31.12.2012

Immer diese Eindeutigkeiten. Fabers Schuld.

Ich hatte mich eine Zeit lang an dem Buch von Claus Gigl (Einfach Deutsch: Homo Faber … verstehen. Schöningh-Verlag) und von Manfred Eisenbeis (Lektürehilfen. Homo Faber. Klett-Verlag) abgearbeitet. Im Moment kommentiere ich ein Buch von Alexandra Wölke, ebenfalls aus dem Schöningh-Verlag und der Reihe Einfach Deutsch. Hier handelt es sich um Unterrichtsmodelle für den Lehrer. Ich hatte zuallererst den Abschnitt über Demeter und Kore gelesen, weil ich zu diesem Thema tatsächlich keinen Bezug herstellen konnte. Und der Abschnitt ist wirklich schön, mit einer vorsichtigen Gleichsetzung. Vorsichtig heißt hier auch, dass die Autorin sich sehr bewusst ist, dass diese Gleichsetzung nur eine Arbeitshypothese ist. Aber es ist eine sehr brauchbare Hypothese.

Trotzdem sollte man mit der Passage auch wieder sehr vorsichtig umgehen, denn die Rolle der Demeter und der Persephone sind in verschiedenen Zusammenhängen unterschiedlich. Das lässt sich für mich besonders gut deutlich machen an einem ganz anderen Gott, nämlich an Hermes. Gigl schreibt in seiner Interpretationshilfe, dass Hermes die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt führe. Diese Rolle von Hermes lässt natürlich über die Schreibmaschine Hermes-Baby einen Interpretationsfaden knüpfen. Andererseits ist Hermes aber auch der Götterbote, der Botschaften aus dem Olymp in die sterbliche Welt bringt und so könnte man die Schreibmaschine als eine Art "göttliches Instrument" sehen. Gigls Problem ist also nicht, dass er hier eine Fehlinterpretation liefert, sondern auf konkurrierende Alternativen nicht eingeht. Und ähnlich scheint mir das bei Alexandra Wölke gelagert zu sein. Es gibt abweichende Mythen von der Persephone.

Wirklich schlimm fand ich aber folgende Behauptung:
"Weil er [Walter Faber] nicht zugeben will, dass sie [Sabeth] gefallen ist, als er ihr nackt zu Hilfe eilen wollte, wird sie nur ungenügend behandelt und stirbt an den Folgen der Kopfverletzung." (10)
Erstens wird nie ein Wort darüber verloren, wie Faber den Unfall gegenüber den Ärzten selbst darstellt. Wir können also überhaupt nicht sagen, dass Faber hier etwas nicht zugeben wolle. Zweitens aber wird die Ironie ausgeblendet: Nicht die Schlange (das mythische Element), sondern die Kopfverletzung (sozusagen das technische Element) ist für den Tod Sabeths verantwortlich. Von einer Kausalität ("weil") kann also nicht die Rede sein.
Man müsste bei den ganzen Interpretationshilfen tatsächlich diese Versessenheit herausarbeiten, Faber in eine grundsätzliche Schuld hineinzuinterpretieren. Hier offenbart sich ein sehr mythischer und deshalb auch sehr unwissenschaftlicher Zug in der Schulliteratur.

Im übrigen halte ich, je länger ich den Homo Faber lese, die Interpretation für umso schwieriger. Eine gute didaktische Reduktion vorzunehmen, halte ich für eine große Herausforderung.

Doppelgänger, und Sekundärliteratur zu Homo Faber

Aus der Ecke der ordentlichen Literaturwissenschaft gibt es kaum ausführliche Texte zum Homo Faber, wie überhaupt viel moderne Literatur ausgeblendet wird. Ich besitze ein Buch zu einem sehr speziellen Thema Elfriede Jelinek betreffend und ein allgemeineres zu Peter Handke. Das kann man aber kaum eine ordentliche Diskussion nennen. Es sieht fast so aus, als habe die Literaturwissenschaft ihren aktuellen Bezug aufgegeben und sich in der Zeit vor 1950 eingeigelt. Nun: Ganz so schlimm ist es natürlich nicht. Aber es ist schon auffällig, wie wenig zu unseren Nachkriegsschriftstellern publiziert wird.

So muss man beim Homo Faber vor allem auf Bücher für die Schule zurückgreifen und diese sind von Lehrern für Schüler oder von Lehrern für Lehrer geschrieben. Die Literaturwissenschaft, die hier eigentlich der Lehrperson die Sachanalyse zu liefern hat, ist, wie gesagt, meist nicht hilfreich, da entweder zu speziell oder gar nicht existent.

Was mich an den Homo Faber im Moment so bindet, ist diese Fähigkeit des Romans, alle Bezüge und alle Zusammenhänge immer wieder zu verunsichern und letzten Endes eine klarere Interpretation unmöglich zu machen.
Dabei interessiert mich zum Beispiel der Doppelgänger als Figur sehr. Es wird immer darauf hingewiesen, dass Professor O. ein Spiegelbild von Walter Faber sei. Und tatsächlich gibt es hier eine gewisse Doppelgängerei. Es gibt aber auch zum Beispiel den Anruf von Faber in seinem alten Appartement, die durchaus ebenfalls einen unheimlichen Doppelgänger bezeichnen könnte (ein typisch romantisches Motiv). Und natürlich gibt es einige Spiegelszenen in dem Roman.
Marcel zum Beispiel, der Kunsthistoriker, den Faber in den Urwald-Ruinen trifft, kann als Doppelgänger von Hanna gesehen werden, wenn auch als schräger und in gewisser Weise negativer. Während Hanna eine den Männern sehr kritische Position einnimmt, wiederholt Marcel einen alten Mythos, der Tod sei eine Frau (hier müsste ich nochmal genauer nachsehen, was Frisch tatsächlich schreibt, deshalb dies nur als Anregung nehmen).

Ich glaube, dass dieser zum Teil extrem ironische Wirbel an Symbolisierungen, die uns Frisch bietet, sehr viel mehr für die Interpretation des Werkes beachtet werden müsste und zumindest teilweise schon von den Schülern in der Mittelstufe geleistet werden kann.
Und was mich ebenfalls sehr fasziniert, ist diese verbissene Wut, mit der die Interpreten Walter Faber sterben lassen wollen. Als ob sie sich an der Romanfigur (die Frage ist bloß wofür?) rächen wollten. Oder als müssten sie sich aus Unsicherheit an dem Tod als letzte Sicherheit festhalten, weil sonst die Interpretation nicht mehr funktioniert.

Analogieschluss. Spezifischer: ich, der Antisemit!

Ende November bekam ich auf eine Buchrezension vom Autor eine sehr böse Antwort. Zugegeben: freundlich bin ich mit dem Autor nicht umgegangen. Er hat eine Interpretationshilfe zum Homo Faber geschrieben und darin unter anderem behauptet, Walter Faber sterbe am Ende des Romans. Dies und zwei andere Kritikpunkte habe ich exemplarisch aufgeführt (es sind noch einige mehr), den Autoren einer schlechten Interpretation geziehen und nur einen Punkt vergeben mit der Aufforderung, die Finger von diesem Buch zu lassen.
Nein, das hat dem Autoren gar nicht gefallen!

Seine Antwort, warum seine Interpretation (die vom Tod Fabers) richtig sei, hat er versucht, mit dem Analogieschluss zu begründen. Ich habe ihm darauf hin einen falschen Gebrauch des Analogieschlusses vorgeworfen und dies in einem Artikel auf suite101 allgemein für die Literaturinterpretation genauer ausgeführt (Der Analogieschluss in der Literaturinterpretation).

Vor zwei Wochen habe ich dann eine E-Mail bekommen, wohl von einem anderen Deutschlehrer, der den Analogieschluss als richtig eingesetzt verteidigt hat. Nun, er hat ihn nicht verteidigt, sondern er hat einfach behauptet, dass das so richtig sei. Auf eine Nachfrage, was er damit meine, hat er die Richtigkeit des Analogieschlusses als Behauptung wiederholt (Marke: Analogieschlüsse sind richtig, weil sie richtig sind).
Ich habe ihm dann versucht zu erklären, warum Analogieschlüsse keinesfalls unter solchen Umständen zu Wahrheiten führen und zwar, ich gebe es zu, mit einem höchst moralischen Thema. Ich habe nämlich folgenden Analogieschluss konstruiert: „Ich habe noch nie Außerirdische gesehen. Außerirdische existieren nicht.“ (das ist die eine Seite des Analogieschlusses) und dies dann folgend ergänzt: „Ich habe noch nie Auschwitz gesehen. Auschwitz existiert nicht.“ Und schreibe noch danach: „Einer solchen Schlussfolgerung kann man doch nicht allen ernstes zustimmen.“
Ergebnis dieses kleinen E-Mail-Verkehrs war, dass ich als übler Antisemit beschimpft wurde. Das hat mich nun wirklich erstaunt.

