Nachdem ich mich mit der Alternative bei Mayröcker geschrieben hatte (zur Zeit sammle ich weiter zu dem Thema), kam mir Alfred North Whitehead wieder in den Sinn. Ich hatte ihn vor vielen Jahren über Niklas Luhmann entdeckt und sehr schätzen gelernt. Vor allem hat er meinen Blick auf zivilisatorische Prozesse sehr verändert.
Zusammengefügtes und Zusammenfügendes
Was mich besonders beeindruckt hat, war das monistische Modell der Erkenntnis, das Whitehead entwirft. Bei ihm steht der Erfahrungsprozess über der Objektivität, ja, tilgt diesen. Das Isolieren der Objektivität sei ein grundlegender Fehler der Weltsicht. Diese könnten schon allein deshalb nicht getrennt werden, da sowohl das Erkannte als auch das Erkennende geschichtlichen Prozessen unterliegt.
Doch auch wenn man dies anerkennt, hat man deshalb noch lange nicht den Prozess der konkreten Erfahrung erfasst. Denn wie Rohmer zu Whitehead sehr richtig schreibt:
Das Verstehen des Zusammengefügten soll daraus resultieren, dass das erkennende Subjekt um sich selbst im Zusammengefügten als das Zusammenfügende weiß und dies ein Wissen ist, das sich auf die Gewissheit - über die dieses erkennende Subjekt offenbar verfügt - der Richtigkeit einer spezifischen Form der Logik gründen soll.Denkweisen, S. 16
Das Zusammenfügen kann zwar gegründet, aber weder erklärt, noch typologisiert werden. Man trifft dies ja ähnlich bei der Neurophysiologie und beim sinnentnehmenden Lesen. Wenn man weiß, wie ein Gehirn funktioniert, kann man deshalb noch lange nicht sagen, was in einem konkreten Gehirn tatsächlich passiert. Und selbst wenn man ein brauchbares Modell des sinnentnehmenden Lesens besitzt, hilft einem das wenig bei der konkreten Diagnose des Leseprozesses weiter.
Modelle fundieren zwar bestimmte Prozesse, aber sie erklären diese nur abstrakt und sind damit als Erklärung nutzlos. Damit will ich Modelle nicht als unnütz darstellen. Aber sie brauchen einen anderen Bezug zu den konkreten Wegen der Erfahrung.
Die Diskrepanz der Erfahrung
Nach Whitehead sind Erfahrungen der Diskrepanz nicht logischer Natur (aber auch nicht antilogischer). Die Diskrepanz in der Erfahrung verweist vielmehr auf ein fundamentales Verhältnis des Selbst und des Selbstverständnisses eines realen, Erfahrungen sammelnden Subjektivierungsprozesses. Dieser Subjektivierungsprozess verweigert sich dem abstrakten Denken. Genauer gesagt ist dieses (sich) subjektivierende Denken nicht abstrakt, sondern partiell. Nur wenn man das Partielle als das Übergeordnete ansieht, wird es abstrakt. Den nämlichen Kritikpunkt findet man ja bei Deleuze: hier ist die Extrapolation jene falsche Logik, die sich aus einer Kette von Phänomenen eines herauszieht und dieses an die Spitze setzt.
Es kann also nicht um das Das! des Denken gehen, auch nicht um das Dieses! des Gedachten, sondern um das Wie? des Denkens. Schafft dieses Wie? eine Erfahrung der Diskrepanz, dann nützt hier eine Wertung wenig. Stattdessen muss man zu den Bedingungen der diskrepanten Erfahrung vorstoßen.
Automatisches Erkennen
Schon die Doppelung des Denkens in ein Dieses! und ein Wie? weist die beständige Wahl zwischen einem Beobachten und einem Überdenken auf.
Zwar ist das automatische Erkennen ein grundlegendes Element des Denkens, aber es bleibt trügerisch (wie übrigens bei Adorno und auch Deleuze). Das Eindringen in die Verbindungen und Verbindlichkeiten eines Elements ist ein möglicher, nicht zwingender Prozess der Erkenntnis. Die Objektivität kann diesen zweiten Schritt nicht oder nicht vollständig gehen.
Modelle
Modelle bilden hier natürlich die Welt nicht ab. Wie Lévi-Strauss sehr richtig sagte, sind Modelle Abbilder eines idealen Funktionierens, nicht eines realen. Wozu dienen also Modelle?
Das Kommunikationsquadrat
Wenn man zum Beispiel das Kommunikationsquadrat von Schulz von Thun betrachtet - es ist ja lange Zeit geradezu ein Prototyp des Modells gewesen -, dann bietet es vor allem die Möglichkeit, zwischen den beiden Prozessformen hin und her zu wechseln.
