweg.
Die Szene hat im eigentlichen Sinne keine Spannung. Sie ist eine Zwischenszene. Dahl baut am Anfang des Buches zunächst eine Opposition auf: die meisten Eltern verherrlichen ihre Kinder, obwohl sie widerliche Ratten sind. Das ist ein grotesker Konflikt, der vor allem zum Lachen reizt. Dann vollzieht Dahl aber eine komplette Wende. Es gäbe auch genau den umgekehrten Fall: dass die Kinder eigentlich ganz wundervoll sind, die Eltern sie aber für Schorf halten, das man abpult und wegschnippt. Ein solches Kind ist Matilda (in ihrer Familie).
Damit ist der Konflikt gezogen: Matilda gegen ihre Eltern. Um diese Geschichte weiterzutreiben, muss nun ein Umweg probiert werden. Hier führt dies gleich zu einer Lösung.
Während die Szene also ein Umweg im Konflikt ist (es kommen später noch einige Konfrontationen), nimmt sie zwar einerseits die Spannung zurück, ist aber im Gesamtgang genau gegenteilig. Der Konflikt ist ja noch nicht gelöst, und genau deshalb führt die absteigende Spannung in der Szene zu einer ansteigenden Spannung im Szenenverlauf. Und gerade weil die Szene dann konfliktlos endet, weiß der Leser, dass alles nur aufgeschoben ist und hier ein wichtiges Element eingebaut wurde.
Zu der Struktur der Szene gehört, dass sie nach einer Handlungsblockade folgt (Matilda bekommt kein Buch). So greift der erste Satz auf diese Szene zurück und bringt dann ein neues Element, einen neuen Ort ins Spiel. Hier wird dem Leser ein Ausweg versprochen. Es gibt eine Art ersten "Höhepunkt", als Frau Phelps Matilda schlicht akzeptiert. Auch hier besteht der Höhepunkt darin, dass es eigentlich kein Höhepunkt ist. Normalerweise besteht ein Höhepunkt aus einer Zuspitzung des Konflikts. Da man dies als Leser erwartet, ist gerade die Enttäuschung die Überraschung und deshalb dramatisch. Auch der zweite Höhepunkt ist so entdramatisiert, dass er im Vergleich zum vorhergehenden Geschichtsverlauf eine kleine Sensation ist. Denn als Matilda ihren eigenen Willen ausdrückt ("Ich kann das schon alleine."), passiert - nichts. Tatsächlich lautet der nächste Satz "Von nun an bummelte Matilda an jedem Nachmittag, ...", womit das Nicht-Passieren unterstrichen und verankert wird.
Diese Szene ist vielleicht nicht sonderlich repräsentativ für die modellhaft ideale Szene. Trotzdem gibt es einige typische Elemente. Zunächst besteht die Szene aus Beschreibungen. Wie in Kinderbüchern üblich, beschränkt sich die Beschreibung auf wenige einfache tangibilia und einige gewöhnliche aktive Verben (man vergleiche dazu die üppigen tangibilia bei Stephen King).
Dann gibt es einen Eingangssatz, der sich implizit oder explizit auf das Vorhergehende bezieht und damit ein Scharnier zwischen der bisherigen Geschichte und der Szene bildet. Ebenso gibt es einen Ausgangssatz, der in irgendeiner Weise ein Rätsel formuliert und damit einen Haken setzt, der den Leser an die weitere Geschichte bindet. Sowohl dem Eingangssatz wie dem Ausgangssatz - Scharnier und Haken - sollte man allerdings nicht zuviel Bedeutung zumessen. Sie können leichtfertig oder nebenbei daher kommen.
Scharnier und Haken - die weiteren Elemente, die wir hier finden, sind ein Teilhöhepunkt und ein Höhepunkt. Höhepunkte verhalten sich immer erfüllend oder enttäuschend zur Geschichte. Auch dies sollte man nicht zu dramatisch lesen. Wie hier in der Szene aus Matilda können diese sehr leicht, luftig daher kommen.
Weil ein Schuh fehlte, ging das Königreich verloren ... weil ein Weg gesucht wurde, wurde das Schiff gefunden ...
In den dreizehn Jahren, in denen das Garrick-Anwesen nicht zum Anderson-Anwesen geworden war, war Anderson schon öfters hier gewesen; sie kannte den Landstrich, eine wirre Masse geschlagener Stämme, von Holzfällern hinterlassen, die wahrscheinlich alle schon vor dem Koreakrieg gestorben waren, eine große Fichte mit gespaltener Krone. [...]
Diesmal folgte sie Peter, als der Hund sich etwas nach links entfernte, und der Pfad war bereits zu sehen, als einer ihrer alten Wanderschuhe gegen etwas stieß ... heftig gegen etwas stieß ...
»He!« rief sie, aber trotz ihrer rudernden Arme war es zu spät. Sie fiel vornüber. Ein Ast von einem niedrigen Strauch kratzte ihr so heftig übers Gesicht, dass Blut floss.
»Scheiße!« rief sie, und ein Blauhäher verspottete sie.
[...]
»Großartig«, sagte sie und sah nach, über was sie gestolpert war wahrscheinlich ein heruntergefallener Ast oder ein Stein, der aus dem Boden ragte. In Maine gab es viele Steine.
Aber sie sah das Schimmern von Metall.
Sie berührte es, strich mit dem Finger darüber, dann blies sie schwarze Walderde weg.
»Was ist das?« fragte sie Peter.
Peter kam näher, schnüffelte daran und tat dann etwas Seltsames. Der Beagle wich zwei Hundeschritte zurück, setzte sich und stieß ein einziges langgezogenes Heulen aus.
[...]
Etwa sieben Zentimeter ragten aus dem krumigen Boden heraus - gerade so viel, dass man darüber stolpern konnte. Das Gelände stieg hier leicht an, und vielleicht hatten die heftigen Frühlingsregen es freigeschwemmt. [...]
Anderson berührte es mit der Kuppe des rechten Zeigefingers und verspürte ein kurzes, seltsames Kribbeln, wie eine Vibration.
Sie nahm den Finger weg und sah ihn abwägend an.
Hielt ihn wieder hin.
Nichts. Kein Kribbeln.
Jetzt nahm sie es zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, es aus der Erde zu ziehen wie einen lockeren Zahn aus dem Zahnfleisch. Es ging nicht. [...]
Sie hatte zwei dreißig Zentimeter lange Gräben zu beiden Seiten des Gegenstands ausgehoben, ohne sein Ende zu finden. Sie war fast dreißig Zentimeter in die Tiefe gedrungen, als ihre Finger zum ersten Mal über Fels strichen. Es wäre ihr vielleicht gelungen, den Felsbrocken herauszuziehen - der immerhin ließ sich bewegen -, aber sie sah keine Veranlassung dazu. Der Gegenstand in der Erde reichte noch tiefer hinab.
Peter winselte.
Anderson sah den Hund an, dann stand sie auf. Beide Knie gaben nach. In ihrem linken Fuß kribbelte es. Sie kramte die Taschenuhr aus der Hosentasche - die alte, verschrammte Simon-Uhr war gleichfalls ein Erbstück von Onkel Frank - und stellte erstaunt fest, dass sie schon lange hier war: mindestens eineinviertel Stunden. Es war vier vorbei.
»Komm, Peter«, sagte sie. »Verschwinden wir.«
Peter winselte wieder, bewegte sich aber nicht. Und nun sah Anderson mit echter Sorge, dass der alte Beagle am ganzen Körper zitterte, als hätte er Schüttelfrost. [...]
Anderson schritt über die kleine Grabung und ging zu Peter. Sie kniete nieder und strich mit den Händen über Peters Gesicht, spürte sein Zittern in den Handflächen.
»Was ist denn, Junge?« murmelte sie, aber sie wusste, was los war. Peters gesundes Auge sah an ihr vorbei, zu dem Ding in der Erde, dann wieder zu Anderson. Das Flehen in dem nicht von dem grässlichen, milchigen grauen Star überzogenen Auge war so deutlich wie Worte: Lass uns von hier verschwinden, Bobbi, ich mag dieses Ding dort genauso wenig, wie ich deine Schwester mag.
»Okay«, sagte Anderson unbehaglich. Plötzlich dachte sie daran, dass sie sich nicht erinnern konnte, hier draußen jemals so die Zeit vergessen zu haben wie heute.
Peter mag es nicht. Ich auch nicht.
»Komm schon.« Sie ging den Hang hinauf zum Weg. Peter folgte bereitwillig.
Stephen King: Das Monstrum
(stark gekürzt, Kürzungen bezeichnet durch [...])

