30.07.2014

Lesekompetenz

Der Begriff der Kompetenz ist ein wirklich seltsamer. Wenn man sich genauer mit ihm beschäftigt, stellt man fest, dass niemand so ganz genau weiß, was das ist. Es gibt keine wirklich wissenschaftliche Basis. Die empirischen Untersuchungen scheitern daran, dass sie den Begriff nur schwer abgrenzen können. Entweder vermeiden sie dann, die Kompetenz auf beobachtbares Verhalten herunterzubrechen, oder sie tun dies, handeln sich aber ein restriktives Verständnis ein, wie man dies häufig beim Begriff der Lesekompetenz findet.

Am Begriff der Kompetenz wird immer wieder bemängelt, völlig zu Recht übrigens, dass er im Prinzip nichts anderes meint als eine gesteigerte Verwertbarkeit des Menschen in einer entfesselten kapitalistischen Gesellschaft. Hier wird häufig die generelle Wahrheit dieser Aussage nicht gesehen: dass die Kompetenz sich vielleicht nur definieren lässt, wenn sie in ein Bezugssystem eingespannt ist. Bevor man also zu einer guten Definition der Kompetenz kommt, muss man das entsprechende Bezugssystem klären.
Damit hat zum Beispiel die Schule ein deutliches Problem. Die Schule ist kein Selbstzweck; sie ist ein Durchlaufsystem. Sie muss damit einen anderen Bezugsrahmen für Kompetenzen setzen als sich selbst, kann diese aber nur im eigenen Rahmen einüben.

Was ich zu den Rezensionen zu Sloterdijks neuestem Buch geschrieben habe, trifft hier ebenso zu. Es gibt nicht DIE Lesekompetenz. In den Diskussionen treffen Menschen aufeinander, die ihre Bezugssysteme keineswegs abgesteckt haben. Es gibt Rezensenten, die fangen diesen Mangel durch Höflichkeit auf, was sinnvoll ist. Andere wieder stabilisieren diese Unkenntnis über die eigenen Bedingungen durch Beleidigungen und Schmähungen, die dann leider überhaupt nichts mehr mit dem Lesen zu tun haben und auch kein gutes Lesen vorführen.
Ich habe so etwas öfter erlebt, zum letzten Mal so deutlich in einer Lesegruppe, die sich „antifaschistisch“ und „kulturkritisch“ geschimpft hat und von denen keiner in der Lage war, die Methoden seines Lesens anzugeben. Eine dieser Teilnehmerinnen war meine Ex-Frau; ich habe mich noch Jahre später gewundert, wie oberflächlich, wie textfern sie liest und wie eher sie hineinliest, was sie sich wünscht, als das, was im Text zu finden ist.

Warum Lesen so vielgestaltig daherkommt, liegt auch daran, dass es nicht diese eine große Kompetenz gibt, sondern zahlreiche Mikro-Kompetenzen, die wahrscheinlich kein Mensch in ihrer Gesamtheit beherrschen kann.
Es ist also sehr einfach, sich gegenseitig eine fehlende Lesekompetenz vorzuwerfen, wenn man nur einen anderen Bezugsrahmen setzt.
Dasselbe geschieht ja mit dem Begriff des Verstehens, der ebenfalls zu undeutlich, zu vielfältig ist, um von einem fehlenden Verständnis oder einer kompletten Durchdringung eines Sachverhaltes jemals reden zu können.

Von unten lesen (Sloterdijks schreckliche Rezensenten)

Einstmals hat mich eine Erfahrung in einem literaturwissenschaftlichen Seminar sehr geprägt; als nämlich die Professorin einen Text, der mir völlig verständlich vorkam, so auseinandergepflückt hat, dass er zunächst unverständlich wurde (für mich) und dann wieder, aber auf eine ganz andere Art und Weise, verständlich. Selten ist mir deutlicher klar geworden, was es bedeutet, am Text zu arbeiten. Vielleicht lag das auch an diesem Schockmoment, durch den die eigene Wahrnehmung ins Gleiten geraten ist und vor den Augen eine ganz andere Welt hat entstehen lassen.