Das Beispiel des Analogieschlusses von Außerirdischen auf Auschwitz zeigt übrigens die tatsächliche Gefahr und das tatsächliche Problem von solchen Analogieschlüssen. Solche Schlussfolgerungen erhalten ihre Konsistenz aus der empirischen Basis. Aber schon hier muss man aufpassen: Konsistenz heißt noch lange nicht Wahrheit. Letzten Endes müssen Analogieschlüsse, die die schwächste und unsicherste Art der Schlussfolgerungen darstellen, möglichst durch bessere und sicherere Schlussfolgerungen ersetzt werden.
Ob dort jemand durch die Welt läuft, sich vorstellt, dass Walter Faber stirbt oder sich grün anpinselt, das ist mir doch eigentlich ziemlich egal. Methodisch aber habe ich hoffentlich deutlich gemacht, wohin eine solche Argumentationsweise im Zweifelsfall führen kann: zu einer Auslöschung von Tatsachen (also zum Beispiel zur Leugnung von Auschwitz). Und das finde ich dann überhaupt nicht mehr lustig.

30.12.2012

Kleine, weibliche Lesezirkel

Ich hoffe, Ihr hattet ein schönes Weihnachtsfest. Ich bin seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag schon wieder da, habe aber viel am Schreibtisch sortiert, zwischendurch ein wenig gelesen und vorgestern war ich den ganzen Tag bei meinem „Porno“-Klaus (das ist ein Insiderwitz).

Was der Unterschied zwischen neuen und alten Romanen sei. Sie müsse darüber eine Facharbeit verfassen. Fragt eine junge Frau auf Facebook. Und bekommt dienstbeflissen die Antwort: Odysseus, die Zerstörung von Troja.
Eine andere, etwas übereifrige Antwort war: klassische Romane sind immer dicke Romane und nur dicke Romane werden klassische Romane. Man werde Harry Potter und Twilight auch in 100 Jahren noch lesen, weil die dick seien.

23.12.2012

Belastungsbremse und Leistungsgerechtigkeit

Ich hatte vor einigen Tagen bereits auf den sehr schönen Artikel von Hans Hütt hingewiesen: Feuerkraft aus der Belastungsbremse.

Herr Hütt und ich sind uns übrigens in diesem Fall nicht so ganz einig, was eine Katachrese ist. Und in diesem Fall bin ich mir nicht so ganz sicher. Es geht um das Wort Belastungsbremse.
Ich hatte die Katachrese in einen referentiellen und einen metaphorischen Teil eingeteilt. Der metaphorische Teil metaphorisiert den referentiellen. Beispiel: Stuhlbein. Stuhl ist der referentielle Teil, Bein der metaphorische. Allerdings ist diese Katachrese mittlerweile so konventionell, dass wir sie kaum noch als rhetorische Figur anerkennen würden.

Auf jeden Fall ist das Wort Belastungsbremse eine doppelte Metapher und das ist das eigentlich Spannende. Was metaphorisiert eine Metapher, wenn sie eine Metapher metaphorisiert?
Doch machen wir langsam. Last ist ein physikalischer Begriff, Belastung ebenso. Der eine bezeichnet ein Gewicht in Bezug auf das Material eines Trägers (zum Beispiel: dieser Holzbalken trägt die Hauptlast des Daches), der andere (Belastung) dagegen bezeichnet eher die Kraft, die vom einen zum anderen Gewicht wirkt.
Metaphorisch ist die Belastung in diesem Fall, weil kein physikalischer Vorgang bezeichnet wird. Belastet wird das Privatvermögen.
Ähnlich kann man jetzt das Wortbremse aufschlüsseln. Bremse ist ein Wort aus dem Bereich der Mechanik.

Bei Komposita ist es immer schwierig zu sagen, ob es sich um einen genitivus objectivus oder genitivus subjectivus handelt. In diesem Fall: handelt es sich um eine Belastung der Bremse oder um eine Bremse der Belastung? Jedenfalls lässt sich dies häufig schon nicht bei einem unmetaphorischen Kompositum leicht sagen. Bei diesen metaphorisierenden wird es nun völlig wild. Denn was hier wie und wo übertragen werden soll, bleibt recht unklar. Das meint Hütt wohl auch damit, wenn er zum Schluss die Hypothese in den Raum stellt, Lindner würde sich einfach mit seinen Metaphern berauschen.

Ein anderes schönes Wort: Leistungsgerechtigkeit. Lindner fordert Leistungsgerechtigkeit. Aber das ist schon im Ansatz falsch, da das Geld ein Signifikant für das Signifikat Arbeit ist, das Geld eher eine Axiomatik, denn ein Ausdruck. So existiert auf der grundlegenden Ebene schon kein kausaler Zusammenhang zwischen Arbeit und Geld, sondern lediglich ein konventioneller. Ob ich für ein Buch sieben oder acht Euro ausgeben muss, ist ja keine natürlich gewachsene Sache, sondern auf der Entscheidung von irgendjemanden beruhend.
Wollte man die Leistungsgerechtigkeit tatsächlich ernst nehmen, also das, was die Menschen tatsächlich produzieren und nur dieses, mithilfe ihrer Arbeitszeit, dann müsste man bei manchen der besser Verdienenden auf jeden Fall den Spitzensteuersatz knapp unter 100 % ansetzen.
Nun bin ich gar nicht gegen die gut verdienenden Wohlstandsbürger. Ich finde das ja immer ganz niedlich, wenn sich einer dieser Luxuskinder mit seinem Ferrari um einen Baum wickelt und dann die Mutter gezeigt wird, wie sie versucht unglücklich auszusehen und dabei nur ihre Gesichtsoperationen ein wenig hin- und herschiebt. Mir geht es zunächst nur darum, dass hinter dem Wort Leistungsgerechtigkeit, das dem Herrn Lindner so einfach über die Lippen kommt, ein sowohl ökonomisch als auch ethisch höchst komplexer Zusammenhang steckt. Da kann man nicht einfach so ja dazu sagen, genauso wenig wie nein. Da muss man erstmal nachdenken, den Sachverhalt auflösen und die Zusammenhänge erläutern. Und dann kann man sich vielleicht um die Leistungsgerechtigkeit tatsächlich auch mal politisch kümmern. Lindner jedenfalls wird das nicht.

19.12.2012

Mehr Wut, mehr Analyse

Manchmal ertrage ich einfach diese Kindle-Autoren nicht mehr. Ich finde es ja eigentlich sehr lobenswert und interessant, dass der Büchermarkt nun allen Menschen offen steht und jeder seinen Beitrag leisten kann. Aber manche Menschen veröffentlichen hier und haben noch nicht mal den Ansatz eines Sprachgefühls. Vielleicht werde ich später über einige der Autoren lästern.

Dagegen gefällt mir einiges in der Blogsphäre sehr sehr gut. Ich möchte, wie bereits des öfteren, auf den sehr lesenswerten Rhetorik-Blog von Hans Hütt und seinen letzten Artikel Metaphernschule: Feuerkraft aus der Belastungsbremse hinweisen. Dazu werde ich auch nochmal etwas schreiben, einfach, um ein paar Anbindungen an mein theoretisches Vokabular zu ermöglichen. Was Hütt als Metapher bezeichnet, bezeichne ich vorwiegend als Katachrese.

Eine gute rhetorische Analyse findet man auch immer wieder bei Feynsinn. Sein letzter Beitrag: Du gehörst dir nicht.

Was mich an beiden Bloggern sehr überzeugt, ist ihre Fähigkeit, Sprache zu analysieren. Hier zeigt sich auch die wesentliche Aufgabe einer guten Rhetorik: sie klärt über die sprachlichen Machenschaften auf. Und es ist ein wichtiges Gegengewicht gegen die üble Tendenz, Sprache nicht nur manipulierend zu gebrauchen, sondern sich auch noch damit zu brüsten: Alter Wein in alten Schläuchen.
Mehr denn je braucht unsere Gesellschaft solche Menschen: solche, die analysieren können, auch wenn sie deutlich die Wut über die aktuellen Zustände umtreibt.

Verharmlosung von Morden an Frauen; geschmacklose Berichterstattung

Die Denkwerkstatt, ein Blog, den ich gerne lese, veröffentlicht leider viel zu selten, aber neulich eben mal wieder: Verlinkt.

Familientragödie

Vor einigen Tagen wurde in Österreich eine Mutter vor dem Kindergarten niedergestochen, aus dem sie ihr Kind abholen wollte. Täter war der Ehemann. Warum aber, so fragt sich die Bloggerin  zurecht, wird dies als Familiendrama bezeichnet. Das ist kein Familiendrama. Das ist Mord. Und dann natürlich auch ein Familiendrama. Vor allem für das Kind. Aber Mord taugt als Wort wohl wenig. Schließlich ist der Krimi das beliebteste Genre im deutschsprachigen Raum. Drama dagegen hört sich nach einer großen Erzählung an, nach Leidenschaft, nach Untreue, Lügen und ähnlichem.

Tickernde Geschmacklosigkeit

So titelt diestandard.at und kommentiert die wirklich üble Idee, am Ort des Verbrechens einen so genannten Live-Ticker über die Geschehnisse einzurichten. Das Ergebnis ist nicht nur eine journalistische Katastrophe, sondern auch von herausragender ethischer Geschmacklosigkeit.

