12.05.2008

Barthes - Kommentare

Wie habe ich mich gefreut, und zurecht gefreut: Gestern fand ich Roland Barthes Die Vorbereitung des Romans in meinem Briefkasten. Barthes schreibt darin, wie immer, über alle möglichen Dinge, und eigentlich ist es nicht zum Zusammenfassen geeignet. Aber er dringt in die Materie mit einer Fürsorglichkeit ein, die mich sehr berührt.
Es ist Barthes letzte Vorlesung. Und das Konzept für eine Vorlesung, die er nie gehalten hat. Am 26. März 1980 starb Roland Barthes, nachdem er von einem Auto angefahren wurde. Hier, in diesen beiden Vorlesungen, vollendet er auf seine Art seine lebenslange Suche nach dem Imaginären des Autors. Vollenden wäre in diesem Fall aber nicht das richtige Wort. Denn der Autor, der einer Barthes'schen Ästhetik gehorcht, wird keinen Roman schreiben, den er vorher konzipiert hat, kein Monument von etwas anderen. Der Roman schreibt sich selbst durch die Intensität, mit der der Autor sucht, mit der er mit dem Stoff ringt.
Das ist freilich etwas anderes als die Art und Weise, sich den Stoff vorher anhand von Regeln zu gliedern.
Seltsamerweise - und weiter bin ich noch nicht in dem Buch - beginnt Barthes mit Haikus. Haikus sind japanische Gedichte, die nach einer strengen Silbenregel und einer strengen Ästhetik gebildet werden. Mit ist noch nicht ganz klar, wohin mich Barthes führen wird (ich bin erst auf S. 119), aber schließlich wird es zu Proust gehen, der etwas ganz anderes schreibt, keine japanischen Dreizeiler, sondern Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Einige Fund- und Kommentierstellen:

Michelet

Als Michelet aus seiner Position am Collège de France entlassen wurde, soll ein Schüler zu ihm gesagt haben:
"Wir haben bei Ihnen nichts gelernt. Nur unsere verlorenen Seelen haben wir wiedergefunden."

Pans Labyrinth

Der Mittelpunkt des Labyrinths ist stets der Ort einer vorgetäuschten Erfüllung, und die Suche nach dem Roman kann ihr Ziel nur im melancholischen Glanz einer Welt trügerischer Erscheinungen finden.
Pans Labyrinth ist einer der Filme, bei denen ich wieder weinen konnte (obwohl die Geschichte selbst mir sehr bekannt ist). Vielleicht auch deshalb, weil diese Parallelwelt, dieses Fantasiereich mir aus meiner Kindheit so vertraut ist. Barthes schreibt in einer Intensität, die dieses Kinderreich in mir wieder aufleben lässt, diese absolut zerbrechliche Existenz des Sprechen-dürfens.
Ich erinnere mich, dass ich vor dem Wald, ab dessen Saum wir lebten, Angst bekam, weil sich etwas darin herumtrieb - jedenfalls meiner Vorstellung nach. Ich sprach nicht darüber, aber ich begann zu schreiben. (Schreiben, um die Angst zu erklären: Als ich Freuds Vorlesungen zur Psychoanalyse las, verstand ich das Kapitel über die Angst nicht. Ich verstand wahrscheinlich auch die anderen Kapitel nicht, aber das Kapitel über die Angst blieb für mich unlesbar. Nichts darin ergab für mich einen Sinn. Erst später: ich habe es in meinem zweiten oder dritten Tagebuch minutiös durchkommentiert und so zuerst über mich und dann über die Angst etwas verstanden. Später entdeckte ich die Widerstände beim Lesen/beim Sinnentnehmen als theoretisches Thema.)