Seitdem ist diese „Mikrolektüre“ (so nannte die Professorin das) zu einer wichtigen Technik geworden. Letzten Endes entdeckt man nämlich bei fortlaufender Beschäftigung mit einem Text oder Textausschnitt (und häufig bleibt es ja bei einem Textausschnitt, denn ein gesamtes Buch der Mikrolektüre zu unterziehen ist wohl eine ewige Arbeit), bei fortlaufender Beschäftigung also entdeckt man ständig neue Konstellationen des Sinns, neue Ebenen, die der Text nie verborgen hat und die man trotzdem erst spät entdeckt.

Frisch auf dem Markt ist ein neues Buch von Peter Sloterdijk, »Die schrecklichen Kinder der Neuzeit«. Es ist ein umfangreiches Buch und vermutlich nicht ohne eine gewisse Kenntnis vorhergehender Werke einzuordnen. Die drei Sphären-Bücher zum Beispiel und ihre Umschrift der Solidarität; jenes »Du musst dein Leben ändern«, welches die Religion durch Übungssysteme ersetzt.
Das neue Buch wiederum erfreut sich sofortiger Diskussionen, die nicht mehr den Inhalt des Buches diskutieren, sondern auf einer äußerst dünnen Basis das Gerangel um die Lesekompetenz und wer darüber bestimmen darf, durchexerzieren. Es ist eine lächerliche Diskussion. Mit Sicherheit sind die Menschen, die aus Sloterdijk nichts anderes herauslesen können als Bodennebel und ultrakonservative Gelüste keine besonders aufmerksamen Leser. Das kann man auch ohne Kenntnis des Buches sagen, da man sich jeden Text verständlich machen kann und da jeder Text immer wieder auf andere Art und Weise verständlich werden kann.
Jene Menschen, die Bücher erwarten, die sofort verständlich, eventuell sogar sofort umsetzbar sind, zählen mit Sicherheit nicht zu den fleißigen Menschen. Zumindest schwimmt bei ihnen am Rande des Horizonts die Idee mit, dass Lesen eine eher passive Haltung darstellt, nicht eine lustvolle und konkrete Aktivität.

Mich erschrecken solche Diskussionen. Ich habe auch gar keine Lust, in sie einzugreifen und sei es durch das Geständnis, dass ich dieses Buch gelesen habe und keineswegs zu so eindeutigen Aussagen kommen möchte. Überhaupt kann ich diesen Meinungen zu Büchern, die ja herauszuspringen scheinen wie der Teufel aus dem Kasten, nichts abgewinnen. Sie sind langweilig, abstrakt, Neid erfüllt und rachsüchtig. Sie empfinden als Elend, das unsere Gesellschaft nicht ausschließlich die Bücher produziert, zu denen man nicht allzu viel zu denken braucht.
Letzten Endes suchen diese Menschen immer noch jenen Gott, der allem Sinn gibt, und sie suchen ihn ausgerechnet an dem Ort, wo Gott wahrscheinlich am wenigsten auftaucht: dem Buch.

23.07.2014

Kleiner Rechenschaftsbericht

Ich hatte letzten Samstag Geburtstag. Hanfried hatte mich zum Grillen eingeladen. Wir haben uns mal wieder sehr angeregt über Geschichte unterhalten, was in diesem Fall natürlich heißt, dass ich vieles nachgefragt habe, weil ich mich überhaupt nicht auskenne und bei meinem Onkel einen höchst kompetenten Gesprächspartner finde.
Für die zahlreichen Glückwünsche zum Geburtstag danke ich. Vermutlich werde ich auf Facebook noch einmal überschüttet. Ich war bloß seit einer Woche nicht mehr da (und finde das weiterhin sehr angenehm).

Seitdem trage ich mich auch mit dem Gedanken, ein paar persönliche Anmerkungen zu den letzten Wochen zu machen.
Zunächst aber muss ich mich darüber auslassen, dass gerade in dem Moment, als ich gestern Duschen gehen wollte, jemand bei mir klingelte. Es war ein Mensch von den Wasserwerken, der mich auf einen Rohrbruch in der Zuleitung zu unserem Wohnblock hinwies und verkündete, dass er für unbestimmte Zeit das Wasser abstellen würde. Ich verzichtete also auf die Dusche und habe stattdessen einige Töpfe mit Wasser gefüllt.
Im Moment klebe ich. Das ist unangenehm. (Aktualisierung: Jetzt, am folgenden Morgen, war immerhin schon jemand da und hat Fotos von dem mittlerweile wieder völlig trockenen Rasenstück gemacht. Dann steht der Reparatur ja nichts im Wege.)