Was mich an der ganzen Sache so fasziniert, ist dieses eigenartige Ineinander von Verharmlosung und Skandalisierung. Die Frau als Opfer wird verharmlost, aber die Tat als solche ist einer mehrminütigen Berichterstattung wert. Das ist eine doppelte Missachtung des Opfers.
Es ist aber für alle Frauen auch ein Schlag ins Gesicht. Eine Abwertung feministischer Errungenschaften. Das Wort Familiendrama nämlich suggeriert, dass die Familie geschädigt wurde und zwar erst gerade im Moment. Was aber heißt das, wenn der Mann bereit ist, seine Frau zu erstechen? Hat das Drama nicht schon wesentlich früher stattgefunden? Und muss sich die Frau selbst noch in ihrem Opfersein der Familie unterordnen? Der Feminismus ist doch mal angetreten, genau solche Zusammenhänge aufzulösen und nicht mehr zuzulassen. Gilt dies alles nicht mehr?

15.12.2012

Eine wunderbare Analogie: Papst und Gerhard Schröder

Dass die Analogie ein wunderbares Mittel für das Kabarett ist, zeigt Volker Pispers:
Um die Armee finanzieren zu können hat der Schah von Persien in guter amerikanischer Menschenrechtstradition seine eigene Bevölkerung derart unterdrückt und geknebelt, dass die verzweifelten Perser sich eines Tages hinter einen religiösen Führer gescharrt haben, um den Diktator loszuwerden. Der religiöse Führer hieß Ayatollah Khomeini. Da ist jetzt sympathisch nicht das Wort der Wahl. Sie spüren aber schon, wie verzweifelt die Perser gewesen sein müssen. Oder ahnen Sie das Ausmaß an Verzweiflung, das notwendig wäre, dass Sie sich hinter den Papst stellen, um Gerhard Schröder los zu werden?

12.12.2012

Phil Collins, singt

"Was macht eigentlich Phil Collins zur Zeit?"
"Seit wann bist du denn nicht mehr im Supermarkt gewesen?"
Nachtrag 19.12.2012:
Irgendwie verstehen die Menschen diesen Witz nicht.

11.12.2012

Blöde Bauernweisheiten

Gerade habe ich mit meinem Bruder telefoniert (meinem jüngsten) und er hat mir folgende Bauernweisheit  mitgeteilt:
Hat der Bauer Hühneraugen, trägt er Schuhe, die nichts taugen.
Johannes Flörsch hat mich neulich mit folgender Definition belustigt:
Ein anderes Wort für nymphoman: zwangsläufig.

Mikrologik IVd: Zimmer 1408 (Stephen King)

Ich habe zwischendurch etwas gekränkelt und dann die liegen gebliebene Arbeit aufholen müssen. Deshalb meine immer nur kurzen Stippvisiten im Blog. Außerdem habe ich mich etwas intensiver mit Herz von Midlothien auseinandergesetzt. Ich dachte mir, ein etwas älterer und spannender Erzähler wäre vielleicht auch mal ganz gut. Aber dieser Roman ist wiederum so symbolisch, dass er den normalen Spannungsgesetzen, also denen des modernen Spannungsromans, nicht folgt. Er eignet sich also nur schlecht für das, was ich darstellen möchte.
Hier noch einmal die Links zu den vorhergehenden Blog-Artikeln:

Zimmer 1408 (in: King, Stephen: Im Kabinett des Todes. Seite 463-513)

Moderne deutsche Spannungsliteratur scheine ich auch nicht zu besitzen (außer drei Romanen von Zoe Beck  und einer ganzen Menge schlecht geschriebener Thriller, die es nur als Kindle gab/gibt). Also greife ich doch wieder auf die guten alten amerikanischen Autoren zurück. Diesmal King. Wer die Geschichte weder aus dem Buch noch aus dem Film kennt: Protagonist ist ein mäßig erfolgreicher Autor, der Orte des Spukes untersucht und beschreibt, diesmal eben das Zimmer 1408 in einem Hotel. Der Direktor des Hotels versucht ihn davon abzubringen. Am Anfang verweigert er ihm sogar überhaupt die Möglichkeit, das Zimmer zu mieten. Der Autor muss sich diese Möglichkeit durch seinen Rechtsanwalt erkämpfen.
Beginnen wir erstmal wieder mit der Makroebene der Motiviertheit. Wie viele Gespenstergeschichten, basiert diese auch auf dem Spruch „curiosity killed the cat“. Der Drang, etwas Unbekanntes zu erforschen und dabei ein Geheimnis zu lösen steht einer tödlichen und befremdlichen Macht entgegen. Nicht umsonst könnte man zum Beispiel Conrads Herz der Finsternis fast als eine Gespenstergeschichte bezeichnen.
Auf jeden Fall gibt es auf Seiten des Protagonisten eine starke Eigenmotivation. Irgendjemand ist eigentlich immer „fast besessen“ (Besessenheit bedeutet eine Motivation über den gesunden Menschenverstand hinaus). Dies ist die Position des Autors in dieser Kurzgeschichte. Er will auf Teufel komm raus das Geheimnis des Zimmers ergründen. Auch die Position des Hotelmanagers ist sehr deutlich: er will eigentlich um jeden Preis den Journalisten davon abhalten, eine Nacht in dem Zimmer zu verbringen.
Es gibt aber noch einen dritten Handlungsträger: das Geisterzimmer selbst. Und hier wird es sehr schwierig, Motive anzugeben. Wollte das Zimmer nämlich einfach nur seine Bewohner umbringen, ginge das wesentlich schneller. Wozu also der ganze Hokuspokus? Man weiß es nicht. Der Spuk ist ein Phänomen, dessen Motiviertheit man nicht kennt.
Auf der Mesoebene der Motiviertheit fallen bei einer Kurzgeschichte wie dieser oftmals die großen Motiviertheiten und die Szenen-Motiviertheiten zusammen. Der Hotelmanager zum Beispiel hat eigentlich nur einen einzelnen Wechsel seines Bedürfnisses und damit einen einzelnen Wechsel seines Motivs. Zunächst möchte er den Autor aus dem Zimmer draußen halten, dann willigt er missmutig ein, weil er sowieso nichts anderes tun kann.

Die Szene selbst (Seite 466-467)

Der Autor sitzt ein letztes Mal in dem Büro des Hotelmanagers. Und ein letztes Mal versucht dieser, den Journalisten zu einer anderen Meinung zu bewegen. Der Autor heißt übrigens Mike Ensslin, der Hotelmanager einfach Mr. Olin. Um später besser verweisen zu können, nummeriere ich die Sätze durch.
(1) Mike setzte sich vor den Schreibtisch. (2) Er hatte erwartet, Olin werde dahinter Platz nehmen, aber Olin überraschte ihn. (3) Er setzte sich in den Sessel neben Mike, schlug die Beine übereinander und beugte sich dann über seinen straffen kleinen Schmerbauch nach vorn, um den Humidor zu berühren.
(4) »Zigarre, Mr. Ensslin?«
(5) »Nein, danke. Ich rauche nicht.«
(6) Olins Blick fiel auf die Zigarette hinter Mikes rechtem Ohr – in einem flotten Winkel geparkt, wie in alten Zeiten ein Witze reißender Reporter seinen nächsten Glimmstängel genau unter dem im Band seines weichen Filzhuts steckenden PRESSE-Ausweises hätte parken können. (7) Die Zigarette war so sehr Teil seiner selbst geworden, dass Mike im ersten Augenblick wirklich nicht wusste was Olin anstarrte. (8) Dann lachte er, nahm sie, nahm sie herunter, betrachtete sie und sah wieder zu Olin hinüber.
(9) »Hab seit neun Jahren keine einzige mehr geraucht«, sagte er. (10) »Mein älterer Bruder ist an Lungenkrebs gestorben. (11) Nach seinem Tod habe ich das Rauchen aufgegeben. (12) Die Zigarette hinter dem Ohr …« (13) Er zuckte mit den Schultern. (14) »Halb Affektiertheit, halb Aberglauben, denke ich. (15) Wie das Hawaiihemd. (16) Oder die Zigaretten, die manche Leute auf ihrem Schreibtisch stehen oder an der Wand hängen haben – in einem verglasten Kästchen, auf dem IM NOTFALL SCHEIBE EINSCHLAGEN steht. (17) Ist 1408 ein Raucherzimmer, Mr. Olin? (18) Nur für den Fall, dass ein Atomkrieg ausbricht?«
(19) »Es ist tatsächlich eines.«
(20) »Nun«, sagte Mike nachdrücklich, »das bedeutet eine Sorge weniger bei der Nachtwache.«
Rituale. Unter dem Aspekt der Motiviertheit kann man Rituale als feststehende Handlungsweisen sehen, die auf feststehende Weise irgendetwas befriedigen. Obwohl solche Rituale wahrscheinlich immer auf Bedürfnissen beruhen, verschwinden diese. Das Ritual ist sein eigenes Bedürfnis. In diesem Fall zum Beispiel: sich geordnet im Büro des Hotelmanagers hinsetzen.
Überraschung. In Satz (2) wird die Motiviertheit direkt angesprochen. Mike hatte erwartet …, aber Olin … — Solche kleinen Brüche, die kaum etwas Dramatisches darstellen, sind hervorragend zur Charakterisierung geeignet. Olin gibt sich nicht von oben herab. Er baut auch keine Distanz auf (was passieren würde, wenn er sich hinter den Schreibtisch setzen würde). Ein Stück weit im folgenden Dialog wird klar, dass er versucht, Mike auf der Ebene des Kumpels zu erwischen und ihn dadurch von einer Übernachtung abzuhalten. An dieser Stelle aber zeigt er vor allem eine gewisse Coolness. Er hat es nicht nötig, sich als Manager aufzuspielen.
Ab dieser Stelle, Satz (4) bis (16), wird nun die sehr private Motiviertheit von Mike erzählend auseinandergefaltet. Die Zigarette wird in ein Gespinnst aus kleinen Informationen eingeflochten. King macht sowas gerne. Es gibt immer wieder solche Gegenstände, deren Geschichte und deren Erlebnisse erzählt werden. Wenn ich mich recht erinnere (ich bin jetzt zu faul, nachzuschauen), dann nennt Genette dies Digression, die Abschweifung. Sie dienen weniger der Geschichte selbst, also dem Plot, als der Charakterisierung.
Die ganze Passage ist allerdings auch deshalb so günstig, weil sie sehr dicht an den sinnlichen Wahrnehmungen dran bleibt. King schafft es, anhand einiger weniger Aussagen eine ganze Szenerie aufzubauen: Mikes Schusseligkeit, der Tod seines Bruders, der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch, das Rauchen durch diese eine, letzte Zigarette zu bannen.