Das Unerbittliche und das Unerträgliche

Das Unerbittliche, das bei Barthes eine so große Rolle spielt, ist der Augenblick, in dem die Interpretation nicht nur versagt, sondern keine Rolle mehr spielt. Es ist der Augenblick des Affekts.
Der Affekt ist hier vielleicht nur (aber was heißt nur?) der Moment, in dem sich die schwankende Ordnung der Begriffe in der Welt erkennt, sich sättigt und vergeht. Begriffe, so vermute ich seit langem, sind kognitive Ordnungen des Sinnlichen. Währenddessen sind die Affekte die emotionalen Ordnungen der Begriffe. Affekte wären demnach Metaordnungen. Affekte sind notwendig für die Begriffe in ihrer Stellung zueinander. Aber weder das Sinnliche noch das Affektive sind rationalisierbar. Es scheint so, als würden die Begriffe von der Nicht-Vernunft verklammert (Nicht-Vernunft ist nicht Unvernunft).
Dem Unerbittlichen gegenüber steht das Unerträgliche. Das Unerträgliche ist
die Verdrängung des Subjekts - welche Risiken die Subjektivität auch enthalten mag: Lieber die Trugbilder der Subjektivität als der Schwindel der Objektivität.
Bei Whitehead finden sich ähnliche Gedankengänge: Die Erfahrungszusammenhänge des Subjekts sind weder subjektiv noch objektiv. Sie sind dem Subjekt vorgängig, als solche objektiv subjektivierend, aber nie statisch (im Sinne einer ewigen Gewissheit), sondern radikal prozessual. Diese Individuation habe ich schon in einer Anmerkung zu Deleuze und einer Anmerkung zu Whitehead beschrieben.
Das Unerträgliche lässt nichts Neues zu. Barthes notiert dazu: Verwerfung des Neuen (=Definition des Kerkers)? Die Typologisierung ist dabei eine der ausgeklügeltsten Formen des Zwanges (die Typologisierung ist produktiv, das Verbot statisch). Es zieht die Wirklichkeit auf einen Code, und katalogisiert / abstrahiert die Phantasmen. Der Katalog selbst macht aus dem Bild ein Konsumobjekt (man kann es nur kaufen, vgl. auch die Redensart: Das kaufe ich dir nicht ab! = Vermischung von Ware und Interpretation). Hier kann man die Codierung der sexuellen Phantasien einordnen: Aus Adäquatheitsgründen bist du Akad., sportl., attrakt., dt.-muttersprachl. u. misst mit Schuhen nicht mehr als 1,74 m. aber auch die codierten Schreibphantasien (Thriller, Krimi, etc.). Dabei ist gerade der Text ein Gewebe, das heterogene Objekt par excellence.
In einen Text, in eine Sexualität, in was auch immer einzudringen, das ist vielleicht diese Unerbittlichkeit, mit der man einem uncodierten Weg folgt und folgen kann. Ähnlich macht es ja Roland Barthes. Er kreist immer wieder um Proust, um die Photographie und das Bild - seine erste Veröffentlichung, der Michelet, behandelt Michelets Lesen von Bildern, sein letztes Werk, noch im Entstehen begriffen, behandelt Photographien von Menschen, mit denen Proust verkehrte. Diese beständige Rückkehr zu den Werken faltet sie auf, wie Blätterteig, sagt Barthes, das Werk sei ein unendlicher Blätterteig, das man Schicht für Schicht zu sich nimmt. (Diese Vorliebe für Metaphern aus dem Bereich des Kochens/Essens ist eine Eigentümlichkeit von Barthes, die er bei Michelet, bei Brillat-Savarin, bei Fourier findet; genießt müsste man sagen.)
Das Unerbittliche steht gegen den Sinn; es ist noch reine Sinnlichkeit, aber eine Sinnlichkeit, die eine Bedeutung einfordert: das macht das Leere und Schmerzhafte des Unerbittlichen aus. Es ist weder bedeutsam noch einordenbar. Es ruft den aggressiven Gestus des Bedeutens erst hervor. Damit stellt es sich aber auch gegen alle gewohnheitsmäßigen Aggressionen, gegen die Schematisierungen, die Typologien. - Das Unerbittliche ist hier sozusagen ein verrücktes "Text"-Objekt, schmerzhaft, aber unbedeutend, aufmerksamkeitsheischend, aber leer. Es ist - wenn man mit Lacan sprechen will, das ideale Objekt des Begehrens. Das Begehren ist bei Lacan immer an einen Widerstand gebunden, ja existiert nur durch diesen Widerstand (letztlich ist dieser Widerstand der Wille, von dem Lautbild zum Vorstellungsbild "durchzubrechen", die arbiträre Mauer, die das Zeichen konstituiert, gewaltsam zu beseitigen). Die Ethik bei Lacan besteht dann darin, in seinem Begehren nicht nachzugeben, unerbittlich zu bleiben, auch wenn man sich immer wieder mit Leere und Schmerz konfrontiert sieht. (Aber alles ist besser, als unerträglich, lau, zombiehaft zu werden; füge ich hier mal dazu.)