Kommentar:
Der erste Satz ist recht rätselhaft. Er schiebt sich zu Beginn des Romans mit zahlreichen Verbindungen in die Geschichte ein und legitimiert sich dadurch. Weil der Satz rätselhaft ist, ist er ein guter Aufhänger. In der Szene selbst gibt es einige Zwischenhöhepunkte: das Stolpern von Anderson, das seltsame Metallstück, das Kribbeln beim Berühren, die verschwundene Zeit. Die Szene gipfelt in Peters körperlicher Reaktion. Die Zwischenhöhepunkte und der Höhepunkt selbst bilden eine Serie von Rätseln, die alle in der Frage aufgehen: Was ist das für ein Ding?
Bis zum Höhepunkt steigert sich die Spannung. Diese Steigerung nimmt den größten Teil der Szene ein. Nach dem Höhepunkt folgt ein knapper Abspann. Andersons Zusammenfassung der Szene - "Peter mag es nicht. Ich auch nicht." - setzt einen Haken in die Geschichte.
Die ganze Szene dient also der Verankerung eines Rätsels. Insofern ist die Ausstreuung seltsamer Phänomene ein wichtiges Element. Man findet es zu Beginn von vielen Horrorromanen bei King, aber auch in vielen Krimis und Mystery-Thrillern. Zugleich dient die Szene aber auch den Ort zu charakterisieren.
Der Abspann schließt die Szene, bereitet den Ortswechsel zur nächsten Szene vor, verankert aber auch nochmal den Ort, an dem die Szene stattfindet und bewahrt den Haken in sich auf.
Wir finden also in etwa die nämlichen Elemente vor: ein Scharnier zu Beginn, das ein Versprechen ausdrückt, in der Szene etwas wichtiges mitzuteilen; eine die ganze Szene begleitende Beschreibung aus tangibilia und aktiven Verben; eine Verteilung von Zwischenhöhepunkten, die eine anwachsende Spannung markieren; einen Höhepunkt, der eine Wende im Geschichtsverlauf markiert; einen Abspann; einen Haken.
Ich hatte schon mehrmals darauf hingewiesen, dass diese Bezeichnungen nicht "laut" sein müssen. Eine Geschichte erfordert immer eine Plausibilität, und so ist zwar eine deutliche Markierung der einzelnen Elemente sinnvoll, muss sich aber immer der Folgerichtigkeit des Erzählens unterordnen. Dabei heißt Folgerichtigkeit auch, dass sich der Leser nicht vom Autoren manipuliert fühlt, sondern dass die Teilhöhepunkte und der Höhepunkt sinnlich konkret daherkommen. King erreicht diese deutliche Markierung, indem er "seine" Kommentare der Protagonistin unterschiebt. In Kinderbüchern, wie bei Roald Dahl, findet man dagegen oft sehr verknappte Szenen, in denen einzelne Elemente miteinander verschmelzen. So kann man in der oben zitierte Szene von Dahl Höhepunkt, Abspann und Haken in einem einzelnen Satz finden. Bei Otfried Preußler dagegen findet man öfter differenzierte Szenen. Im Hotzenplotz reihen sich die Kapitel wie kleine Teilgeschichten aneinander. Jede dieser Teilgeschichten bewahrt in sich meist eine vollständige Szene auf.
Hier nun noch einmal das Modell einer Szene als Bild (das Scharnier habe ich hier Versprechen genannt):
[Einige Elemente der Szene habe ich noch nicht genannt. So besteht jede Szene aus Semen, Bedeutungseinheiten. Die Auswahl dieser Seme ist eminent wichtig, will man Szenen linguistisch untersuchen. Diese Gedankengänge habe ich hier weggelassen, weil sie den Text überfrachtet hätten.]

Wollte man hier eine Übung vorschlagen, dann zunächst diejenige, sich über die Szenen, die man schreiben möchte, bewusst zu werden. Vor allem sollte man sich darüber bewusst werden, welche Funktion sie in der Geschichte ausüben. Dabei gibt es natürlich zahlreiche Formen von Szenen, die sehr verschiedene Funktionen haben. Hier sind einige Funktionen:
  • in einen Konflikt hineintreiben bis hin zur Konfrontation (Spannung erzeugen)
  • einem Konflikt ausweichen (Spannung erzeugen durch Aufschub einer Lösung)
  • einen Umweg gehen (eine Lösung aufschieben, ein neues Element einführen)
  • ein Rätsel ausstreuen (ein Problem verankern)
  • einen Informationsaustausch schildern (ein Problem verstärken oder eine Lösung vorbereiten)
  • die Geschichte & die Person in ihrer Umwelt verankern (die Erzählung gewöhnlich, plausibel, nachvollziehbar machen)
  • eine Vorgeschichte schildern (Identifikation ermöglichen)
Ich habe hinter jede Funktion eine zweite Funktion gesetzt. Tatsächlich hat jede Szene (mindestens) diese Doppelung: zum einen hat sie eine Funktion im Fortgang der Geschichte, zum anderen hat sie eine Funktion für den Leser. Beide Funktionen müssen beachtet werden.

Wir können uns jetzt die Ergebnisse aus der Übung wieder vornehmen, in der wir Szenen zu Bildern skizziert haben. Zu diesen Szenen schreiben Sie jetzt in knappen Worten eine umliegende Geschichte. Achten Sie dabei nicht auf Feinheiten. Es soll nur eine Skizze sein. Bezeichnen Sie dann die beiden Funktionen der Szene (auch hier sollten Sie nicht zu penibel sein: es ist - wie gesagt - eine Übung, die trainieren soll und nicht zu einer fertigen Geschichte führt). - Übrigens sollte jede Szene ihre eigene Geschichte bekommen.

Schluss

Szenen bestehen aus zahlreichen Elementen. Sie schildern sinnlich, indem sie tangibilia und aktive Verben einsetzen. Sie haben eine Struktur, die aus folgenden Elementen bestehen kann: Versprechen, Teilhöhepunkte und Höhepunkt, Abspann und Haken. Jede Szene hat zwei Funktionen: eine, die sie im Geschichtsverlauf sinnvoll macht, eine, die einen Bezug zum Leser setzt.
Die einzelnen Elemente übt man am besten getrennt ein. Solche Übungen können durch Analyse geschehen, oder durch eigene Schreibübungen. Sinnvoll ist beides. Wenn man eine Übung macht, sollte man immer daran denken, dass dies Fingerübungen sind. Fingerübungen sind auf ein bestimmtes technisches Phänomen konzentriert und eignen sich nicht dazu, diese dem Publikum vorzustellen. Sie helfen einem aber dabei, leichter ein Werk zu schaffen, das veröffentlichenswert ist. Seien Sie also bei den Übungen nicht zu kritisch mit sich, sondern gehen Sie erstmal fröhlich zur nächsten Aufgabe, auch wenn Sie mit einem Ergebnis noch nicht glücklich sind.

12.05.2008

Pan's Labyrinth

Gestern abend habe ich mir endlich Pan's Labyrinth angesehen. Die Geschichte ist zwar konventionell - Mädchen flieht vor der Realität in eine Scheinwelt -, aber die Bilder sind außergewöhnlich schön und die Symbolisierungen märchenhaft, fernab von jeder Süßlichkeit.

Ambivalenz

Schon das erste Verbindungsglied zwischen Realität und Märchenwelt, eine fliegende Stabheuschrecke, hat eine wundervolle Ambivalenz. Sie ist nicht nur ein ekelerregendes Insekt, ein huschendes Krabbeltier, das sich tarnen kann, und so übersehen wird, während es doch, einmal enttarnt, unsere ganze entsetzte Aufmerksamkeit genießt; sie erzeugt dazu noch einen widerlich rasselnden Klang.
An dieser Ambivalenz hält der Film fest. Der Pan, der in dem Labyrinth lebt, ist ebenso zweideutig und in gewisser Weise nur ein Spiegelbild des Hauptmanns, des Stiefvaters von Ophelia. Die Mutter vertritt ebenso diese Zweideutigkeit, indem sie einerseits ihre Kinder schützen möchte, andererseits aber sich der Realität, das heißt dem Hauptmann unterwirft. Ophelia selbst ist ein zweideutiger Name - die Geliebte Hamlets ertrinkt in dessen Tatenlosigkeit. Hörbar hier auch: orphelin, das Waisenkind.

Drei Themen: Häute - Essen - Gewalt

Um Häutungen und um Mimikry geht es in diesem Film: die Stabheuschrecke, die sich verbergen kann; der Vater Ophelias war Schneider, der dem Hauptmann die Kleider geschneidert hat; die Stabheuschrecke, die sich in eine Fee verwandelt; die Mutter, die sich der Situation anpasst; die Tochter, die hübsch eingekleidet wird; Mercedes, die im Haus für die Rebellen spioniert; die Kaninchen, die gehäutet werden; die Kröte, die ihr Innerstes nach außen spuckt, und nur die leere Haut übrigbleibt; die Rebellen, die sich im Buschwerk verstecken; das Ungeborene, das sich seiner Mutter wie eine zu groß gewordene Haut entledigen zu wollen scheint; die Alraune, die ein Mensch werden möchte; Ophelia, die sich in ihrer Phantasiewelt versteckt, und zum Schluss offenbart.
Auch geht es immer wieder ums Essen: um die Kaninchen; um die Einladung zu einem Festmahl; um die Kröte, die an den Wurzeln des Baumes zehrt; um die Lebensmittelrationierungen, um die Rebellen auszuhungern; um den Überfall auf das Warenlager; um das Verbot, von dem üppig gedeckten Tisch etwas zu naschen und der Übertretung dieses Verbots; um das menschenfressende Ungeheuer.
Das Auszehren, das Parasitäre und das Hinunterwürgen ekliger Nahrung (= eine widerliche Geisteshaltung imitieren) spiegelt und bricht vielfach die reale politische Situation. Und schließlich ist das plötzliche Erwachen bösartiger Wesen in der Phantasiewelt genauso abrupt, wie der Hauptmann von seiner militärischen Rolle in kalte Gewaltexzesse verfällt. Die Kamera dramatisiert nicht, schaut aber auch nicht weg. Die Gewalt erwacht auf genauso natürliche Weise, wie die Ungeheuer auf natürliche Weise erwachen.
Erst ganz zum Schluss wird diesem "Spiel", wird der Gewalt von Imitation und Häutung Einhalt geboten. Das Neugeborene wird nicht erfahren, wer sein Vater ist; der Vater wird sich nicht in ihm häuten können.