Es mag euch vielleicht wundern, dass ich hier, obwohl es um Bedürfnisse geht, so wenig davon schreibe. Tatsächlich scheinen diese Bedürfnisse als „diffuse“ Möglichkeiten unterhalb der erzählerischen Ebene durch. Es geht hier eher darum, ein Gefühl für dieses „Schneegestöber“ winziger Motivationen zu bekommen, das gute Autoren wie selbstverständlich in ihren Text einbauen. Tatsächlich lassen sich viele dieser Motiviertheiten nicht präzise ausdrücken, ja noch nicht einmal richtig benennen.
Und trotzdem erscheint es mir sinnvoll, diesen nachzugehen und einen Text darauf hin zu lesen.

09.12.2012

Großartige Musik

Ein großartiges Stück Musik: Johnny Cash Hurt.
(Ich habe heute irgendwie Probleme zu schreiben. War stattdessen spazieren. In Berlin schneit es, mal in großen Flocken, mal fein und grisselig. Und auf jeden Fall ist es ziemlich kalt.)

03.12.2012

Haare, liebe Zombies, Haare

Ich liebe ja den ersten Resident Evil-Film. Besonders beeindruckend finde ich, dass alle Schauspieler rechtzeitig vorher beim Friseur waren.

Präzise Definition

Ich (das ist in diesem Fall der Papa von Moritz, Moritz ist drei): Moritz, du redest schon wieder von Sex. Du weisst doch noch gar nicht, was das ist.
Moritz: Doch, nackig ausziehen und dann tanzen!

02.12.2012

Kafkaesk

Auch wenn meine Bewertung nicht so gut ausfällt, so soll sie niemanden davon abhalten, das Buch zu lesen. Ich finde sogar, dass man dieses Werk gelesen haben sollte. Schließlich gehört es zur Kriminal-Literaturgeschichte.
So beurteilt Leseratte den Prozess von Kafka. Kriminal-Literaturgeschichte? Na, da verwundert es mich nicht, wenn die Autorin verwirrt ist.

29.11.2012

Antisemitismus, noch einmal

Jakob Augstein beklagt den inflationären Gebrauch des Wortes Antisemitismus. Broder stichelt zurück. Und ich versuche gerade, die Rhetorik dieser beiden Herren in den Griff zu kriegen.
Das ist übrigens von Mal zu Mal für mich schwieriger. Durch meine Beschäftigung mit der Logik in ihren „Feinheiten“ verkompliziert sich die Sache extrem. Früher habe ich vor allem rhetorische Figuren untersucht. Aber hier bin ich ein ganzes Stück weit den Trugschlüssen moderner, populärer Rhetoriken aufgesessen, die dieses Gebiet mit dem sprachlichen Schmuck gleichsetzen. Die zweite Phase der Redegestaltung, die dispositio, ist allerdings immer die Ausgestaltung der Argumentation und gehört damit zur Argumentationslehre, bzw. zur Logik.
Ich mag Broders Text nicht wirklich. Aber in einem hat er auf jeden Fall recht: Antisemitismus beginnt nicht erst mit dem Holocaust. Und der Begriff ist nicht gut definiert. Auch darin hat Broder recht. Auf der anderen Seite bin ich aber auch strikt dagegen, den jüdischen Glauben und die israelische Staatsräson gleichzusetzen. Hier müssen unterschiedliche Argumentationen geführt werden und diese müssen auch hinreichend scharf getrennt werden. Ich bin ja mehr und mehr davon überzeugt, dass in dieser schlechten Trennung der Begriffe, in diesem Durcheinander der Argumentation ein wesentlicher Grund für den seit Jahren unverhohlen schwelenden Antisemitismus des deutschen Kleinbürgers ist. Aber hier muss man mit dem Finger gerade nicht nur auf Broder zeigen, sondern auch wiederum auf Augstein.

27.11.2012

Mikrologik IVc: Chandlers Mord im Regen

Es hat etwas länger gedauert, bis ich einige schöne Stellen zur Analyse gefunden habe. Es geht mir immer noch um die Ebenen der Motiviertheit, wobei ich den Schwerpunkt auf die Mikroebene lege, also auf die Motiviertheit von Satz zu Satz.

Chandlers Erzählung Mord im Regen befindet sich in dem gleichnamigen Sammelband aus dem Diogenes-Verlag. Es ist ein brillanter, kleiner Krimi, voller scharfer Sätze und wundervoller Metaphern und zeigt, warum dieser Autor nicht nur Unterhaltung, sondern große Literatur geschrieben hat.
Die Makroebene der Motiviertheit betrifft, zur Erinnerung, den Plot. Schon hier erweist sich die Geschichte als ungewöhnlich, denn der Ich-Erzähler wird nicht in den Fall verwickelt, weil ein Mord passiert. Er wird angeheuert, um dafür zu sorgen, dass ein gewisser Steiner seine Finger von einem Mädchen namens Carmen lässt. Der Ich-Erzähler soll dies mehr oder weniger legal tun. Als er jedoch Steiner verfolgt, wird er Zeuge von dessen Ermordung, wobei er den Mörder nicht erkennt.
Anschließend macht er sich, zusammen mit einem Kommissar (Veilchen M'Gee) auf die Suche nach dem Mörder und dem Grund für die Ermordung.
Der Plot ist also in gewisser Weise konventionell: es gibt einen Toten, einen unerkannten Mörder und eine gewisse Motivation, diesen Mörder aufzudecken. Ungewöhnlich ist allerdings die Art und Weise, wie der Ich-Erzähler in den Fall hineingerät. Denn eigentlich ist sein Auftrag ein ganz anderer.
Die Szene, aus der ich meine Textstelle entnehme, beginnt auf Seite 27. Der Mord an Steiner ist passiert. Der Ich-Erzähler wird am frühen Morgen vom befreundeten Kommissar angerufen, weil dieser einen Cadillac mit jemand drin in der Brandung vor dem Fischereihafen gefunden hat. Die Szene ist deshalb so wichtig, weil sie aus dem privaten Auftrag eine Zusammenarbeit zwischen dem Erzähler und dem Kommissar macht. Auf der Ebene der Motiviertheit ist sie relativ konfliktlos. Der Kommissar ruft an, um den Erzähler zur Mitarbeit zu bewegen und der Erzähler ist hinreichend motiviert, um darauf einzusteigen. So ist die Hauptinformation dieser Szene, dass es einen weiteren Toten gibt und wo dieser gefunden wurde.
Schauen wir uns nun die Mikroebene an:
(1) Veilchen M'Gee rief mich am Morgen an, noch ehe ich angezogen war, aber erst nachdem ich mir die Zeitung angesehen und nicht das geringste über Steiner darin gefunden hatte. Seine Stimme hatte den munteren Klang eines Menschen, der gut geschlafen und nicht allzu hohe Schulden hat.
(2) »Na, wie geht's unserm Jungchen denn?« fing er an.
(3) Ich sagte, mir ginge es ganz passabel, bloß daß ich zu viele weiße Mäuse im Haus hätte. (4) Er lachte ein bißchen abwesend, und dann wurde seine Stimme um einen Grad zu beiläufig.
(5) »Dieser Dravec, den ich dir rübergeschickt hatte - schon was für ihn gemacht?«
(6) »Zu schlechtes Wetter«, antwortete ich, wenn das eine Antwort war.
(7) »Hm, hm. Scheint mir einer zu sein, dem dauernd was passiert. Ein Wagen, der ihm gehört, liegt vorm Fischereihafen von Lido in der Brandung.«
(8) Ich sagte nichts. Ich hielt den Hörer sehr fest.
(9) »Tja«, fuhr M'Gee fröhlich fort. »Ein schöner neuer Cad, total ruiniert jetzt von Sand und Seewasser ... Ach, das hab' ich ganz vergessen. Es sitzt jemand drin.«
(10) Ich atmete langsam aus, sehr langsam. »Dravec?« flüsterte ich.
(11) »Nö. Ein junger Kerl. Ich hab's Dravec noch gar nicht erzählt. Also erstmal ganz unter uns. Hast du Lust, mit mir hinzufahren und dir die Geschichte mal anzuschauen?«
(12) Ich sagte, das würde ich gern.
Veilchen ruft wahrscheinlich deshalb an, weil er vermutet, dass der Erzähler etwas weiß. Aber er drängt nicht darauf, dass dieser sein Wissen preisgibt. Dazu muss man auch wissen, dass es der Kommissar war (also Veilchen), der dem Erzähler den Auftrag verschafft hat (4). Er belässt also dem Icherzähler seine Ehre und gibt ihm trotzdem die Möglichkeit, sein Wissen in den Fall einzubinden.
Der ganze erste Abschnitt zeigt, unter welchen Bedingungen Veilchen motiviert ist: den Bedingungen der Sorglosigkeit.
Der Icherzähler weicht aus. Er beruft sich (3) auf zu viele weiße Mäuse (d.h., er hat zu viel Alkohol getrunken), (6) auf das Wetter (eine offensichtliche Fehlinformation) und schließlich (8) schweigt er ganz. Sein Mikromotiv ist, dem Kommissar auf keinen Fall die Wahrheit zu sagen, ihn aber auch nicht allzu sehr zu belügen. Und das Mikromotiv des Kommissars ist, dem Icherzähler nicht allzu sehr zuzusetzen, ihn aber doch zu einer freundlichen Mitarbeit zu bewegen. Der kleine Tanz zwischen den beiden führt schließlich dazu, dass der Kommissar den Icherzähler dazu einlädt, den Unfallort zu besichtigen.
Es gibt zwei Konflikte, die diese kurze Szene strukturieren: der erste Konflikt betrifft die Geschehnisse der vorangegangenen Nacht, die der Icherzähler nicht preisgeben möchte (1-7); der zweite Konflikt betrifft die Identität des Toten (8-12). Beide Konflikte werden undramatisch gelöst, der erste, weil Veilchen nicht auf der Wahrheit beharrt, der zweite, weil beide Personen an der Kooperation eigentlich Interesse haben.