Hauptfaktum der Homosexualität

: ständige Vereinnahmung durch einen internen Code, schreibt Barthes. Soviel zur Arroganz einer sog. Minderheit. Nur eine weitere Zentralisierung der Deutungsmacht, ein weiterer paranoider Viktorianismus. (Man müsste statt Homosexualität allerdings Homosexualogismus sagen, schon alleine deshalb, weil dieses Wort genauso sperrig ist wie der codierte Homosexuelle.)

Welle des Antiintellektualismus

Antiintellektualismus : heute : massiv. - Was das ist? Im Prinzip die Abwesenheit jeglicher philosophischer Richtschnur für die Begriffe. Philosophische Richtschnur soll hier bedeuten, dass es eine Auseinandersetzung mit der Metaordnung der Begriffe gibt. Stimmt es, dass die affektive Ordnung der Begriffe die kognitive Seite dieser Metaordnung ist, dann ist die Philosophie die Auseinandersetzung mit den Affekten, dem Gefühlsleben. Sie ist oft indirekt, geht über den Weg der Argumentation, der Begriffsarbeit (fruchtbarster Augenblick der Begriffsarbeit? die kognitive Dissonanz = Affekt).
Richtschnur kann hier sein: Ethik (wie wollen wir miteinander umgehen? wie wollen wir zusammen leben?), Ästhetik (was wollen wir wie herstellen? die Interpreduktion!), Epistemologie (was können wir wissen? wie können wir wissen?), Evolution (woher kommen und wohin gehen wir?), Anthropologie (was ist die menschliche Form?). Natürlich hier: vielfältige Verbindungen untereinander, also keine Typologie, sondern eher ein Modell, das das Nachdenken in die eine oder die andere Richtung lenkt.
Die Medienzivilisation, so Barthes, lehne alle Zwischentöne ab. Alles muss gesagt werden (die Papparazzi); es gibt kein Phantasma und kein Zwischen-den-Zeilen-lesen. Wenn es kein Zwischen-den-Zeilen-lesen gibt, gibt es eigentlich auch keinen Text mehr. Der Text zeigt noch auf das offene Spiel zwischen Gemeintem und Realität. In dem Medientext fällt die Realität mit dem Text zusammen. Auch das ist ein Phantasma, aber eines, was nicht mehr intelligibel ist. Man klebt am Text wie an der Realität.
Hier auch: einige Deutschlehrer, die ich kenne, und die nicht genau wissen, was ein Zeichen ist, nicht mal in der Grundform von de Saussure, geschweige denn in den neueren Theorien, so von Lacan, Barthes oder Eco. Ebenso: die Grammatik. Grammatik hieße, Strukturbäumchen zu malen, immer und immer wieder, als ob man Socken häkeln würde; und den Schülern die gute Form des Satzes einzuschleifen. Grammatik ist aber das Nachdenken über die Strukturen der Sprache. Die Schulgrammatik ist eher eine Technik und gehört damit in den Bereich der (Alltags-)Ästhetik. Sinn dieser Ästhetik kann aber nicht das Verbot falscher Sätze sein, sondern der Umgang mit der Grenze zwischen gewöhnlicher Strukturiertheit und dem Abenteuer des Umstrukturierens (sobald man die Grenze des Gewohnheitsmäßigen übertritt, beginnt das Abenteuer).
Der Antiintellektualismus kann nicht die Reichweite seiner Begriffe ermessen, ihre Extension. Damit verlieren die Begriffe zunehmend an Halt: es gibt sozusagen keine materielle Wirklichkeit, an der sich die Begriffe in ihrer Begrenztheit noch problematisieren. Begrenztheit heißt, auch wenn diese Begrenztheit problematisch ist, "Sinn zu haben". Sinn entsteht durch die dynamische Struktur der Begriffe untereinander. Nur solange die Begriffe noch "im Spiel" stehen, können sie sich individuieren, Sinneffekte erzeugen.
Problem des Antiintellektualismus: gebärdet sich intellektuell, rational, empirisch. Ist im Prinzip aber nur eine Hierarchisierung anhand von Begriffen oder Wissen: über ein Mehr oder Weniger wird die Gesellschaft wieder stratifiziert: ist aber kein Begriff (Werkzeug), sondern eine Skala (Deutungsthermometer für Wohltemperiertheit).