Weiterhin habe ich Muskelkater. Zur Abwechslung mal wieder in den Beinen.

Wie ihr sicherlich gemerkt habt, war ich auf meinem Blog wenig aktiv. Die Arbeit, ihr wisst schon. Tatsächlich habe ich mich aber häufig, nachdem ich nach Hause gekommen bin, an den Computer gesetzt und geschrieben, was ich den Tag über beobachtet habe. Dabei sind viele kleine Betrachtungen entstanden. Irgendwie habe ich es geschafft, viele Theorien zu mobilisieren. Aus diesem Grund sind Notizen auch sehr sprunghaft.
Und selbstverständlich kann ich das nicht veröffentlichen, nicht, ohne dass ich mich der Gefahr aussetzen, dass bestimmte Schüler erkannt werden (was ich nicht will).

Zumindest aber habe ich in den letzten Tagen auch ein paar Bücher gelesen, bzw. angefangen. Eine Didaktik des Sachrechnens ist dabei. Hier lege ich mir Listen mit Methoden/Übungen an und parallel dazu typische Fehler, die Schüler machen können.
Parallel dazu habe ich aber auch zwei Bücher über den Musikunterricht, zwei Bücher über den Englischunterricht.

Wenn ich Zeit habe, stöbere ich auch noch weiter. Ich vernachlässige etwas die Lektüre tagesaktueller Ereignisse aus der Politik. Neulich sagte jemand zu mir, er würde sich dafür überhaupt nicht mehr interessieren; das würde ihn nur depressiv machen. Ich finde ja, gerade weil vieles weiterhin und immer noch nicht gut läuft, sollte man sich möglichst intensiv damit auseinandersetzen. Selbst wenn wir eine gute Bundesregierung hätten, eine, die auf transparente demokratische Prozesse achtet (was leider nicht der Fall ist), müsste man sich mehr mit Politik beschäftigen.
Neulich habe ich im Vorlesungsverzeichnis der Humboldt-Universität herumgestöbert. Vielleicht werde ich im Wintersemester eine Vorlesung in politischer Philosophie besuchen.

21.07.2014

Keep it short and simple

Ich beobachte gerne die Entwicklung des Marketings, vor allem im Internet, seit ich damit selbst massiver konfrontiert bin. Dort entstehen viele gute Sachen und Anregungen, obwohl den Betreffenden ein gelegentlicher Ausflug in die wissenschaftliche Erzähltheorie ganz gut tun würde. Vieles, was das Marketing erst entdecken muss, ist dort bereits ein alter Hut. Ich bin dann immer wieder überrascht, dass bestimmte Inhalte von Marketing-Artikeln für so viel Furore sorgen, da diese teilweise schon im 18. Jahrhundert, wenn auch für andere Medien, bekannt waren.

Erstaunt bin ich auch über die vielen englischen Wörter. Manches ließe sich ohne Aufwand auf Deutsch sagen, zum Beispiel:
Jedes Business braucht eine gute Story (HIER)
Man möchte dann den Autoren jenes Keep it short and simple aus den Verkaufsgesprächen an den Kopf schmeißen, sprich: Informiert auf deutsch! Damit es auch viele Deutsche verstehen.

Parekbase und der verborgene Platz des Erzählers

Weiterhin lese ich im Hintergrund Murakami, insbesondere Mister Aufziehvogel. Neuerdings beschäftigt mich der Homo Faber mal wieder, aber auch die Tagebücher (ich war mit Max Frisch sowieso noch nicht fertig, sondern habe ihn typischerweise zu Gunsten anderer faszinierender Texte verlassen).
Ein ganz wichtiger Aspekt, ihr wisst es ja schon, ist für mich in den letzten Jahren die Erzählperspektive gewesen. Statt von den großen Einteilungen der Erzählperspektive (Ich, personal, auktorial) auszugehen, finde ich die Einteilung in verschiedene Erzähltypen (zum Beispiel erlebender/reflektierender Ich-Erzähler) wesentlich interessanter.