Zu dieser kleinen Passage könnte man eine ganze Menge sagen. Hätte ich hier strenger wissenschaftlich gearbeitet, wäre mein Text dazu auch mindestens dreimal so lang ausgefallen. Viele der kleinen Motiviertheiten habe ich nicht angesprochen. Aber ich denke, sie lesen sich weitestgehend von selbst. Ich verweise allerdings noch einmal besonders auf den von mir mit (9) markierten Satz. Veilchen fährt „fröhlich“ fort. Zunächst gibt er nur die Nebeninformation, den ruinierten Cadillac. Dann allerdings setzt er die Hauptinformation hinzu, den zweiten Toten. Der Icherzähler reagiert dementsprechend. Er befürchtet zunächst, dass sein Auftraggeber ermordet wurde.
Die Szene verläuft vielleicht insgesamt eher banal. Auf der Ebene der Motiviertheit gibt es aber zentrale Spannungspunkte. Chandler verarbeitet diese in seiner gewohnt lakonischen Art.

Und, Nachtrag!, ich weise auch noch mal darauf hin, wie geschickt Chandler Bedürfnisse und Motive andeutet, durch Handlungen, durch die einzelnen Beiträge, ohne sie selbst erwähnen zu müssen. So trägt man den Leser hervorragend durch seine Geschichte.

»Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer gefährlich überfremdet.«

Es gibt manchmal so hässliche Sätze, wie zum Beispiel dieser hier. Was sagt dieser Satz? Im Prinzip nur: Überfremdung überfremdet. Er ist eine Tautologie.
Die wichtigen Aussagen in diesem Satz werden am Rande getroffen, zum Beispiel in dem Wörtchen „gefährlich“. Dabei geht es gar nicht darum, dieses Wörtchen generell abzulehnen. Die Frage ist nur: gefährlich in welcher Weise, durch was genau und in Bezug auf was? Ich bin an dieser Stelle immer bass erstaunt, dass dann große deutsche Schriftsteller herbeizitiert werden, die die wenigsten Deutschen jemals gelesen haben. Schon vor 30 Jahren nicht und heute erst recht nicht mehr. Und irgendwie entzieht das diesem Satz jegliche sinnvolle Basis.
Aber irgendwie habe ich hier sowieso das Gefühl, dass die Deutschen in Sachen Kultur recht debil sind. Es gibt nur noch wenige Menschen, die sich ernsthaft mit einem klassischen Literaten, einem Musiker, einem Schriftsteller beschäftigen. Gerade habe ich gesehen, dass die drei beliebtesten Liebesromane des vergangenen Jahres die drei Shades of Grey sind. Hatten wir da nicht auch: Kirchhoffs Die Liebe in groben Zügen? Walsers Dreizehntes Kapitel? Genazino?
Na gut. Da ich neulich die Leser von ChickLit als unkultiviert bezeichnet habe (allerdings in einem etwas eigenen Zusammenhang), hat eine dieser Damen beschlossen, dass ich arrogant sei und man mich nicht mehr lesen dürfe. Ich leide zwar noch nicht unter Leserschwund. Aber ab jetzt. Arrogante Blogger sind auf jeden Fall böse.

(Nachtrag, der etwas hinkt: Eben, 15.01.2013, schrieb mir ein Leser folgenden Satz: "Milchgeschmack ist durch die Zufuhr von Kakao gefährdet.". Im ersten Moment stimmt's noch, im zweiten nicht mehr. Aber er ist genauso absurd.)

26.11.2012

Was sind gute Metaphern?

fragt Barbara.

Liebe Barbara! Wenn ich das wüsste. Es gibt zwar so etwas wie grobe Richtlinien. Aber das sind eben nur grobe Richtlinien.

Früher hat man Metaphern unter anderem in tote, verblassende, lebendige und kühne Metaphern eingeteilt. Je nachdem, wie neuartig eine Metapher empfunden wurde. Eine tote Metapher wäre zum Beispiel "die Müdigkeit in seinen Knochen spüren". Sie sind zu Floskeln oder zu Redewendungen geworden und werden in ihrer Bildlichkeit kaum noch wahrgenommen.
Kühne Metaphern dagegen sind höchst "poetisch" und manchmal sogar unverständlich. "Sie schwamm im ausgefransten Nachtherz." Dazwischen ist dann sozusagen alles an Metaphern möglich.
Wie Metaphern gut ausgewählt werden, ist eine Sache der Textsorte.
Kühne Metaphern taugen nicht für Spannungsromane. Lebendige Metaphern können hier zur Verbildlichung von Landschaften oder Gegenständen eingesetzt werden ("eine diamantenhelle Luft"), auch zur Personencharakterisierung ("ein klebriges Buckeln"). Aber sie wirken, wenn sie zu häufig eingesetzt werden, als überpoetisierend. Und das sollte man in Spannungsromanen vermeiden. Deshalb sind Metaphern nicht die erste Wahl, was zum Beispiel Thriller angeht. Stephen King nutzt häufig Vergleiche. Crichton dagegen schafft es, durch sehr präzise Beschreibungen und einem insgesamt sehr nüchternen Sprachstil sogar weitestgehend auf die Metapher zu verzichten (was ich faszinierend finde: weil das Fehlen von Metaphern in erzählenden Texten normalerweise als schlecht empfunden wird).
Es ist also eine Frage des Geschmacks und des persönlichen Stils, was eine gute Metapher ist.
Es gibt, wie gesagt, zahlreiche Arten zu verbildlichen. Die Metapher, bzw. die Analogie sind zwei Formen davon. Und wie du diese einsetzt, ist eben eine Frage des Genres auf der einen Seite und eine Frage des Geschmacks auf der anderen Seite. Hier kann ich dann nur noch den Tipp geben: ausprobieren und herumexperimentieren, was für dich richtig ist.