Metaphorisierung durch beseelte tangibilia, analogiae und narratio

So gesehen ist der Film dann doch wundervoll. Um einige eng begrenzte Themen herum wird eine metaphorische Aufladung erzeugt: Gewalt → Mimikry & Häutung → Essen → Phantasie & Realität → Gewalt. Dies geschieht, indem die Figuren immer mindestens an zwei Themen teilnehmen und so von einem Thema zum anderen überblenden können.
Die beseelten tangibilia - die Menschen und Phantasiewesen - sind also in der Lage, die Metaphorisierung zu erzeugen. Beseelt müssen sie deshalb sein, um die verschiedenen Themen immer wieder in Konstellation zu bringen. Brei an sich ist nur eine Nahrung, aber der Brei, den man hinunterwürgen muss, schon eine Konstellation. Von hier aus ergeben sich Serien: Brei, den man hinunterwürgen muss - Weintrauben, die man genießerisch im Mund behält (als Beispiel); Speisen, die man einlagert - Insekten, die man ausspeit.
Manche Serien werden auch durch Analogien gebildet: die Faschisten am Fuß der Berges, die die Rebellen aushungern - die Kröte unter der Wurzel des Baumes, die den Baum auszerrt - das Ungeborene, das die Mutter schwächt. - Oder: an den Marxismus glauben und kämpfen oder über die Grenze nach Frankreich fliehen - an die Phantasiewelt glauben und kämpfen oder über die Grenze zur Anpassung fliehen.
Die Verknüpfung der thematischen Felder wird auf der einen Seite durch die beseelten tangibilia, die Lebewesen geschaffen (es ist dabei unerheblich, ob es reale oder phantasierte Lebewesen sind, solange sie in der Geschichte "funktionieren"), indem sie an mehreren Feldern teilhaben, andererseits durch die Geschichte, indem diese von einer Konstellation zur nächsten wechselt. Die narratio ist nicht nur der Ablauf der Geschichte (der plot), sondern auch dieses Umkonstellieren.

Fazit

Ein schöner Film; - wobei dieser Film für mich schön ist, weil er mich zu neuen Abschweifungen, zum Entdecken einer kleinen, neuen koordinierten Begrifflichkeit geführt hat. (Letzten Endes genießt man sich selbst in der Interpretation am meisten.)

Barthes - Kommentare

Wie habe ich mich gefreut, und zurecht gefreut: Gestern fand ich Roland Barthes Die Vorbereitung des Romans in meinem Briefkasten. Barthes schreibt darin, wie immer, über alle möglichen Dinge, und eigentlich ist es nicht zum Zusammenfassen geeignet. Aber er dringt in die Materie mit einer Fürsorglichkeit ein, die mich sehr berührt.
Es ist Barthes letzte Vorlesung. Und das Konzept für eine Vorlesung, die er nie gehalten hat. Am 26. März 1980 starb Roland Barthes, nachdem er von einem Auto angefahren wurde. Hier, in diesen beiden Vorlesungen, vollendet er auf seine Art seine lebenslange Suche nach dem Imaginären des Autors. Vollenden wäre in diesem Fall aber nicht das richtige Wort. Denn der Autor, der einer Barthes'schen Ästhetik gehorcht, wird keinen Roman schreiben, den er vorher konzipiert hat, kein Monument von etwas anderen. Der Roman schreibt sich selbst durch die Intensität, mit der der Autor sucht, mit der er mit dem Stoff ringt.
Das ist freilich etwas anderes als die Art und Weise, sich den Stoff vorher anhand von Regeln zu gliedern.
Seltsamerweise - und weiter bin ich noch nicht in dem Buch - beginnt Barthes mit Haikus. Haikus sind japanische Gedichte, die nach einer strengen Silbenregel und einer strengen Ästhetik gebildet werden. Mit ist noch nicht ganz klar, wohin mich Barthes führen wird (ich bin erst auf S. 119), aber schließlich wird es zu Proust gehen, der etwas ganz anderes schreibt, keine japanischen Dreizeiler, sondern Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Einige Fund- und Kommentierstellen:

Michelet

Als Michelet aus seiner Position am Collège de France entlassen wurde, soll ein Schüler zu ihm gesagt haben:
"Wir haben bei Ihnen nichts gelernt. Nur unsere verlorenen Seelen haben wir wiedergefunden."

Pans Labyrinth

Der Mittelpunkt des Labyrinths ist stets der Ort einer vorgetäuschten Erfüllung, und die Suche nach dem Roman kann ihr Ziel nur im melancholischen Glanz einer Welt trügerischer Erscheinungen finden.
Pans Labyrinth ist einer der Filme, bei denen ich wieder weinen konnte (obwohl die Geschichte selbst mir sehr bekannt ist). Vielleicht auch deshalb, weil diese Parallelwelt, dieses Fantasiereich mir aus meiner Kindheit so vertraut ist. Barthes schreibt in einer Intensität, die dieses Kinderreich in mir wieder aufleben lässt, diese absolut zerbrechliche Existenz des Sprechen-dürfens.
Ich erinnere mich, dass ich vor dem Wald, ab dessen Saum wir lebten, Angst bekam, weil sich etwas darin herumtrieb - jedenfalls meiner Vorstellung nach. Ich sprach nicht darüber, aber ich begann zu schreiben. (Schreiben, um die Angst zu erklären: Als ich Freuds Vorlesungen zur Psychoanalyse las, verstand ich das Kapitel über die Angst nicht. Ich verstand wahrscheinlich auch die anderen Kapitel nicht, aber das Kapitel über die Angst blieb für mich unlesbar. Nichts darin ergab für mich einen Sinn. Erst später: ich habe es in meinem zweiten oder dritten Tagebuch minutiös durchkommentiert und so zuerst über mich und dann über die Angst etwas verstanden. Später entdeckte ich die Widerstände beim Lesen/beim Sinnentnehmen als theoretisches Thema.)

Das Unerbittliche und das Unerträgliche

Das Unerbittliche, das bei Barthes eine so große Rolle spielt, ist der Augenblick, in dem die Interpretation nicht nur versagt, sondern keine Rolle mehr spielt. Es ist der Augenblick des Affekts.
Der Affekt ist hier vielleicht nur (aber was heißt nur?) der Moment, in dem sich die schwankende Ordnung der Begriffe in der Welt erkennt, sich sättigt und vergeht. Begriffe, so vermute ich seit langem, sind kognitive Ordnungen des Sinnlichen. Währenddessen sind die Affekte die emotionalen Ordnungen der Begriffe. Affekte wären demnach Metaordnungen. Affekte sind notwendig für die Begriffe in ihrer Stellung zueinander. Aber weder das Sinnliche noch das Affektive sind rationalisierbar. Es scheint so, als würden die Begriffe von der Nicht-Vernunft verklammert (Nicht-Vernunft ist nicht Unvernunft).
Dem Unerbittlichen gegenüber steht das Unerträgliche. Das Unerträgliche ist
die Verdrängung des Subjekts - welche Risiken die Subjektivität auch enthalten mag: Lieber die Trugbilder der Subjektivität als der Schwindel der Objektivität.
Bei Whitehead finden sich ähnliche Gedankengänge: Die Erfahrungszusammenhänge des Subjekts sind weder subjektiv noch objektiv. Sie sind dem Subjekt vorgängig, als solche objektiv subjektivierend, aber nie statisch (im Sinne einer ewigen Gewissheit), sondern radikal prozessual. Diese Individuation habe ich schon in einer Anmerkung zu Deleuze und einer Anmerkung zu Whitehead beschrieben.
Das Unerträgliche lässt nichts Neues zu. Barthes notiert dazu: Verwerfung des Neuen (=Definition des Kerkers)? Die Typologisierung ist dabei eine der ausgeklügeltsten Formen des Zwanges (die Typologisierung ist produktiv, das Verbot statisch). Es zieht die Wirklichkeit auf einen Code, und katalogisiert / abstrahiert die Phantasmen. Der Katalog selbst macht aus dem Bild ein Konsumobjekt (man kann es nur kaufen, vgl. auch die Redensart: Das kaufe ich dir nicht ab! = Vermischung von Ware und Interpretation). Hier kann man die Codierung der sexuellen Phantasien einordnen: Aus Adäquatheitsgründen bist du Akad., sportl., attrakt., dt.-muttersprachl. u. misst mit Schuhen nicht mehr als 1,74 m. aber auch die codierten Schreibphantasien (Thriller, Krimi, etc.). Dabei ist gerade der Text ein Gewebe, das heterogene Objekt par excellence.
In einen Text, in eine Sexualität, in was auch immer einzudringen, das ist vielleicht diese Unerbittlichkeit, mit der man einem uncodierten Weg folgt und folgen kann. Ähnlich macht es ja Roland Barthes. Er kreist immer wieder um Proust, um die Photographie und das Bild - seine erste Veröffentlichung, der Michelet, behandelt Michelets Lesen von Bildern, sein letztes Werk, noch im Entstehen begriffen, behandelt Photographien von Menschen, mit denen Proust verkehrte. Diese beständige Rückkehr zu den Werken faltet sie auf, wie Blätterteig, sagt Barthes, das Werk sei ein unendlicher Blätterteig, das man Schicht für Schicht zu sich nimmt. (Diese Vorliebe für Metaphern aus dem Bereich des Kochens/Essens ist eine Eigentümlichkeit von Barthes, die er bei Michelet, bei Brillat-Savarin, bei Fourier findet; genießt müsste man sagen.)
Das Unerbittliche steht gegen den Sinn; es ist noch reine Sinnlichkeit, aber eine Sinnlichkeit, die eine Bedeutung einfordert: das macht das Leere und Schmerzhafte des Unerbittlichen aus. Es ist weder bedeutsam noch einordenbar. Es ruft den aggressiven Gestus des Bedeutens erst hervor. Damit stellt es sich aber auch gegen alle gewohnheitsmäßigen Aggressionen, gegen die Schematisierungen, die Typologien. - Das Unerbittliche ist hier sozusagen ein verrücktes "Text"-Objekt, schmerzhaft, aber unbedeutend, aufmerksamkeitsheischend, aber leer. Es ist - wenn man mit Lacan sprechen will, das ideale Objekt des Begehrens. Das Begehren ist bei Lacan immer an einen Widerstand gebunden, ja existiert nur durch diesen Widerstand (letztlich ist dieser Widerstand der Wille, von dem Lautbild zum Vorstellungsbild "durchzubrechen", die arbiträre Mauer, die das Zeichen konstituiert, gewaltsam zu beseitigen). Die Ethik bei Lacan besteht dann darin, in seinem Begehren nicht nachzugeben, unerbittlich zu bleiben, auch wenn man sich immer wieder mit Leere und Schmerz konfrontiert sieht. (Aber alles ist besser, als unerträglich, lau, zombiehaft zu werden; füge ich hier mal dazu.)