Walter Faber

In Bezug auf Max Frisch bin ich zu einem Ausgangsproblem zurückgekehrt, das in manchen Stellen von Murakami ebenfalls auftaucht. Es handelt sich, grob gesagt, um die Ironie eines Textes. Mein Erlebnis dazu war eine „Fehlinterpretation“ einer Passage aus dem Homo Faber, die ab S. 138 zu finden ist. Der Schüler, dessen Interpretation ich damals gelesen habe, hatte die Sichtweise von Walter Faber als beschränkt bezeichnet und dass er Hanna nicht verstehen würde. Die Lehrerin wollte aber partout hören, dass Walter Faber frauenfeindlich sei. Nun ist Faber nicht gerade ein differenzierter oder sensibler Mensch, wenn es um Frauen geht. Frauenfeindlichkeit allerdings ist ein weiter und auch inflationär gebrauchter Begriff. Ich konnte also die Interpretation des Schülers nachvollziehen (sie war unter anderen Aspekten nicht besonders gut, aber bei einem Schüler der neunten Klasse durchaus verzeihlich), während ich den Dogmatismus der Lehrerin überhaupt nicht verstanden habe.
Liest man sich nämlich diese 4-5 Seiten durch, ohne im Vorhinein die Rolle des (dummen) Unterdrückers und der (klugen) Unterdrückten zu verteilen, stellt man relativ schnell fest, dass sich eine eindeutige Position, wer nun besser oder schlechter zuhören kann, nicht feststellen lässt.

Parekbase

Mit Parekbase oder Parabase ist hier etwas gemeint, was man als einen um sich selbst wissenden Erzähler bezeichnen könnte: ein Autor, der sich in seine Erzählung einmischt und so die von der Fiktion erzeugte Illusion zerstört.
deMan, Paul: Die Rhetorik der Zeitlichkeit. in ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt am Main 1993, S. 116
Nun gibt es verschiedene Arten, wie sich der Erzähler in die Erzählung einmischen kann. In der Kinderliteratur findet man die Einmischung des Erzählers zum Beispiel in Form von Erläuterungen, die Hintergrundinformationen liefern. So beginnt der Räuber Hotzenplotz mit folgende zwei Sätze:
Kasperl und sein Freund Seppel hatten ihr [der Großmutter] zum Geburtstag eine neue Kaffeemühle geschenkt, die hatten sie selbst erfunden. Wenn man daran kurbelte, spielte sie „Alles neu macht der Mai“, das war Großmutters Lieblingslied.
Der zweite Satz ist eine Erläuterung, die vom Autor für den Leser geliefert wird.
Die Ironie, zu deren Stilmitteln die Parekbase gehört, kennt wohl eher den umgedrehten Weg, nämlich wenn sich der Protagonist in die Arbeit des Erzählers einmischt:
Dies ist der Teich, in den ich auf Seite 314 fallen werde.
So oder ähnlich steht es in Fritz Sternbalds Wanderungen (Ludwig Tieck).

Der Erzähler und der Erzählte

Zumindest ergibt sich daraus aber ein wichtiger Aspekt, um mit Texten umzugehen. Auf der einen Seite kann man den Blickwinkel des Erzählers derart betrachten, ob er eher auf eine Person in der Erzählung konzentriert ist, oder sich an den Leser wendet. Es geht dabei also nicht um den Bruch mit der von der Fiktion erzeugten Illusion, zumindest nicht in erster Linie, sondern um die Dominanz einer der beiden zentralen Ebenen des Erzählens, der diskursiven und der narrativen Ebene.
Die andere Seite ist die, und hier handelt es sich tatsächlich um einen logischen Bruch, Bewusstheit des Erzählten (also der Person, die ihr Erzählt-werden „erleidet“) um ihr Erzählt-werden. In der romantischen Ironie spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle. Er gleicht dem Verfremdungseffekt von Brecht, zum Beispiel wenn sich eine Figur über den Bühnenrand hinweg an das Publikum richtet und damit das Geschehen auf der Bühne unterbricht.