Initiation

Tätigkeit des Vergleichens: statisch; mit dem Vergleich ist man einverstanden, oder man bricht mit ihm.
Tätigkeit des Identifizierens: prozessual; Sprung über Schwellen, die einen noch am Gleich-sein hindern.
Werden: prozessual, aber untergründig; das Werden ermöglicht und ruiniert die Identifikation mit einem Objekt. - Es stellt den eigensinnigen Prozess dar, aus dem ein Wunsch nach einer Identifikation entsteht, aber auch die Schwellen, an denen sich dieser Wunsch gesättigt hat und langweilig wird.
Sich bewusst identifizieren (so, wie ich mich gerade mit Barthes und Mayröcker identifiziere) heißt, sich eine Initiation suchen, d.h. den Punkt, an dem man seinen eigenen Weg gehen wird. Das, mit dem ich mich identifiziere, ist der Vater (ungleich seiner biologischen oder sexuellen Einheit; der Vater kann eine weibliche Person sein). Initiation heißt, den Punkt zu suchen, an dem der Vater keine Rolle mehr spielt, verschwindet (der Vater als psychische Instanz, nicht der reale Vater; ich hoffe, das ist jetzt deutlich). Mann-sein heißt dann, dass man sich vom Vater abgekehrt hat. In der Identifikation hat sich eine Sättigung vollzogen, die den eigenen Weg ausflocken lässt wie sich im salzschweren Wasser Kristalle ausfällen. Mann-sein ist deshalb nie eine globale Eigenschaft (vor allem keine, die dem biologischen Mann zugeeignet wäre), sondern immer nur lokal, spezifisch. Es gibt immer neues und anderes, mit dem man sich identifizieren kann, immer noch ein Identifikationsobjekt, durch das man sich hindurcharbeiten kann, muss, soll.
Problem des "wirklichen" Vaters ist vielleicht, dass er sich keine psychische Vaterinstanz mehr sucht. Vielleicht noch die Karriere, vielleicht noch den ruhigen Lebensabend (aber spätestens durch den kann man sich nicht mehr hindurcharbeiten: man kann nur noch sterben). Problem der "wirklichen" Frau: der symbolische Vater klebt noch zu sehr am biologisch Männlichen; die Frau kann, rein biologisch, kein Mann werden. Deshalb bewusst zu etwas sagen: das ist mein Vater, dort werde ich mich identifizieren, dort werde ich mir meine Initiation holen. Problem der Massenmedien, der Massenkultur: sie geben die Orte der Initiation vor, zum Beispiel die Karriere, zum Beispiel Deutschland sucht den Superstar (hier eine Typologie der Väter: welcher Initiationspunkt wird versprochen und vorgegaukelt?).
Oben habe ich den Begriff der Interpreduktion geprägt. Er fiel mir spontan ein, als Mischung aus Interpretation und Produktion. Interpreduktion kann man vielleicht als die Handlungsseite des Identifizierens, Initiierens bezeichnen: das, was man tun muss, um sich zu identifizieren und um darüber hinaus zu kommen, zum Beispiel das Nachahmen, Beobachten, Vergleichen, Kommentieren, Werten, Dialogisieren, Sättigen. (Wir haben nichts gelernt, nur unsere verlorenen Seelen haben wir wiedergefunden.) (Lange Zeit war die Angst mein Vater: Freuds Vorlesung über die Angst zu kommentieren, hat mir diese Identifikation bewusst gemacht, noch nicht gesättigt: das kam später.)

Antiwissenschaftliche Option

Die Wissenschaft stellt die Frage nach dem Wesen der Dinge: wie etwas gemacht wird oder etwas entsteht, um zu wissen, was es an sich ist. - Die Ästhetik ist die Frage nach der Anfertigung: wie man etwas macht, um es zu reproduzieren.
Wie man sich seine Begriffe macht, wie man sich seinen Vater macht, wie man sich seine Sexualität macht, wie man sich seinen Roman schreibt. - Alles eine Frage der Ästhetik. Einen Roman zu schreiben ist antiwissenschaftlich.

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