Das Kommunikationsquadrat stellt eine (sprachliche) Nachricht als zu vier Botschaften zugehörig dar. Diese vier Botschaften sind der Sachverhalt, die Selbstoffenbarung, die Beziehung und der Appell. Sachverhalt ist alles, was auf die "objektive" Welt verweist. Selbstoffenbarung bezeichnet den Teil der Nachricht, in dem der Sprecher etwas über sich selbst ausdrückt. Im Beziehungsteil der Nachricht stellt der Sprecher seine Ansichten über die Beziehungen dar und die Botschaft des Appells soll das Gegenüber zu bestimmten Handlungen oder Einstellungen verleiten.
Die Probleme dieses Modells sollen uns hier nicht interessieren. Wichtig ist nur, dass das Modell nicht auf eine Machbarkeit der Nachricht verweist: ich kann nicht auswählen, dass ich nur einen reinen Sachverhalt ausdrücke. Eine Nachricht hat - wenn man von Thun Glauben schenken will - immer diese vier Seiten.
Setzt man sich mit diesem Modell auseinander, dann bekommt man sofort Schwierigkeiten bei der Identifikation der vier Botschaften. Statt uns Erklärungen zu bieten, erfahren wir eine Diskrepanz. Sehen wir zunächst von der Diskrepanz ab, ermöglicht uns aber das Modell, hier einen Wechsel zwischen dem bloßen Erkennen und der Reflexion auf das Erkannte vorzunehmen. Wir dringen in das Zusammengefügte (hier: die Nachricht) ein, indem wir sie analysieren. Und damit nähern wir uns den Bedingungen des Miteinander-redens an.
Produktive Unruhe
Im weitesten Sinne kann man sagen: Modelle ermöglichen den Wechsel zwischen zwei Formen des Erkennens; sie stellen weniger eine Wahrheit dar, die man zu erkennen hat, als dass sie Prothesen sind, die uns zu diskrepanten Erfahrungen führt. Aus diesen diskrepanten Erfahrungen lassen sich dann neue Hypothesen, neue Begriffe und neue Modelle ziehen.
So scheint sich die Arbeit mit einem Modell ständig auf ein Stimmt! / Stimmt nicht! zu beziehen.
Während das Stimmt! zu einer Identifikation drängt, aber die Gefahr aufweist, oberflächlich zu bleiben und weitere nötige Verbindungen aus dem Auge zu verlieren, verhält sich das Stimmt nicht! widerspenstig. Hier muss man sich die Mühe machen, die eigenen Unsicherheiten auszuarbeiten, neue Strukturen zu entwerfen und neue Begriffe zu erfinden.
Weil sich die Erfahrung mit einem konkreten Sachverhalt und die Erfahrung mit dem Modell dieses Sachverhalts nicht decken, kann dies zu einer produktiven Unruhe führen. Die produktive Unruhe scheint mir bei Whitehead vor allem deshalb notwendig zu sein, weil sie das Denken durchlässiger macht für die Unruhen der Subjektivierungsprozesse. Die Subjektivierungsprozesse bestehen aus Integrationen, aus Ereignissen, die zugleich eine Bedeutung in der Welt vermitteln, als auch eine Struktur, mit dieser Bedeutung umzugehen. Sie gehen dem Subjekt voraus, unmittelbar und unkontrollierbar. Das Subjekt setzt sich, aber es setzt sich, ohne es schon zu "wollen":
Selbsterkenntnis ist aus Whiteheads Sicht im wesentlichen Resultat und Bestandteil eines realen Reflexionsgeschehens, im Rahmen dessen ein Subjekt sich selbst als es selbst in seiner Welt objektiv realisiert und damit als ein Selbst in dieser Welt verursacht. So erscheint es ihm - ebenso wie Hegel - als unsinnig, das Sein des Erkenntnisprozesses vom Sein des Prozesses zu trennen, im Rahmen dessen das Subjekt sich selbst als es selbst, als leib-seelische Einheit, konstituiert. Insofern dieses Sein des Subjektes aus seiner Sicht kein isoliertes Sein ist, sondern seine Realität nur in realgeschichtlichen Integrationszusammenhängen mit anderen Subjekten hat, ist damit jede Erkenntnis nichts anderes als ein Reflexionsgeschehen, in welchem sich die konkrete Entstehungsgeschichte dieses Subjektes als Resultat seiner Vermittlung mit sich selbst und anderen spiegelt.Denkweisen, S. 18
Dadurch, dass das Subjekt sich an Modellen probiert, entstehen gleichsam auf der Rückseite dieser Auseinandersetzung neue Integrationen, neue Subjektivierungsprozesse, letzten Endes also ein bedingt gelenktes, aber absichtsloses Lernen. Wie Sigmund Freud einmal an Ferenczi schrieb:
Theorien soll man nicht machen. Sie müssen einem ins Haus einfallen wie ungebetene Gäste, während man mit Detailarbeiten beschäftigt ist.
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