Hauptfaktum der Homosexualität

: ständige Vereinnahmung durch einen internen Code, schreibt Barthes. Soviel zur Arroganz einer sog. Minderheit. Nur eine weitere Zentralisierung der Deutungsmacht, ein weiterer paranoider Viktorianismus. (Man müsste statt Homosexualität allerdings Homosexualogismus sagen, schon alleine deshalb, weil dieses Wort genauso sperrig ist wie der codierte Homosexuelle.)

Welle des Antiintellektualismus

Antiintellektualismus : heute : massiv. - Was das ist? Im Prinzip die Abwesenheit jeglicher philosophischer Richtschnur für die Begriffe. Philosophische Richtschnur soll hier bedeuten, dass es eine Auseinandersetzung mit der Metaordnung der Begriffe gibt. Stimmt es, dass die affektive Ordnung der Begriffe die kognitive Seite dieser Metaordnung ist, dann ist die Philosophie die Auseinandersetzung mit den Affekten, dem Gefühlsleben. Sie ist oft indirekt, geht über den Weg der Argumentation, der Begriffsarbeit (fruchtbarster Augenblick der Begriffsarbeit? die kognitive Dissonanz = Affekt).
Richtschnur kann hier sein: Ethik (wie wollen wir miteinander umgehen? wie wollen wir zusammen leben?), Ästhetik (was wollen wir wie herstellen? die Interpreduktion!), Epistemologie (was können wir wissen? wie können wir wissen?), Evolution (woher kommen und wohin gehen wir?), Anthropologie (was ist die menschliche Form?). Natürlich hier: vielfältige Verbindungen untereinander, also keine Typologie, sondern eher ein Modell, das das Nachdenken in die eine oder die andere Richtung lenkt.
Die Medienzivilisation, so Barthes, lehne alle Zwischentöne ab. Alles muss gesagt werden (die Papparazzi); es gibt kein Phantasma und kein Zwischen-den-Zeilen-lesen. Wenn es kein Zwischen-den-Zeilen-lesen gibt, gibt es eigentlich auch keinen Text mehr. Der Text zeigt noch auf das offene Spiel zwischen Gemeintem und Realität. In dem Medientext fällt die Realität mit dem Text zusammen. Auch das ist ein Phantasma, aber eines, was nicht mehr intelligibel ist. Man klebt am Text wie an der Realität.
Hier auch: einige Deutschlehrer, die ich kenne, und die nicht genau wissen, was ein Zeichen ist, nicht mal in der Grundform von de Saussure, geschweige denn in den neueren Theorien, so von Lacan, Barthes oder Eco. Ebenso: die Grammatik. Grammatik hieße, Strukturbäumchen zu malen, immer und immer wieder, als ob man Socken häkeln würde; und den Schülern die gute Form des Satzes einzuschleifen. Grammatik ist aber das Nachdenken über die Strukturen der Sprache. Die Schulgrammatik ist eher eine Technik und gehört damit in den Bereich der (Alltags-)Ästhetik. Sinn dieser Ästhetik kann aber nicht das Verbot falscher Sätze sein, sondern der Umgang mit der Grenze zwischen gewöhnlicher Strukturiertheit und dem Abenteuer des Umstrukturierens (sobald man die Grenze des Gewohnheitsmäßigen übertritt, beginnt das Abenteuer).
Der Antiintellektualismus kann nicht die Reichweite seiner Begriffe ermessen, ihre Extension. Damit verlieren die Begriffe zunehmend an Halt: es gibt sozusagen keine materielle Wirklichkeit, an der sich die Begriffe in ihrer Begrenztheit noch problematisieren. Begrenztheit heißt, auch wenn diese Begrenztheit problematisch ist, "Sinn zu haben". Sinn entsteht durch die dynamische Struktur der Begriffe untereinander. Nur solange die Begriffe noch "im Spiel" stehen, können sie sich individuieren, Sinneffekte erzeugen.
Problem des Antiintellektualismus: gebärdet sich intellektuell, rational, empirisch. Ist im Prinzip aber nur eine Hierarchisierung anhand von Begriffen oder Wissen: über ein Mehr oder Weniger wird die Gesellschaft wieder stratifiziert: ist aber kein Begriff (Werkzeug), sondern eine Skala (Deutungsthermometer für Wohltemperiertheit).

Initiation

Tätigkeit des Vergleichens: statisch; mit dem Vergleich ist man einverstanden, oder man bricht mit ihm.
Tätigkeit des Identifizierens: prozessual; Sprung über Schwellen, die einen noch am Gleich-sein hindern.
Werden: prozessual, aber untergründig; das Werden ermöglicht und ruiniert die Identifikation mit einem Objekt. - Es stellt den eigensinnigen Prozess dar, aus dem ein Wunsch nach einer Identifikation entsteht, aber auch die Schwellen, an denen sich dieser Wunsch gesättigt hat und langweilig wird.
Sich bewusst identifizieren (so, wie ich mich gerade mit Barthes und Mayröcker identifiziere) heißt, sich eine Initiation suchen, d.h. den Punkt, an dem man seinen eigenen Weg gehen wird. Das, mit dem ich mich identifiziere, ist der Vater (ungleich seiner biologischen oder sexuellen Einheit; der Vater kann eine weibliche Person sein). Initiation heißt, den Punkt zu suchen, an dem der Vater keine Rolle mehr spielt, verschwindet (der Vater als psychische Instanz, nicht der reale Vater; ich hoffe, das ist jetzt deutlich). Mann-sein heißt dann, dass man sich vom Vater abgekehrt hat. In der Identifikation hat sich eine Sättigung vollzogen, die den eigenen Weg ausflocken lässt wie sich im salzschweren Wasser Kristalle ausfällen. Mann-sein ist deshalb nie eine globale Eigenschaft (vor allem keine, die dem biologischen Mann zugeeignet wäre), sondern immer nur lokal, spezifisch. Es gibt immer neues und anderes, mit dem man sich identifizieren kann, immer noch ein Identifikationsobjekt, durch das man sich hindurcharbeiten kann, muss, soll.
Problem des "wirklichen" Vaters ist vielleicht, dass er sich keine psychische Vaterinstanz mehr sucht. Vielleicht noch die Karriere, vielleicht noch den ruhigen Lebensabend (aber spätestens durch den kann man sich nicht mehr hindurcharbeiten: man kann nur noch sterben). Problem der "wirklichen" Frau: der symbolische Vater klebt noch zu sehr am biologisch Männlichen; die Frau kann, rein biologisch, kein Mann werden. Deshalb bewusst zu etwas sagen: das ist mein Vater, dort werde ich mich identifizieren, dort werde ich mir meine Initiation holen. Problem der Massenmedien, der Massenkultur: sie geben die Orte der Initiation vor, zum Beispiel die Karriere, zum Beispiel Deutschland sucht den Superstar (hier eine Typologie der Väter: welcher Initiationspunkt wird versprochen und vorgegaukelt?).
Oben habe ich den Begriff der Interpreduktion geprägt. Er fiel mir spontan ein, als Mischung aus Interpretation und Produktion. Interpreduktion kann man vielleicht als die Handlungsseite des Identifizierens, Initiierens bezeichnen: das, was man tun muss, um sich zu identifizieren und um darüber hinaus zu kommen, zum Beispiel das Nachahmen, Beobachten, Vergleichen, Kommentieren, Werten, Dialogisieren, Sättigen. (Wir haben nichts gelernt, nur unsere verlorenen Seelen haben wir wiedergefunden.) (Lange Zeit war die Angst mein Vater: Freuds Vorlesung über die Angst zu kommentieren, hat mir diese Identifikation bewusst gemacht, noch nicht gesättigt: das kam später.)

Antiwissenschaftliche Option

Die Wissenschaft stellt die Frage nach dem Wesen der Dinge: wie etwas gemacht wird oder etwas entsteht, um zu wissen, was es an sich ist. - Die Ästhetik ist die Frage nach der Anfertigung: wie man etwas macht, um es zu reproduzieren.
Wie man sich seine Begriffe macht, wie man sich seinen Vater macht, wie man sich seine Sexualität macht, wie man sich seinen Roman schreibt. - Alles eine Frage der Ästhetik. Einen Roman zu schreiben ist antiwissenschaftlich.

08.05.2008

Die Spaltung im Modell

Nachdem ich mich mit der Alternative bei Mayröcker geschrieben hatte (zur Zeit sammle ich weiter zu dem Thema), kam mir Alfred North Whitehead wieder in den Sinn. Ich hatte ihn vor vielen Jahren über Niklas Luhmann entdeckt und sehr schätzen gelernt. Vor allem hat er meinen Blick auf zivilisatorische Prozesse sehr verändert.

Zusammengefügtes und Zusammenfügendes

Was mich besonders beeindruckt hat, war das monistische Modell der Erkenntnis, das Whitehead entwirft. Bei ihm steht der Erfahrungsprozess über der Objektivität, ja, tilgt diesen. Das Isolieren der Objektivität sei ein grundlegender Fehler der Weltsicht. Diese könnten schon allein deshalb nicht getrennt werden, da sowohl das Erkannte als auch das Erkennende geschichtlichen Prozessen unterliegt.
Doch auch wenn man dies anerkennt, hat man deshalb noch lange nicht den Prozess der konkreten Erfahrung erfasst. Denn wie Rohmer zu Whitehead sehr richtig schreibt:
Das Verstehen des Zusammengefügten soll daraus resultieren, dass das erkennende Subjekt um sich selbst im Zusammengefügten als das Zusammenfügende weiß und dies ein Wissen ist, das sich auf die Gewissheit - über die dieses erkennende Subjekt offenbar verfügt - der Richtigkeit einer spezifischen Form der Logik gründen soll.
Denkweisen, S. 16
Das Zusammenfügen kann zwar gegründet, aber weder erklärt, noch typologisiert werden. Man trifft dies ja ähnlich bei der Neurophysiologie und beim sinnentnehmenden Lesen. Wenn man weiß, wie ein Gehirn funktioniert, kann man deshalb noch lange nicht sagen, was in einem konkreten Gehirn tatsächlich passiert. Und selbst wenn man ein brauchbares Modell des sinnentnehmenden Lesens besitzt, hilft einem das wenig bei der konkreten Diagnose des Leseprozesses weiter.
Modelle fundieren zwar bestimmte Prozesse, aber sie erklären diese nur abstrakt und sind damit als Erklärung nutzlos. Damit will ich Modelle nicht als unnütz darstellen. Aber sie brauchen einen anderen Bezug zu den konkreten Wegen der Erfahrung.