Analogie und Verbildlichung

Auch wenn dieses Buch nur bedingt populär geschriebenen ist, also vielleicht für den einen oder anderen Leser tatsächlich erstmal Probleme bereitet, möchte ich auf mein Buch Metaphorik. Strategien der Verbildlichung hinweisen. Besonders wichtig empfinde ich die Analogie, da diese sowohl eine Form der Logik darstellt, als auch den Übergang zu der Metapher. Aus einigen Anmerkungen, die Kant in seiner Anthropologie macht, kann man den Bezug zu einer flexibel genutzten Bildung herstellen, der durch die Analogie ermöglicht wird.
Und natürlich, aber nein: so natürlich erscheint das erstmal gar nicht. Die Analogie gehört wesentlich zu einem humorvollen Denken mit dazu. Nicht dem Ergebnis nach, aber auf dem Weg dorthin ist die Analogie eine wichtige Denktechnik, um Witze herzustellen.
Mir fällt allerdings auch auf, dass viele junge Schriftsteller die Verbildlichung wenig oder gar nicht nutzen, allerhöchstens in Form der Beschreibung. Nun will ich gar nichts gegen die Beschreibung sagen. Etwas gut beschreiben zu können ist eine hohe Kunst. Aber sie wird, wenn sie ganz ohne Redeschmuck daherkommt, recht bieder. Schließlich handelt es sich bei Romanen nicht um wissenschaftliche Darstellungen. Die Metapher, der Vergleich, die Analogie selbst, die Synekdoche und die Katachrese, all dies sind Figuren, mit denen man seine Texte lebendiger machen kann. Hier ist dann allerdings auch ein wenig Originalität und Kreativität gefragt.
Adlons Buch Ausradiert zum Beispiel hat im ersten Kapitel neun analogienahe Figuren auf ungefähr 1440 Wörter. Das ist für einen erzählenden Text schon extrem wenig. Keine dieser Figuren ist jedoch originell; es sind alles Floskeln, zum Beispiel „die Müdigkeit in seinen Knochen spüren“. Dadurch wirkt der ganze Schreibstil uninspiriert und belanglos.
Es ist natürlich immer ein Problem. In eher konventionellen Genres wie dem Thriller darf man auch nicht zu originell sein, weil sich sonst die sprachliche Ebene über die narrative Ebene stülpt und ein Thriller hat eben tatsächlich die Aufgabe, durch eine Geschichte zu unterhalten; die rhetorische Sprache muss geschickt zur Unterstützung eingesetzt werden, darf aber nicht die Aufmerksamkeit des Lesers an sich reißen. Es sei denn, der Leser will das (weil er zum Beispiel ein solches Buch literaturwissenschaftlich untersucht).
Jedenfalls ist es mir in den letzten Tagen wieder sehr aufgefallen: die Fähigkeit, sich Analogien auszudenken (bzw. sinnvolle und originelle Metapher), liegt bei vielen Schriftstellern brach. So urteilt die Berliner Literaturwissenschaftlerin Ina Hartwig über Shades of Grey: „Um auf E. L. James zurückzukommen: Sie ist literarisch gesehen völlig untalentiert, ihre metaphorische Begabung ist gleich Null.“ Ich nehme an, dass Hartwig mit metaphorischer Begabung etwas sehr Ähnliches meint wie ich mit der Fähigkeit, Analogien zu bilden.
Insofern rangieren viele der Thriller oder MommyPorn, die derzeit veröffentlicht werden, aber auch sogenannte "humorvolle" Literatur, zum Beispiel was man so als ChickLit bezeichnet, eher wie die Pornographie unter den Gebrauchstexten und haben weniger mit der literarischen Form des Romans, als mit einer Bedienungsanleitung zu tun.

24.11.2012

Loreley; Flickenteppich aus mythischen Frauen

Na, dieses kleine Stückchen zum Homo faber bekommt ihr jetzt auch noch:
Seite 152: Faber findet jetzt doch eine Situation, die er als Erlebnis schildert (im Gegensatz zu Seite 24); unter diesem Abschnitt liegt das Bild der Lorelei: Sabeth auf den Felsen, singend („Ich werde nie vergessen, wie sie auf diesen Felsen sitzt, ihre Augen geschlossen, wie sie schweigt und sich von der Sonne bescheinen lässt.“ (Seite 152)). Heine fängt seine Ballade bezeichnenderweise mit "ich weiß nicht, was soll es bedeuten …" an, wobei auch Faber immer wieder seine "Unfähigkeit, Bedeutungen zu verstehen" ausdrückt.
Irgendwo auf der via Appia kämmt Sabeth sich ihr Haar.
Ganz wichtig im Homo Faber: die zahlreichen, mythischen Frauengestalten (die Venus, die Sphinx, die Loreley, die Erinnye, die Eva: es ist ein Flickenteppich an mythischen Frauen aus allen möglichen Religionen).

Alfa Romeo; ein literarisches Alphamännchen und die Ironie

Zur symbolischen Schreibweise wollte ich mich (noch) nur am Rande äußern. Seit Monaten habe ich die meisten Werke von Jurij Lotman in meinem Bücherschrank stehen und diese noch nicht gelesen. Lotman nun äußert sich sehr ausführlich über diese symbolische Schicht. Ich habe also ein schlechtes Gewissen. Trotzdem möchte ich ein ganz besonders schönes Beispiel dafür geben, wie die symbolische Schicht funktioniert.

Das Beispiel stammt aus dem Homo faber. Walter Faber und seine Tochter (von der er allerdings nicht weiß, dass sie seine Tochter ist) übernachten in Rom in einem Hotel, nachdem sie in einer Pizzeria gegessen haben. In diesem Hotel werden sie von dem „blechernen Dröhnen“ eines Alfa Romeos belästigt: „…, es schien wirklich der gleiche Alfa Romeo zu sein, der uns die ganze Nacht lang umkreiste.“ (Seite 123)
Nun ist weder Romeo noch Alfa ein unschuldiger Name und ihre Zusammenstellung schon gar nicht. Romeo ist so etwas wie der Prototyp des tragischen Liebhabers; das Alfa verweist auf das Alphamännchen, auf das erste Männchen im Rudel. Nun ist es ironischerweise ein Stück Technik, das hier um Faber herumfährt, aber eines, das mythisch aufgeladen ist. Es zeigt, das die Technik nicht rein, nicht objektiv erscheinen kann, dass die Sprache hier sofort an dieser Objektivität mitgestaltet und aus ihr ein mythisches Moment erschafft. Dieses mythische Moment wird über Symbole hergestellt. Das Symbol dürfen wir hier ganz im Sinne seines griechischen Ursprungs verstehen: zusammenschmeißen (sym ballein).
Zusammengeschmissen wird hier die Technik (das Auto), die literarische Figur (Romeo), die Verhaltensbiologie (das Alphamännchen). Und schließlich gibt es eine Art räumlich-symbolische Bedeutung. Der Alfa Romeo umkreist Faber, was diesen sowohl in das Zentrum der Aktivität setzt (die Technik ist eine Art Satellit), als auch bedroht erscheinen lässt: der Räuber, der auf seine Beute lauert, der diese umkreist und sie nach und nach einkesselt.

Neben diesen Bezügen zu offiziellen Disziplinen gibt es aber auch noch einige Bezüge innerhalb des Romanes, die ständig wieder aufgegriffen werden. So ist das technische Geräusch ein wiederkehrendes Motiv. Ebenso gibt es mehrmals Beschreibungen von technischen Vorgängen, die bei voller Kraft trotzdem nutzlos sind. An dieser Stelle steht „Vollgas im Leerlauf“ (es handelt sich wohl um junge Halbstarke, die mit ihren Maschinen Krach machen). Gleich auf der ersten Seite (Seite 7) steht: „… so dass ich nicht sogleich schlief, … sondern einzig und allein diese Vibration in der stehenden Maschine mit laufenden Motoren …“. Diese Anspielung auf die Katatonie taucht noch mehrmals im Roman auf. Außerdem gibt es zum Beispiel eine Passage, in der Sabeth und Walter die Geburt der Venus betrachten. Die Venus ist so etwas wie das Alphaweibchen, vor allem in seiner berühmten Version von Botticelli.
Hier noch einmal eine grafische Zusammenfassung:
Ihr seht, dass die Analyse von Symbolen rasch sehr kompliziert werden kann. Sie bildet eine Struktur jenseits und hinter der Geschichte und wenn diese gut eingesetzt wird, wie bei Max Frisch, mehr als nur ein intellektuelles Begleitwerk.
Frisch allerdings setzt die symbolischen Bezüge auch wieder so vielfältig und hintersinnig ein, dass sie extrem ironisch wirken. Es ist gar nicht so einfach, hier überhaupt feste Aussagen über die Poetizität des Textes zu treffen. Weshalb ich mich wundere, dass dieses Werk zum schulischen Kanon gehört. Es ist ja für die meisten Erwachsenen zu kompliziert, jedenfalls, was die Analyse angeht.

23.11.2012

Die Klimax in Jurassic Park

Eine Klimax ist eigentlich eine rhetorische Figur, eine mindestens zweifache, häufig dreifache Steigerung in der Wortfolge, zum Beispiel: „wir haben gebittet, gefleht, beschworen …“. Man kann solche Figuren allerdings auch ganz gut in die Struktur von Narrationen übertragen, d.h. in die Erzählstruktur. Ich glaube, das muss man bei der Klimax nicht großartig erläutern.