Verschleierungen

Der typische Unterhaltungsroman verschleiert den Erzähler und den Willen zu erzählen. Der Leser soll sich in der Illusion des Romans verlieren, als sei dieser die Wirklichkeit. Man spricht von der »willing suspension of disbelief«, der gewollten Aufhebung des Unglaubens.
In einem ganz anderen Sinne hat mich diese Verschleierung aber auch in den letzten Tagen beschäftigt. So schreibt Judith Butler:
Weit davon entfernt, eine grundlegende Gegebenheit zu sein, stellen die Anlagen vielmehr das Ergebnis eines Prozesses dar, der darauf abzielt, seine eigene Genealogie zu verschleiern. Anders formuliert: die »Anlagen« sind die Spuren einer Geschichte zwanghafter sexueller Verbote, eine Geschichte, die nicht erzählt wird und durch die Verbote auch nicht-erzählbar gemacht werden soll. Die narrative Erklärung für den Erwerb der Geschlechtsidentität, die mit der Postulierung von Anlagen einsetzt, verschleiert genau jenen narrativen Ausgangspunkt, der die Erzählung als Selbsterweiterungs-Taktik des Verbots selbst entlarven würde. In der psychoanalytischen Erzählung bilden, fixieren und festigen sich die Anlagen durch ein Verbot, das später im Namen der Kultur auftritt, um die Störungen, die eine ungehemmte homosexuelle Besetzung hervorruft, zu unterdrücken. In dieser Erzählperspektive, die das prohibitive Gesetz als begründendes Moment der Erzählung ansetzt, bringt das Gesetz gleichzeitig die Sexualität in Gestalt der »Anlagen« hervor und taucht zu einem späteren Zeitpunkt hinterrücks wieder auf, um diese scheinbar »natürlichen« Anlagen in die kulturell akzeptablen Strukturen der exogamen Verwandtschaft zu verwandeln. Und schließlich tritt das Gesetz noch in einer dritten Funktion auf, um seine Genealogie als produktiver Faktor zu verschleiern, indem es später behauptet, es hätte das von ihm hervorgebrachte Phänomen nur kanalisiert und unterdrückt: Das Gesetz setzt sich als Prinzip logischer Kontinuität in einer durch kausale Beziehungen gekennzeichneten Erzählung, die psychische Phänomene zum Ausgangspunkt nimmt. Diese Konfiguration des Gesetzes verhindert die Möglichkeit einer radikalen Genealogie der kulturellen Ursprünge der Sexualität und Machtbeziehungen.
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 102 f.
Was Butler hier schildert, ist nichts anderes als eine in die Kultur eingeflochtene selbsterfüllende Prophezeiung. Genau an diesem Punkt hat auch meine Überlegung eingesetzt: es gibt, dies müsste man allerdings genauer darstellen, eine rhetorische Verflechtung zwischen der Naturhaftigkeit und der Dinghaftigkeit der Geschlechter. Wie manche der Anti-Genderisten auf das natürliche Wesen der Frau pochen, so findet man umgekehrt eine Verdinglichung des Mannes, die als Selbst-Verdinglichung ausgewiesen wird. Es ist allerdings ein Unterschied, ob man eine solche Verdinglichung benennt oder den anderen als Ding behandelt.
Gerade diese letzte Unterscheidung kann, sofern sie nicht scharf voneinander getrennt wird, zu einer verdrehten Kausalität führen: weil der Mann von sich selbst entfremdet ist, spricht er eigentlich nicht für sich, und deshalb kann man seine Meinung auch missachten, bzw. an seiner Stelle sprechen und behaupten, was gut ist, für ihn selbst und für die Allgemeinheit. Es ist klar, dass eine solche Behauptung für den Mann in eine Sackgasse führt. Wenn er spricht, dann spricht er nicht, und wenn er nicht spricht, beweist er nur, dass er nichts zu sagen hätte.