Die Diskrepanz der Erfahrung

Nach Whitehead sind Erfahrungen der Diskrepanz nicht logischer Natur (aber auch nicht antilogischer). Die Diskrepanz in der Erfahrung verweist vielmehr auf ein fundamentales Verhältnis des Selbst und des Selbstverständnisses eines realen, Erfahrungen sammelnden Subjektivierungsprozesses. Dieser Subjektivierungsprozess verweigert sich dem abstrakten Denken. Genauer gesagt ist dieses (sich) subjektivierende Denken nicht abstrakt, sondern partiell. Nur wenn man das Partielle als das Übergeordnete ansieht, wird es abstrakt. Den nämlichen Kritikpunkt findet man ja bei Deleuze: hier ist die Extrapolation jene falsche Logik, die sich aus einer Kette von Phänomenen eines herauszieht und dieses an die Spitze setzt.
Es kann also nicht um das Das! des Denken gehen, auch nicht um das Dieses! des Gedachten, sondern um das Wie? des Denkens. Schafft dieses Wie? eine Erfahrung der Diskrepanz, dann nützt hier eine Wertung wenig. Stattdessen muss man zu den Bedingungen der diskrepanten Erfahrung vorstoßen.

Automatisches Erkennen

Schon die Doppelung des Denkens in ein Dieses! und ein Wie? weist die beständige Wahl zwischen einem Beobachten und einem Überdenken auf.
Zwar ist das automatische Erkennen ein grundlegendes Element des Denkens, aber es bleibt trügerisch (wie übrigens bei Adorno und auch Deleuze). Das Eindringen in die Verbindungen und Verbindlichkeiten eines Elements ist ein möglicher, nicht zwingender Prozess der Erkenntnis. Die Objektivität kann diesen zweiten Schritt nicht oder nicht vollständig gehen.

Modelle

Modelle bilden hier natürlich die Welt nicht ab. Wie Lévi-Strauss sehr richtig sagte, sind Modelle Abbilder eines idealen Funktionierens, nicht eines realen. Wozu dienen also Modelle?

Das Kommunikationsquadrat

Wenn man zum Beispiel das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun betrachtet - es ist ja lange Zeit geradezu ein Prototyp des Modells gewesen -, dann bietet es vor allem die Möglichkeit, zwischen den beiden Prozessformen hin und her zu wechseln.
Das Kommunikationsquadrat stellt eine (sprachliche) Nachricht als zu vier Botschaften zugehörig dar. Diese vier Botschaften sind der Sachverhalt, die Selbstoffenbarung, die Beziehung und der Appell. Sachverhalt ist alles, was auf die "objektive" Welt verweist. Selbstoffenbarung bezeichnet den Teil der Nachricht, in dem der Sprecher etwas über sich selbst ausdrückt. Im Beziehungsteil der Nachricht stellt der Sprecher seine Ansichten über die Beziehungen dar und die Botschaft des Appells soll das Gegenüber zu bestimmten Handlungen oder Einstellungen verleiten.
Die Probleme dieses Modells sollen uns hier nicht interessieren. Wichtig ist nur, dass das Modell nicht auf eine Machbarkeit der Nachricht verweist: ich kann nicht auswählen, dass ich nur einen reinen Sachverhalt ausdrücke. Eine Nachricht hat - wenn man von Thun Glauben schenken will - immer diese vier Seiten.
Setzt man sich mit diesem Modell auseinander, dann bekommt man sofort Schwierigkeiten bei der Identifikation der vier Botschaften. Statt uns Erklärungen zu bieten, erfahren wir eine Diskrepanz. Sehen wir zunächst von der Diskrepanz ab, ermöglicht uns aber das Modell, hier einen Wechsel zwischen dem bloßen Erkennen und der Reflexion auf das Erkannte vorzunehmen. Wir dringen in das Zusammengefügte (hier: die Nachricht) ein, indem wir sie analysieren. Und damit nähern wir uns den Bedingungen des Miteinander-redens an.

Produktive Unruhe

Im weitesten Sinne kann man sagen: Modelle ermöglichen den Wechsel zwischen zwei Formen des Erkennens; sie stellen weniger eine Wahrheit dar, die man zu erkennen hat, als dass sie Prothesen sind, die uns zu diskrepanten Erfahrungen führt. Aus diesen diskrepanten Erfahrungen lassen sich dann neue Hypothesen, neue Begriffe und neue Modelle ziehen.
So scheint sich die Arbeit mit einem Modell ständig auf ein Stimmt! / Stimmt nicht! zu beziehen.
Während das Stimmt! zu einer Identifikation drängt, aber die Gefahr aufweist, oberflächlich zu bleiben und weitere nötige Verbindungen aus dem Auge zu verlieren, verhält sich das Stimmt nicht! widerspenstig. Hier muss man sich die Mühe machen, die eigenen Unsicherheiten auszuarbeiten, neue Strukturen zu entwerfen und neue Begriffe zu erfinden.
Weil sich die Erfahrung mit einem konkreten Sachverhalt und die Erfahrung mit dem Modell dieses Sachverhalts nicht decken, kann dies zu einer produktiven Unruhe führen. Die produktive Unruhe scheint mir bei Whitehead vor allem deshalb notwendig zu sein, weil sie das Denken durchlässiger macht für die Unruhen der Subjektivierungsprozesse. Die Subjektivierungsprozesse bestehen aus Integrationen, aus Ereignissen, die zugleich eine Bedeutung in der Welt vermitteln, als auch eine Struktur, mit dieser Bedeutung umzugehen. Sie gehen dem Subjekt voraus, unmittelbar und unkontrollierbar. Das Subjekt setzt sich, aber es setzt sich, ohne es schon zu "wollen":
Selbsterkenntnis ist aus Whiteheads Sicht im wesentlichen Resultat und Bestandteil eines realen Reflexionsgeschehens, im Rahmen dessen ein Subjekt sich selbst als es selbst in seiner Welt objektiv realisiert und damit als ein Selbst in dieser Welt verursacht. So erscheint es ihm - ebenso wie Hegel - als unsinnig, das Sein des Erkenntnisprozesses vom Sein des Prozesses zu trennen, im Rahmen dessen das Subjekt sich selbst als es selbst, als leib-seelische Einheit, konstituiert. Insofern dieses Sein des Subjektes aus seiner Sicht kein isoliertes Sein ist, sondern seine Realität nur in realgeschichtlichen Integrationszusammenhängen mit anderen Subjekten hat, ist damit jede Erkenntnis nichts anderes als ein Reflexionsgeschehen, in welchem sich die konkrete Entstehungsgeschichte dieses Subjektes als Resultat seiner Vermittlung mit sich selbst und anderen spiegelt.
Denkweisen, S. 18
Dadurch, dass das Subjekt sich an Modellen probiert, entstehen gleichsam auf der Rückseite dieser Auseinandersetzung neue Integrationen, neue Subjektivierungsprozesse, letzten Endes also ein bedingt gelenktes, aber absichtsloses Lernen. Wie Sigmund Freud einmal an Ferenczi schrieb:
Theorien soll man nicht machen. Sie müssen einem ins Haus einfallen wie ungebetene Gäste, während man mit Detailarbeiten beschäftigt ist.

06.05.2008

Das Umstülpen der Spuren

Nachdem ich mich nochmal intensiv mit einigen Szenen aus verschiedenen Kriminalromanen befasst habe, kann ich jetzt hoffentlich genauer angeben, wie sich Spuren in einer Erzählung verwenden lassen.
Ich hatte schon früher auf die innige Verbindung zwischen der Spur (als Zeichen) und der Metonymie (als rhetorisches Mittel) hingewiesen.

Der rote Schuh

Betrachten wir uns dies anhand eines Beispiels zunächst genauer, am Krimi Venezianische Scharade von Donna Leon. Dieser Krimi beginnt mit einer Tatortbeschreibung. Der erste Satz lautet:
Der Schuh war rot, rot wie Londoner Telefonhäuschen oder New Yorker Feuerwehrautos, aber diese Vergleiche kamen dem Mann, der den Schuh als erster sah, nicht in den Sinn.
Zunächst liegt der Schuh einfach nur so da. Er ist Teil eines Bildes, zu dem ein Ödland, ein Zaun und ein Schlachthof hinter dem Zaun gehören. Der Schuh gehört nicht in diese Szenerie und markiert so ein Rätsel: warum liegt er dort? wer hat ihn fallen gelassen? Das Rätsel selbst wieder spielt auf ein Verbrechen an, wie es sich für einen Krimi gehört.
Wesentlich am Rätsel ist hier das Unverbundene, sozusagen die nackte Existenz eines Dinges. Es ist kein Accessoire, kein Teil eines sinnvollen Ganzen, keine Funktion in einer Organisation. Dieses Beziehungslose erfüllt ein wesentliches erzählerisches Element; genauer: auf der diskursiven Ebene - also jener Ebene, auf der der Autor dem Leser Hinweise gibt - ist das Unverbundene das Zeichen für ein Rätsel und - im Kontext des Kriminalromans - das Zeichen für ein Verbrechen, während auf der narrativen Ebene - also jener Ebene, die die erzählte Welt vortäuscht - der Schuh einfach nur deplatziert ist.
Am Ende des ersten Kapitels wird der Leser gemeinsam mit dem Mann entdecken, dass der Schuh an einem Fuß steckt und dass der Fuß zu einer Leiche gehört. Aus dem Ding wird ein Accessoire.