Gerade schiebe ich meine Kommentare zu dem Film Thor in meinen Zettelkasten. Hier habe ich eine Zwischenanmerkung zu Jurassic Park gemacht, die ganz nützlich sein könnte, auch wenn sie nichts aufregendes bietet, sondern die klassische Struktur der Spannung einfach aus einem anderen Aspekt beleuchtet:
Die Klimax in Jurassic Parc könnte man ungefähr so beschreiben: drei Adjektive werden miteinander koordiniert, nämlich gefährlich, gefangen, instinktgesteuert; dann werden diese nach und nach umgedreht: zunächst gefährlich, frei, instinktgesteuert (der Tyrannosaurus Rex), dann gefährlich, frei, intelligent (die Raptoren).
Das erste Adjektiv (gefährlich) beschreibt die allgemeine Veranlagung, den grundsätzlichen möglichen Konflikt. Das zweite Adjektiv (gefangen) beschreibt die Maßnahme, die den Konflikt unterdrückt, im Laufe der Geschichte allerdings umgeändert wird. Und das dritte Adjektiv (instinktgesteuert) bezieht sich auf eine Steigerungsmöglichkeit, die erst gegen Ende der Geschichte zum Tragen kommt.

Bei Harry Potter kann man die Todesser folgendermaßen belegen: skrupellos, verfolgt, sterblich. Das letzte Adjektiv trennt (scheinbar) die Todesser von ihrem Meister (Voldemort)
Daraus könnte man nun eine Übung entwerfen: zunächst drei Adjektive, wobei das erste Adjektiv die grundsätzliche Bedrohung ausdrückt; das zweite Adjektiv beschreibt zunächst das, was den Konflikt unterdrückt; und das dritte Adjektiv beschreibt eine Steigerung, bzw. Steigerungsmöglichkeit des Konflikts.
Für die Geschichte dreht ihr als erstes das zweite Adjektiv um. Nehmen wir als Beispiel ein klassisches Genre: das Spukhaus. Nehmen wir weiter an, das Adjektiv heißt versiegelt, als versiegelt in dem Sinne, dass der tatsächliche Spuk hinter irgendeiner magischen oder technischen Barriere verschlossen ist. Das Umdrehen dieses Adjektives geschieht selbstverständlich in einer Handlung. Hier muss diese Barriere in irgendeiner Weise aufgebrochen werden. Besonders neu ist das allerdings nicht. Es ist ja nichts anderes als der Übergang von der Einleitung in die Durchführung, also der Übergang in den ersten richtigen Konflikt.
Als zweites wird dann das dritte Adjektiv umgedreht. Nehmen wir an, dieses lautet zunächst „nicht besessen“. Jetzt gibt es aus irgendwelchen Gründen einen Geist, der von den Menschenbesitz ergreift. Der wird nun auch freigelassen und sorgt erst recht für den typischen Splatter.
All das ist tatsächlich nicht sonderlich aufregend. Mit ein bisschen Übung allerdings könnt ihr diese Technik abwandeln und euch einfach an zufällig zusammengestellte Adjektive halten, sagen wir zum Beispiel: klug, nicht technisch, zerreißbar. Und jetzt wird es interessant: weil diese drei Adjektive nämlich nicht offensichtlich als Klimax funktionieren. Ich kann daraus trotzdem eine Klimax erschaffen, muss aber ein bisschen mit der Geschichte herumtricksen und herum probieren. Und hier ist diese zufällige Zusammenstellung ein großer Motor für die Kreativität. Die Geschichten, die daraus entstehen, solltet ihr allerdings nicht unbedingt eurem Publikum präsentieren, jedenfalls die meisten nicht.

Gauck, Joachim

Gauck, Joachim: Wurde nach der legendären Gauck-Behörde benannt, in der er am 24. Januar 1940 geboren ist. G. kann fliegen, riecht auch ungewaschen gut und ist aufgrund seines Alters sparsam im Ehrensoldverbrauch.

22.11.2012

ich hätte jetzt gerne noch einen Stromausfall, sonst fällt mein Hirn aus

Die Kanzlerin, deren verbale Kunst von uckermärkischem Temperament geprägt ist, gelang es wiederum, eine weitgehend präsidiale Gemeinsamkeitsrede zu halten.
Das, meine lieben Leserinnen und Leser, ist Qualitätsjournalismus aus der Welt. „Verbale Kunst von uckermärkischem Temperament“. Der Autor dieses Artikels sagt übrigens ziemlich wenig. Die Informationsdichte geht gegen Null. Dafür gibt es viel Beweihräucherung der Regierung.
Vor allem die ständig eingestreuten Attribute!

Nein, man darf gar nicht so genau hinschauen,was sich hier die Journalisten so zusammenschreiben. n-tv etwa titelt: „Westerwelle zeigt sich zuversichtlich gegenüber Waffenruhe“. Müsste doch eigentlich „angesichts“ heißen.

Sachlich, aber schön …

Merkel dagegen blieb betont sachlich, redete naturgemäß alles schön, ...
Das ist nicht nur eine unschöne Zusammenstellung. „Betont sachlich“ und „naturgemäß alles schön“, das ist schon fast Holzhammer-Rhetorik.
Vor allem scheint der Autor zu glauben, das betont sachlich nur noch eine Körperhaltung ist, nur noch eine Ausdrucksweise. Mit Inhalten hat das nichts mehr zu tun (anscheinenderweise).
Natürlich ist der Effekt hier, dass dieses „schönreden“ eine Täuschung wird. Es verhält sich zur Sachlichkeit vollkommen inkongruent, fast schon wie ein Oxymoron.


Spannung und Humor: Tortilla Flat, Pippi Langstrumpf, Schrecksenmeister

In den letzten Tagen habe ich mal wieder an der humorvollen Literatur gearbeitet. Ich glaube, ich habe es mittlerweile häufig genug erwähnt: diese ist viel flexibler und funktioniert teilweise komplett anders als Spannungsliteratur. Die Rhetorik des Humors halte ich für eine der schwierigsten Bereiche der analytischen Rhetorik.
Gerade habe ich für mich Tortilla Flat von John Steinbeck wieder entdeckt. Dieser bezaubernde Schelmenroman zeigt, wie unterschiedlich die Komposition zum Spannungsromanen verlaufen kann. Es gibt eine große Geschichte: Danny kehrt aus dem Krieg heim, hat zwei Häuser geerbt und verliert diese durch Sauferei und Prügeleien. Das ist keine wirklich spannende Geschichte. Der ganze Roman bekommt seinen Charme durch die Variationen, also durch verschiedene Episoden, die das gleiche Problem lösen, aber auf unterschiedliche Art und Weise. Wer Tortilla Flat nicht kennt, der kann hier auch Pippi Langstrumpf nehmen. Pippis Problem ist etwas infantiler: was fange ich lustiges mit dem Tag an?
Ich habe für Teilgeschichten in Romanen zwei Begriffe: Einmal die Sequenz und einmal die Periode. Die Sequenz ist immer Teil einer größeren Geschichte, auch wenn sie in sich abgeschlossen wirkt. Die Periode dagegen steht ganz explizit als eigene Geschichte da und könnte auch komplett weggelassen werden. Natürlich sind das nur idealistische Begriffe, die so rein nie in der Wirklichkeit auftauchen.
Spannungsromane bestehen fast ausschließlich aus Sequenzen. Dagegen können humorvolle Romane beides gut benutzen. Die Montalbano-Krimis zum Beispiel sind Sequenzen aufgebaut und durch bestimmte Episoden (typisch: Montalbano geht Essen) aufgelockert. Ein ebenfalls vorwiegend als Spannungsroman aufgebauter Text ist der Schrecksenmeister von Walter Moers. Es gibt ein zentrales Ziel: der Protagonist (die Kratze) möchte überleben. Dieses zentrale Ziel wird allerdings durch vielerlei Episoden überwuchert.
Tortilla Flat nun ist ein typischer Schelmenroman, der ähnlich wie Till Eulenspiegel oder Münchhausen aus einzelnen Geschichtchen lebt. Er hat eine typisch episodische Struktur, die nur ganz am Rande durch die Gesamtgeschichte zusammengehalten wird.

Es gibt eine ganze Reihe von Unterschieden zwischen dem humorvollen, episodische Roman und dem Spannungsroman. Ich wollte Steinbeck einfach mal als einen „großen“ Autor für die Ebenen der Motiviertheit anführen. Aber es funktioniert nicht. Selbst auf der Ebene der Sätze sind episodische Romane scheinbar komplett anders aufgebaut und müssen mit ganz anderen Funktionen belegt werden.

19.11.2012

Stromausfall

Gestern, kurz vor Mitternacht, ist in den Häusern um mich herum und natürlich auch bei mir der Strom ausgefallen. Das ist eine recht seltsame Erfahrung. Plötzlich ist es dunkel. Der Computer geht einfach aus und man suchte verzweifelt nach den letzten Teelichtern, die man irgendwo versteckt hat. Kerzen besitzt man natürlich keine. Jedenfalls ich nicht. Kerzen sind mir zu gefährlich zwischen all den schwankenden Stapeln von Papier.
Eine Stunde später war der Strom wieder da.