Die Autobiografie: ein Bruch

Allerdings lässt sich die Ganzheit des eigenen Erzählens von sich selbst nicht erreichen. Judith Butler weist darauf hin, dass jede Erzählung von sich selbst eine Verdopplung bedeutet, einen doppelten Akt der Kommunikation, den Roland Barthes als diskursive und narrative Ebene angeführt hat. Sie schreibt:
Während ich an meiner Geschichte arbeite, erschaffe ich mich selbst in neuer Form, weil ich dem >Ich<, dessen vergangenes Leben ich zu erzählen versuche, ein narratives >Ich< hinzufüge. Jedes Mal, wenn es zu sprechen versucht, tritt das narrative >Ich< zu der Geschichte hinzu, weil es als Erzählperspektive wiederkehrt, und diese Hinzufügung kann in dem Moment, wo sie die fragliche Erzählung perspektivisch verankert, nicht vollständig erzählt werden.
Butler, Judith: Kritik der ethischen Gewalt, S. 56 f.
Diese Verdopplung entsteht auch, weil das narrative Ich dem erzählenden Ich vorausgeht und umgedreht nicht eingeholt werden kann.
Und hier findet sich ein anderes Merkmal der Parekbase: Sie dreht die logische Zeitlichkeit von narrativem und erzählendem Ich um, als sollte die Reflexion vor dem Erlebnis stattfinden.
Aus der Psychoanalyse kennen wir ein Symptom, das genau diese Umkehrung verwendet: die Hysterie. Der Hysteriker plant nicht sein Leben, sondern spricht so, als müsse es sich notwendigerweise so ereignen. Die Reflexion erschafft das Ereignis als ein faktisches, kann sich aber nicht darauf verlassen, dass es dann tatsächlich so eintritt.
Insofern ist die Hysterie der Autobiografie entgegengesetzt und versucht den Bruch zwischen Erlebnis und Reflexion zu heilen oder zu verschleiern.

11.07.2014

Umbauten

In den letzten Wochen hatte ich immer wieder Muskelkater. Das ist wohl meiner neuen Arbeitsstelle geschuldet. Nachdem ich letztes Jahr durch eine Knieverletzung drei Monate kaum laufen konnte, dann den Winter über ziemlich viel Arbeit am Schreibtisch hatte und mich im Frühjahr sehr um eine feste Arbeit bemüht habe, hatte ich nicht viel Gelegenheit, Sport zu treiben. Im Moment hole ich es wohl nach.

Derzeit lese ich sehr sprunghaft und kommentiere nur nach Lust und Laune. Immer wieder taucht die Erzählperspektive als Thema auf. Wobei ich mich nicht nur um die Erzählperspektive kümmere, sondern ebenso die Erzählsituation und den Erzählertyp in den Blick nehme.
Mittlerweile habe ich auch einiges an Literatur dazu zusammengetragen. Ein fixer Punkt dieser Auseinandersetzung ist das Werk von Haruki Murakami, insbesondere Mr. Aufziehvogel. Mehr und mehr bin ich davon überzeugt, dass die Erzählperspektive/Erzählsituation nicht nur im Nacheinander wechselt, sondern sich auch in Schichten überlagert. Diese Überlagerung funktioniert allerdings nur dann, wenn man bestimmte Elemente dieser Erzählsituation erst im Lesen entstehen lässt. Stanzel schreibt in gewisser Weise eine Theorie der Rezeption, ohne den Akt des Lesens zu berücksichtigen. Insofern ist seine Einteilung auch starr und undynamisch. Dies erklärt unter Umständen auch, warum so viele Menschen mit diesen Erzählsituationen Probleme haben. Sie sind auf der Suche nach dieser einen Erzählsituation, die für den gesamten Roman gilt.
Es macht aber z.B. einen Unterschied, ob ich einen Roman als ironisch oder als ernst gemeint lese. Manche Romane brauchen beides. Dazu gehört meiner Ansicht nach Oliver Twist von Charles Dickens. Ebenso verändert sich die Erzählsituation, wenn ich einen Roman als moralisch-philosophisch oder als klanglich-ästhetisch lese, wie mir dies bei Lautreamonts Die Gesänge des Maldoror immer wieder passiert.

Dies jedenfalls spukt mir alles im Kopf herum. Gerade in den letzten drei Jahren hatte ich doch herzlich wenig Zeit, meinen eigenen Themen zu folgen. Im Moment bricht sich das alles Bahn und kommt mit gewissen Turbulenzen zum Vorschein.
Jedenfalls baut sich mein Leben im Moment komplett um. Ich beobachte das ganze mit einiger Spannung.