Von der Denotation zur Metonymie

Der Schuh ist zunächst nur ein Objekt. Er wird benannt und beschrieben. Dies geschieht etwas umständlicher als bei einem Lexikoneintrag, aber im Prinzip passiert dasselbe: der Lexikoneintrag aktiviert Weltwissen. Die Erzählung macht es genauso. Dieses reine Objektsein entspricht im sprachlichen Bereich der Denotation.
Wenn sich durch die Erzählung nun erste Verflechtungen ergeben, zum Beispiel dass der Schuh zu einer Leiche gehört, entspinnt sich eine Nachbarschaft, die nicht durch den Schuh vorgegeben ist. Der Schuh wird zu einer Metonymie. Diese ist freilich konstruiert. Jeder Kriminalroman baut auf solchen konstruierten Nachbarschaften auf. So sind die aufgescheuerten Stellen an der Hosen eines Verdächtigen genau die Spur, die Sherlock Holmes braucht, um auf Grabarbeiten zu schließen (Der Klub der Rothaarigen).
Und im Falle von Venezianische Scharade wird von dem Ort (das Ödland an der Durchgangsstraße) und dem Ding (der rote, hochhackige Schuh) auf die Person geschlossen: die Tote ist eine Prostituierte.
Der Übergang von der Denotation zur Metonymie wird durch Markierungen vollzogen. Im Bereich des Satzes funktioniert das durch grammatische Marker. Ein Wort wie Hund bekommt in einem Satz wie Der Hund bellte die ganze Nacht einen Kontext zugewiesen, der durch die Stellung des Wortes im Satz eindeutig nachvollziehbar ist. Ähnlich den grammatischen Markern funktionieren nun Spuren in der (fiktiven) Welt. Sie zeigen Verbindungen an, und man kann hier durchaus von einer Alltagsgrammatik sprechen.
Marmelade im Kühlschrank verweist darauf, dass die Kühlschrankbesitzer gerne Marmelade essen könnten. Die Marmelade, die zunächst unverbunden (denotiert) dasteht, fügt sich durch den Kontext sofort in ein Gefüge ein, das uns erlaubt, Hypothesen aufzustellen. Solche Hypothesen basieren auf Metonymien. Die Marmelade befindet sich im Kühlschrank (die Metonymie Umhüllung-Inhalt); der Kühlschrank befindet sich in einer Wohnung (Umhüllung-Inhalt); die Wohnung gehört jemandem (die Metonymie Teil-Ganzes: Peters Wohnung "gehört" zu Peter); was in der Wohnung passiert, ist vom Besitzer verursacht (Metonymie Ursache-Wirkung); also ist das Marmeladenglas vom Besitzer "verursacht" (gekauft).
Dieses Beispiel ist sehr konventionell. Marmeladengläser lösen in uns keine Neugierde aus. Im Falle des Krimis werden die Metonymien nun so konstruiert, dass sie Überraschungsmomente enthalten. Der Schuh steckt am Fuß einer Leiche. Die Leiche ist ein Mann, der Frauenkleider trägt. Doch das ist nur der weitergehende Aspekt. Zunächst einmal wird hier ein Tatort begutachtet, und durch diese Begutachtung werden einzelne Elemente nach und nach entdeckt und in Beziehung zueinander gesetzt. Das Entdecken dieser Elemente ist das Denotieren; das In-Beziehung-setzen ist das Metonymisieren.

Der Umgang mit Metonymien

Der rote Schuh spielt zwar nur eine sporadische Rolle in dem Krimi; er führt aber einige wichtige Elemente vor.
Zunächst ist der Schuh in ein Rätsel eingehüllt. Das erste Kapitel enthüllt, dass der Schuh Teil einer Leiche ist. Teil von einem Ganzen, pars pro toto, also die klassische Form der Metonymie. In diesem Fall handelt es sich nicht um ein Weltwissen, durch das der Leser auf den Zusammenhang stoßen könnte, sondern um eine Konstruktion des Autors. Jeder Tatort in einem Krimi ist konstruiert. Die Spuren (auf der narrativen Ebene) sind die konstruierten Metonymien (auf der diskursiven Ebene).
Mit einem Schuh kommen weitere Voraussetzungen: ein Schuh wird irgendwo verkauft. Das heißt, der Schuh verweist auf einen Schuhverkäufer. Genau dieser "Spur" geht Brunetti (der Kommissar in Leons Roman) nach. Dieses gewöhnliche Weltwissen drückt sich in einem gewöhnlichen Satz aus. Der Schuhverkäufer ist in diesem Satz aber noch ein Platzhalter. Es geht nicht um irgendwelche Schuhverkäufer, sondern um diesen einen bestimmten Schuhverkäufer, der diesen einen bestimmten roten Schuh verkauft hat. Alles dreht sich um die Person, die den Schuhverkauf (auch) bewirkt hat, denn dieser Mensch könnte sagen, wer der andere war, der den Schuhverkauf ausgelöst hat (möglicherweise eben der Mörder). In diesem Sinn ist der verkaufte Schuh das Bewirkte, der Schuhverkäufer die Ursache. Auch dies ist eine Art Metonymie.
Freilich darf man hier die Metonymie als rhetorisches Kürzel nicht mit der narrativen Metonymie verwechseln. In der Rhetorik würde eine solche Metonymie so aussehen: Hier lag sie nun auf trauerhalt'gem Grabe. Das Grab enthält keine Trauer, sondern eine Leiche. Die Leiche ist die Ursache der Trauer; so ersetzt handelt es sich um eine Vertauschung von Ursache (Leiche) und Wirkung (Trauer). Die narrative Metonymie ersetzt zwar nach und nach die Wirkung durch die Ursache oder Ursachen. Aber ihr Ziel ist nicht die Poetisierung, sondern ein Stück der Erzählung zu motivieren. Ihr Ziel ist der in ein Stück Erzählung verkleidete Sachverhalt.
Der rote Schuh am Körper zeigt zunächst eine weibliche Leiche an. Roter Schuh steht für das Weibliche; dies ist ein Vertauschen des Substantiellen (weiblicher Körper) mit einem Akzidentiellen (weibliches Accessoire). Als dann entdeckt wird, dass die Leiche männlich ist, wird diese Vertauschung nur leicht abgeändert. Der rote Schuh am Männerfuß (akzidentiell) bedeutet Transvestit (substantiell). Ein Teil von Brunettis Untersuchungen geht dahin, diese Metonymie aufzulösen: die Leiche ist nur zur Täuschung als Transvestit verkleidet, nicht, weil der Mann tatsächlich ein Transvestit war.
Krimis knüpfen und lösen also narrative Metonymien. Diese Metonymien werden durch Spuren wahrnehmbar und lassen sich in Sätzen ausdrücken.

Das Umstülpen der Spuren

Spuren werden zunächst in der (fiktiven) Welt vorgefunden. Sie reihen sich in ein Bild ein (ich hatte dies - etwas weiter gefasst - als Verankerung bezeichnet). Im Laufe des Kriminalromans wird diese räumliche Nachbarschaft in eine zeitliche Nachbarschaft umgeschrieben: vom Tatort zum Tathergang.
Die Spuren werden umgestülpt, die akzidentiell/substantiell-Metonymie in eine ursächlich/bewirkt-Metonymie abgeändert. Vom Bild zum Prozess.

Szenen

Dreh- und Angelpunkt dieses Umstülpens sind die Szenen. Die erste Szene in Venezianische Scharade entfaltet zunächst das Bild, um am Ende zu einer ersten wesentlichen Nachbarschaft zu kommen: dem Schuh am Fuß der Leiche. Mehr erzählt die Szene eigentlich auch nicht. Der Rest ist Leserorientierung, "Stimmungsmache". Die zweite Szene bringt ein weiteres Element: die Leiche ist männlich. Auch dies ist fast schon die einzige Aussage der Szene zu dem Fortgang des Krimis. Alles andere drumherum ist schmückendes Beiwerk.
Man kann so den ganzen Krimi danach durchgehen, wie sich anhand weiterer Spuren mehr und mehr aus dem Bild ein Tathergang ergibt. Zahlreiche Szenen dienen auch dem Auflösen bestimmter Verbindungslinien, um von diesem rätselhaften Zustand dann zu neuen Schlussfolgerungen zu kommen.
In den Sherlock Holmes-Geschichten steht am Anfang fast immer eine Folge von Szenen, wie Holmes und Watson in ein neues Abenteuer hineingezogen werden. Holmes-Geschichten weisen eine sehr typische Nähe von Bild und Tathergang auf: Sherlock Holmes sucht nicht, oder nur sehr wenig, und wenn Holmes einen Tatort besichtigt hat, überrascht er Watson (und damit den Leser) mit seinen raschen Schlussfolgerungen, die dann natürlich immer richtig sind. Die moderneren Krimis beschreiben dagegen die Suchbewegung und lassen den Leser an den Irrungen und Wirrungen beim Lösen des Rätsels teilhaben. Durch diese Suchbewegungen entstehen die Szenen. Wo Holmes in einzelnen, kühnen Sätzen "deduziert", stehen bei Leon Abschnitte mit mehr oder weniger komplexen Handlungen und mehr oder weniger Erfolg. Wie sich also eine Spur in eine narrative Metonymie umwandelt (sobald sie in einer Geschichte steht), wie sich eine narrative Metonymie in einem Satz ausdrücken lässt, so lässt sich ein solcher Satz zu einer Szene ausbauen.

Schluss

Ich bin seit einiger Zeit auf der Suche nach einem guten Grundgerüst und einem Handwerkszeug zum Konstruieren von Krimis. Ich habe hier einen weiteren Schritt vorgestellt, auf den mich meine Untersuchungen geführt haben. Ein Ende ist hier noch lange nicht in Sicht. Mir fehlt noch die Struktur, die einzelnen Elemente, mit denen ein Krimiautor jongliert, um eine Geschichte zum Laufen zu bringen.

05.05.2008

Alternative, poetisch (Komplikation)

Ich bin weiterhin sehr verzaubert von Friederike Mayröcker.
In den ganzen Dichtungen von ihr verzweigen sich die Möglichkeiten des Denkens in die Sprachwildnis. Es sind bezaubernde Holzwege - des chemins, qui menent à nulle part. Nur ist dies nicht ein Versagen der Dichterin, ein gewisses Unvermögen des Ausdrucks Herr zu werden, sondern der Sprache notwendig eingeschrieben.
Es gibt bei Mayröcker den Hang zur Alternative, zur Nebeneinanderstellung, die vage korrespondiert. Dabei handelt es sich nicht nur um Aufzählungen, sondern auch um Alternativen oder Probewörter, die vorführen, wie ein neuer Ausdruck gefunden wird:
dann fällt das Wort WINTERSCHATULLE, VOTIVKINDERHEMD, KOPFBRISE
MB, S. 369

ist das 1 Wolkenwand am Ende der Straße oder das Fossil eines Waldes?
MB, S. 370

das zu Sagende zu Schreibende : eigentlich etwas in Übereinstimmung mit dem Leser
MB, S. 367
Wundervoll fasst Mayröcker die Nebeneinanderstellungen und die Wahl aus einer Reihe von Möglichkeiten in folgendem Gedicht:
EINE GELBE GLADIOLE
ist mein Herz
eine gelbe Perle
ist mein Herz
ein gelber Wald voller
Ahornblätter
ist mein Herz

früher war mein Herz
rot
oder blau
oder grün
oder weisz wie
ein Frühling :

aber jetzt
ist mein Herz gelb.
GG, S. 30
In dem Gedicht wie kommunizierende Gefäsze sagst du (GG, S. 496f.) findet sich ein Stück der Sprachpoetik wieder, selbst in Poesie verwandelt. Hier wird auf der einen Seite der gleichwertige Tausch versucht:
das ist die Hölle sage ich, das ist
das Fegefeuer sagst du, spiegelst orange die Sonne
das ist die Hölle sagst du, das ist
das Fegefeuer sage ich, Hunde- und Autofriedhöfe entlang
und am Schluss:
in Küssen schwelgend schwelgend in Küssen
wobei die Spiegelung in den Satzteilen dem Küssen entspricht, getrennt und doch miteinander korrespondierend.
Die kommunizierenden Gefäße sind ein hin und wieder zitierter topos in der modernen Literaturwissenschaft. Sigrid Weigel zitiert ihn in Entstellte Ähnlichkeit, bei Celan findet man in Atemwende den Gedichtsanfang "LANDSCHAFT mit Urnenwesen. / Gespräche / von Rauchmund zu Rauchmund."
Deleuze schreibt in Proust und die Zeichen von der Figur der geschlossenen Gefäße (S. 95). Diese - nach dem Prinzip Teil-Ganzes organisiert -
hat ihren Wert durch die Opposition einer Nachbarschaft ohne gemeinsame Kommunikation.
Kurz zuvor erläutert Deleuze diese Figur ausführlicher:
Die zweite Figur ist eher die der Komplikation: hier handelt es sich um die Koexistenz asymmetrischer und nicht kommunizierender Teile, sei es, dass sie sich als wohl getrennte Hälften organisieren, oder dass sie sich als entgegengesetzte »Seiten« oder Wege ausrichten, oder dass sie in Drehungen, in Wirbel geraten wie das Rad einer Lotterie, das unveränderbare Lose mit sich führt und manchmal vermischt. Hier besteht die Tätigkeit des Erzählers darin, sich zu entscheiden, auszuwählen; zumindest ist dies seine scheinbare Tätigkeit, denn viele verschiedenartige Kräfte, in ihm selbst kompliziert, wirken sich aus, um seinen Schein-Willen zu bestimmen, um ihn diesen oder jenen Teil in der komplexen Komposition wählen zu lassen, diese oder jene Seite des instabilen Gegenstandes, dieses oder jenes Los im Wirbel der Schatten.
Die Werke Mayröckers bringen diese Komplikation häufig ins Spiel. Sei es, dass sie die Alternativen nebeneinander bestehen lässt und nicht auswählt, sei es, dass sie die Auswahl poetisiert und ihr den argumentativen Gang des Wissenschaftlichen oder Gewöhnlichen entzieht, sei es, dass sie die Auswahl ins Leere laufen lässt; beständig erprobt sie die Mittel neu, sich der Sprache als Kommunikation anzunähern. Das Scheitern erfolgt "automatisch": das Automatische ist bei Mayröcker nicht ein Ausdruck des Seelenlebens wie bei den Surrealisten, sondern besteht gerade im je spezifischen Scheitern der Kommunikation, die sich im Gedicht ausdrücken, aber nicht aufheben lässt; deshalb nutzt Mayröcker zwar die écriture automatique und auch die Aufzeichnungen von Träumen, lässt diese aber nicht unbearbeitet stehen. Im Gedicht Doppelgängerei (GG, S. 455f.) schreibt sie:
ach eintrachtsvoller
Geist du Himmels-
zwirn!, ...
... ich als das Tier
ans Ufer schwamm schnell zu ihm hin, die
Instrumente tief, präziser
Schattenmund und brach : ...
... versprengt
verwüstet strauchelnd ich, die
Kuckucksblume an der Brust
Von der Idealisierung (eintrachtsvoller Geist), über die Entfremdung (ich als das Tier, Schattenmund) und dem Willen, die Beziehung durch Klarheit zu gestalten (die Instrumente tief, präzise kommt das Geständnis des Scheiterns. Der Kuckuck versinnbildlicht das Fremde, das ins eigene Nest gelegt wurde. Und ohne dieses feste Gegenüber verliert die eigene Existenz, die eigene Sprache die Möglichkeit, beherrscht zu werden, wie in ich verliere mich so an die Menschen (GG, S. 495):
diese Brandvokabel : ich bin mein eigener Untertan
als wäre die eigene Haut nicht schon Fremde genug
Die Alternative, die Nebeneinanderstellung, die Aufzählung, die Probewörter zeichnen ein Eindringen dieser Unsicherheit in die poetische Sprache auf, ja sind diese Poesie selbst. Wie sich die Menschen ineinander komplizieren (Luhmann würde Ko-Evolution sagen, oder gegenseitiges Bereitstellen von irreduzibler Komplexität), so komplizieren sich die Wörter ineinander, werden unwählbar, außer in einem Akt der versuchten, der fortlaufenden Entfremdung; diese Entfremdung wird als Opposition zwischen dem Schreiben als Leben und dem Schreiben über das Leben dargestellt, exemplarisch in der geschrägten Opposition Geisterpapier und Taifunstadt:
... man muss mit realen Karten spielen, sage ich, aber man muss transreale Bezüge herzustellen versuchen eigentlich VISIONEN. ...
... aber ich habe keine Wirklichkeitsform, das ist es ...
... wann erreicht mich wieder diese Art FLASCHENPOST VON DRÜBEN, frage ich immerfort. ...
... Victor Hugo z. B. hat er in der Normandie gewohnt oder über die Normandie geschrieben : GEISTERPAPIER / TAIFUNSTADT. ...
... Habe ich den noch 1 menschliches Gesicht? ...
... Beim Schreiben die Selbstentzündung, dann der HERBEIGERUFENE, der Mann mit dem gelben Turban : ...
(MB, die Fabulierblättchen, oder Erinnerung an den Platanenhain in D., S. 367-375)
  • GG = Mayröcker, Friederike: Gesammelte Gedichte 1939-2003, Frankfurt am Main 2004
  • MB = Mayröcker, Friederike: Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main 2001
  • Celan, Paul: Atemwende, in: ders. Gesammelte Werke, Band 2, Frankfurt am Main 1986
  • Weigel, Sigrid: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt am Main 1997
  • Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen, Berlin 1993

03.05.2008

Humor I

Da ich zur Zeit wieder viele "lustige" Bücher lese, beschäftigt mich auch wieder der Humor. Humorvolle Erzählungen sind keine so einfache Sache, wie man sich das vorstellt. Das Abwertende und Zynische, das heute so weit verbreitet ist, kann alleine eine Geschichte nicht tragen.

Millionär von Tommy Jaud
Sieht man sich zum Beispiel Millionär an, ist eine der eindeutigsten Vorteile dieses Buches, dass es eine ganze Reihe von skurrilen Ideen auf eine Schnur zu spannen weiß. Da ich es mittlerweile zu Ende gelesen habe (man ist ja ganz Kampfleser), gibt es eine sehr eindeutige Problematik in diesem Buch: das Ende ist vorhersehbar. Millionär handelt von Simon, der sich seit seiner Entlassung in seinem Hartz IV-Kabuff mit Beschwerdebriefe schreiben den Tag versüßt (oder versauert, wie man's nimmt). Als über ihm eine reiche Trulla einzieht, die sich in einer hipp-infantilen Sprache ergeht und auch ansonsten nichts an Klischees auslässt, steht für Simon fest: das Junkhäschen muss weg. Lösung: Simon kauft das Haus. Vom Hartz IV geht das nicht, also muss eine starke Geschäftsidee her. Parallel zu dieser Geschichte findet Simon in der Callcenter-Agentin Annabelle seine zukünftige Freundin. Parallele Geschichten sind immer sinnvoll, um der Hauptgeschichte einen Kontrapunkt zu geben. In diesem Fall aber wird das Ganze zu einem Problem. Denn die beiden Geschichten treffen sich nicht in einem großen Finale und einer stürmischen Wendung, sondern stolpern ein wenig orientierungslos ins Ende hinein.
Wo läge eine Lösung? Annabelle, also die zukünftige Freundin, müsste in irgendeiner Weise in die Haupthandlung so verwickelt werden, dass sich hier nochmal ein Clinch ergibt. Statt aber hier einen Climax aufzubauen, bringt Jaud eine Enttäuschungsgeschichte. Der Höhepunkt verschwindet in einem "Zufall". Die Geschichte mit Annabelle wird nahezu nebenbei abgehandelt; willkommen im normalen Leben.

Heute ziehst du aus von Kriss Rudolph
Dieses Buch hat einen wahrhaft schönen Plot (wie übrigens auch Millionär). Der Pilot Lorentz Drache segelt nackt aus dem Fenster seiner Wohnung. Beim Vorbeifliegen an den elf anderen Stockwerken werden die Fährnisse lebendig, die er mit den einzelnen Bewohnern der Stockwerke hat. Anders als Jaud setzt Rudolph auf eine vollkommen überraschende Wendung gegen Ende des Buches.
Das Buch hat jedoch gleich mehrere Probleme. Unter diesen ist die Erzählweise sicherlich die gravierendste. Denn zahlreiche Stellen wirken wie Zusammenfassungen von Szenen, nicht wie die Szenen selbst. Hier fehlt die wörtliche Rede, die Handlung, die Perspektive; hier spricht der Autor viel zu deutlich, und darunter verschwinden die Figuren. Nicht umsonst ist eine der wichtigsten Mittel eines Autors die szenische Mimesis. Jaud beherrscht diese; Rudolph auch, aber er scheint sich hier an vielen Stellen darum herumzumogeln. Sehr deutlich spürt man dies an der Hauptfigur. Dieser blasierte Männlichkeitskarrierist ist in seiner Frauenfeindlichkeit so weichgespült, wie es nur geht. Diese Doppeldeutigkeit macht es dem Autor dann möglich, immer zur anderen Seite zu pendeln, so dass jegliche Schärfe verloren geht. Und die fehlende szenische Mimesis verhindert all das, was ein humorvolles Buch auch haben sollte: die Situationskomik.
Denn seien wir mal ehrlich: all diese hübschen Wortverunstaltungen, all die gepflegten Ressentiments bringen uns doch nicht so zum Lachen, wie eine rasante Kehrtwende in einer Szene, eine folgerichtige Skurrilität. Situationskomik eben.

Situationskomik
Eines der schönsten Beispiele aus Millionär ist folgende Stelle:
Simon ruft Annabelle im Callcenter an. Annabelle arbeitet auf der Beschwerdehotline von Procter & Gamble. Simon beschwert sich darüber, dass ihm das Deo die Achselhöhlen verklebt hat. Daraufhin entspinnt sich folgender Wortwechsel:
"Wir haben hier bei Procter & Gamble übrigens gar kein Deo." (sagt Annabelle)
"Na, dann bin ich ja froh, dass ich nicht bei euch im Callcenter sitze." (sagt Simon)
Situationskomik dieser Art basiert auf drei Argumentationsbedingungen: 1. Jedes Phänomen kann auch verschiedene Weise genutzt/betrachtet werden. 2. Ein Satz oder ein Geschehen kann eine Unklarheit schaffen. 3. Die Unklarheit blendet das Phänomen von der einen auf die andere Seite über, was zu einer Verrätselung oder einer überraschenden Wende führt.
Argumentationsbedingungen sind das übrigens deshalb, weil die Welt in Gewohnheiten geordnet ist, also in ausdrückbaren Sätzen. Der Humor, ebenso wie der Einspruch, die Kritik und die Gegenargumentation führen zwei solcher ausdrückbarer Sätze in eine Unvereinbarkeit. Beim Humor geschieht dies aber aufgrund eines bewusst oder halbbewusst produzierten Missverständnisses, das sich sofort löst.
In meiner musikreicheren Jugend ist mir zum Beispiel in der Berufsschule folgender Satz herausgerutscht:
"Ich möchte gerne früher gehen. Ich habe heute Nachmittag ein Vorspiel mit zwei Violinisten auf dem Klavier."
Was die ganze Klasse zum Lachen brachte.

Dies ist natürlich nur die einfachste Variante. Ein zweideutiges Wort wird in einem Kontext gebraucht, der zwar das eine meint, das andere aber mitsagt. So gesehen auch bei der (wohl unfreiwillig witzigen) Werbung:
Deutschland telefoniert blau.
Will man sich so etwas wie eine Übung dazu ausdenken, dann kann man dies folgenderweise tun (übrigens eine Empfehlung von Melvin Herlitzer aus Comedy writing secrets):
Man nehme sich ein Phänomen, z. B. eine Schultüte, z. B. ein Deo, und finde dafür 1. ähnliche Formen mit anderer Funktion, 2. alternative Formen mit ähnlicher Funktion, 3. verschiedene Funktionen desselben Phänomens für unterschiedliche Situationen (zum Beispiel ein Deo verkaufen, ein Deo benutzen).
Man kann dann noch mit den Herstellungsweisen variieren. Darin ist zum Beispiel Mister Bean sehr geschickt. Oft beruht der Witz bei Mister Bean auf dem Mechanismus, einen einfachen Vorgang noch einfacher zu gestalten und dadurch eine Katastrophe zu erhalten. Zum Beispiel will Mister Bean ein Zimmer anstreichen. Da das mühsam ist, packt er Dynamit in einen Farbtopf und sprengt diesen in die Luft. Eine vierte Möglichkeit ist also, sich einen Vorgang zu verschlimmbessern. Dieser Argumentationsgang führt von einem 1. Normal-sein zu einem 2. (skurrilen) Vereinfachen zu einem 3. unerwartete Nebenfolgen haben. - Übrigens ist diese Form des Witzes eine sehr bildliche und deshalb nicht so einfach in Erzählungen anzuwenden. Ich habe diese Art des Witzes in meiner Geschichte Das Einhorn genutzt. Tatsächlich braucht es die ganze Geschichte, um diese eine Wendung zu erzählen. Wo sich also der Film in Sekundenschnelle entwickeln kann, braucht die Geschichte oft viele Seiten.
Schließlich gibt es noch das Missverständnis oder das Unwissen. Wundervoll ist der kleine Dialog zwischen Frau Stör und Herrn Settembrini aus dem Zauberberg (frei zitiert): "Ich leide Tantalusqualen. Man schiebt und schiebt, und wenn man den Stein am Gipfel hat, rollt er wieder zurück." - "Das ist aber nett, dass sie dem armen Tantalus ein wenig Abwechslung gönnen."

Situationskomik besteht also im Kern aus:
1. Umfunktionalisieren,
2. Alternativ-Formen,
3. Konvergenz eines divergenten Gebrauchs,
4. skurriles Umgestalten einer Herstellungsweise und
5. das produktive Unwissen oder Fehlwissen.

Damit Situationskomik funktioniert, braucht man das szenische Erzählen. Wer sich das in Reinform ansehen will, dem seien die Bücher von Arto Paasilina sehr ans Herz gelegt.

Witze machen?
Im übrigen glaube ich nicht, dass man Witze wirklich machen kann. Was ich hier vorgestellt habe, sind eher technische Verfahren, durch die man dann das blitzhafte Verunstalten einübt. Wer also meint, diese Verfahren anwenden zu müssen, nutze sie lieber als Fingeretüden. Das eine oder andere an Lustigem wird dabei schon abfallen. Hoffentlich nicht nur die üblichen Obszönitäten. - Gerade das macht die Bücher von Jaud und Rudolph doch lesbar. Sie ergehen sich nicht nur in sexuellen Peinlichkeiten und dem ganzen Ich Tarzan, du Jane! Greif meine Liane!-Niveau.

02.05.2008

nachtigallen

nachtigallen (adj.)
1 einzelton 1 doppelton oder 1 revier abgrenzen 1 braut anlocken will sagen 1 poetische verteidigung 1 vielstrophigkeit 1 zungenanschlag wir befinden uns in 1 fortdauernden larvenstadium 1 voltierenden sprachentwicklung in der normandie wohnen oder über die normandie schreiben das leben lesen singen ist 1 rudelwerden aus dem stroh entstehen zwei homosexuelle körper in den zwischenräumen blühen röschen rüschen 1 phantastische leibbildung 1 augengeweide 1 hörmond 1 nie schneidende linie (dichter) man lebt ja so tangential so sanft berührend so dämmerungsmahnend ich lerne ständig von benachbarten vögeln will sagen wildern 1 leib werden 1 transsubstantion 1 aneinanderreigen falscher tatsachen 1 fröhliche sprachverschwendung bringt 1 fröhliche genesung

01.05.2008

Die liebe Werbung

Man denkt sich nichts Böses. Und - schwupps! - läuft einem die Werbung über den Weg. Zum Beispiel Anfang dieser Woche. Da strolchte ich ziellos durch einen Supermarkt meiner Wahl, als mir ein großes Plakat ankündigte, dass nun auch hier Telefonkarten verkauft werden. Blaue Telefonkarten. Und der Slogan lautete dementsprechend: "Deutschland telefoniert blau!" - Das erinnerte mich an den seltsamen Menschen, der unbedingt ein Rehfoto auf der Titelseite der TVtotal haben wollte, ansonsten würde er sie abbestellen. Und es erinnert mich an jenen französischen Profifussballer, der Werbung für eine quietschegelbe Limonade machte, mit dem Slogan "France boit noir!" (ungefähr übersetzt mit Frankreich trinkt schwarz und Frankreich betrinkt sich).
Jetzt kann man im Internet die Werbung für ein Haargel bewundern, in dem Pheromone enthalten sind. Pheromone! - Statt wie Steinzeitmännchen die Damen bewusstlos zu schlagen, wird jetzt die chemische Keule ausgepackt. Als ob wir jetzt Nachtfalter wären, wir Männer, und nicht mehr leidgeprüfte Schweine. Und was passiert, wenn nun alle Männer pheromongetränktes Haargel benutzten? Massensex süßkindhafterweise? Und wenn ich nun in die Disco gehe, völlig ohne sexuelle Hintergedanken, und ich in eine Pheromonwolke gerate, die mein Tanznachbar gleich über mich mitausschüttet? Ich mich plötzlich vor Frauen garnicht mehr retten kann? Das erscheint mir grauenvoll. Blutbäder durchzucken meine Phantasie. Ich glaube, ich werde neben rauchfreien Zonen als nächstes lockstofffreie Zonen in Discotheken fordern, oder einfach zu Hause bleiben, mir eine Glatze rasieren und wimmernd über das Wort metrosexuell meditieren.