18.11.2012

Aus meiner Privatsphäre

Irgendwie komme ich nicht dazu, weiter zu schreiben. Eigentlich wollte ich noch einige Artikel für suite101 fertigstellen, aber es klappt nicht. Eigentlich wollte ich längst mit der Darstellung des Schöpferischen bei Raphael und seiner Kant-Kritik fertig sein, aber ich komme nicht dazu. 
Gestern war ich mit Gabriel, dem ältesten Sohn von Nico, im Computerspielemuseum. Abends hatte ich zu Lea Streisand gehen wollen, bin aber eingeschlafen und habe seitdem eigentlich auch nichts anderes gemacht als zu schlafen. Ich brauchte es wohl.
Seit Sonntag rauche ich nicht mehr in der Wohnung, und überhaupt habe ich meinen Zigarettenkonsum arg eingeschränkt. Mein Sohn ist heute nachmittag aufgetaucht. Er hat sich gleich an meinen Computer gesetzt und ich, ich habe weiter geschlafen.
Nebenher lese ich drei Bücher über die Sprechakttheorie, Mythen des Alltags und Sade Fourier Loyola.

13.11.2012

Xavier Naidoo und Kool Savas spinnen

"Ich schneid euch jetzt mal die Arme und die Beine ab, und dann ficke ich euch in den Arsch, so wie ihr es mit den Kleinen macht. Ich bin nur traurig und nicht wütend. Trotzdem würde ich euch töten. Ihr tötet Kinder und Föten und ich zerquetsch euch die Klöten. Ihr habt einfach keine Größe und eure kleinen Schwänze nicht im Griff. Warum liebst du keine Möse, weil jeder Mensch doch aus einer ist? Wo sind unsere Helfer, unsere starken Männer, wo sind unsere Führer, wo sind sie jetzt?"
So lautet ein Teil eines Songtextes auf der letzten CD dieser beiden Deutschrapper, zitiert nach queer.de. Sind die eigentlich noch ganz dicht? Die Linke hat jetzt eine Strafanzeige wegen Volksverhetzung und Aufruf zur Selbstjustiz gestellt. Das kann ich nur unterstützen.
Ich habe Naidoo noch nie leiden können. Musikalisch finde ich ihn belanglos, weil supermarktmäßig weichgespült. Und leider entpuppt er sich nun als das, was einen "guten" Faschisten immer ausmacht: viel (scheinbare) Moral, ein schlechter Bezug zur Realität.
Besonders widerlich auch: die Reduzierung des Mutterseins auf das "Möse-haben". Das ist wahrlich widerlich.

Ist Marah Woolf eine der größten Schriftstellerinnen Deutschlands? - Ein Nachtrag

So habe ich neulich einen Artikel genannt, weil eine Kommentatorin mich dementsprechend korrigiert hat. Den Kommentar selbst habe ich gelöscht, weil er eine Beleidigung enthielt. Und ich weiß immer noch nicht, ob ich dieser Behauptung überhaupt einen Sinn entnehmen kann. Mittlerweile hat sich Frau Woolf dazu selbst gemeldet und diese Bezeichnung abgelehnt. Jedenfalls kann ich ohne mit der Wimper zu zucken behaupten, dass sie vielleicht nicht die größte, aber zumindest eine äußerst nette und sehr bodenständige Autorin ist.
Will man schlecht schreiben, ist ein egomanischer Charakter auf jeden Fall sehr hilfreich. Marah Woolf fehlt diese Egomanie. Was ein Zeichen dafür ist, dass man von ihr einen (relativ) guten Schreibstil erwarten kann.
Es ist doch immer wieder ein Zeichen für eine gute schriftstellerische Kompetenz, wenn ein Autor Selbstzweifel hat. Selbstzweifel sind nicht die angenehmste Charaktereigenschaft, vor allem nicht für den Autoren. Aber darin steckt eben auch die Frage: Habe ich einen Text für die Leser verfasst? Habe ich für den Leser geschrieben? Und das ist der einzige Grund, warum ein veröffentlichter Text existiert. Er ist Kommunikation.

Mein sehr geschätzter Kollege Dr. Gerald Albach zitierte gestern Wittgenstein, in einem anderen Kontext, aber sehr passend:
"Wenn man das Element der Intention aus der Sprache entfernt, so bricht ihre ganze Funktion zusammen." (aus den Philosophischen Bemerkungen; Seitenzahl muss ich euch schuldig bleiben, weil ich dieses Buch nicht (!) besitze)

Angenehm: dass die Argumentationslehre als Thema selbstverständlich wird

Vor drei Jahren, als ich verstärkt die Grundlagen des Argumentierens und die formale Qualität in den Blick meines Coachings gestellt habe, habe ich noch viele Missverständnisse geerntet. Argumentieren, so lautete ein häufiges Argument, könne man bereits. Mittlerweile setzt sich allerdings die Einsicht durch, dass die Argumentationslehre ein äußerst komplexes Gebiet ist und hier eine professionelle Sichtweise hilfreich sein kann. Eine solche professionelle Sichtweise biete ich; und scheue mich trotzdem nicht zu sagen, dass ich noch lange nicht am Ende meines Lernens bin. Es ist ein Zeichen von Vernunft, sich eine differenzierte Meinung zuzulegen. Es ist ein eben solches Zeichen von Vernunft, die Grenzen seines Verstandes zu akzeptieren. Ich hoffe, dass ich in diesem doppelten Sinne vernünftig bin.

Jedenfalls ist es sehr angenehm, dass ich heute nicht mehr meine Kunden dazu überreden muss, dass ein genauerer Blick auf die formalen Bedingungen der Logik sinnvoll sei. Es ist aber auch ein Zeichen dafür, dass sich in der wissenschaftlichen Landschaft einiges ändert und nicht mehr so viele Menschen ein Diplom oder einen Doktortitel als Statussache betrachten, sondern ernsthaft am wissenschaftlichen Arbeiten interessiert sind.

Ich empfehle, für alle Interessierten und mit einer gewissen Vorsicht, die Logik von John Dewey. Wer Lust auf ein schwieriges, aber äußerst lohnenswertes Buch hat, dem sei Grundzüge der Logik von William van Orman Quine ans Herz gelegt, jenes Buch, mit dem ich mich während meines Studiums in die Argumentationslehre eingearbeitet habe. Für einen Einstieg ist dieses Buch allerdings nicht die beste Wahl.

Danke Johannes Flörsch! - Die kraftvolle Sprache.

Johannes Flörsch verdanke ich folgenden Link, der so wunderbar zu meiner eigenen Klage passt: Kleinkunstpreis 2012 Ehrenpreis.
Georg Schramm spricht sehr deutlich und sehr scharf gegen die unverständliche Sprache. Es ist zwar etwas komplizierter, als er das darstellt, aber als Tendenz deutlich richtig.
Johannes ist übrigens selbst ein hervorragender Sprachkritiker. An ihm ist durchaus ein (politischer) Kabarettist verloren gegangen. Er ist Lektor. Und sehr zu empfehlen. Er weiß um die Kraft der Worte, um die kraftvolle Sprache.

Einer der schönsten Sätze in Schramms Rede: "Der Satz dient."

Martin Walser und Michel Friedman

Gerade habe ich, mit einigen Kopfschmerzen, einen Artikel zu dem aktuellen Antisemitismus-Vorwürfen Friedmanns geschrieben und hier veröffentlicht: Martin Walser verklagt Friedmann wegen Antisemitismus-Vorwurf.
Kopfschmerzen habe ich deshalb, weil zurzeit solche Artikel immer irgendwelche Leute zu beleidigenden E-Mails befleißigen. Solche E-Mails brauche ich nicht. Ebenso wenig brauche ich beleidigende oder auf falsche Weise lobhudelnde Kommentare.

Ich äußere mich zwar immer noch nicht ausführlich zur Argumentationslehre. Dazu sehe ich weiterhin zu viel Lernbedarf bei mir. Aber je intensiver und länger ich mich mit der Logik beschäftige (die Logik ist die Theorie der Argumentation und die Argumentationslehre die „gute“ Praxis), umso bewusster wird mir, wie vieles in unserer Gesellschaft alleine deshalb falsch läuft, weil die Menschen überhaupt nicht mehr wissen, was eine gute Argumentation ist und wie man sich an logische Formalien hält.
Dabei wollte ich eigentlich nur meinen Artikel über Krimis und Argumentation auf eine bessere Basis stellen. Die politische Argumentation, die mich zwar immer mal wieder beunruhigt hat, war gar nicht mein Ziel.
Und trotzdem genieße ich auch meine Beschäftigung mit der Rhetorik und der Logik, weil diese eher formalen Disziplinen (sofern man sich an die klassischen Darstellungen erhält und nicht anders, was heute Coaches und Trainer an Dummheiten in die Welt hinausplärren) so vieles einsichtig machen und eine schärfere Kritik ermöglichen.
Ich kann jeden Leser meines Blogs nur auffordern, sich, auch wenn dies zunächst sehr schwierig werden wird, mit den drei großen Kritiken von Kant zu beschäftigen. Er ist vielleicht nicht der modernste, er ist mit Sicherheit auch nicht einfach, aber wenn man ihn anfängt zu verstehen, merkt man, wie man nach und nach in einer anderen und auch besseren Welt zu leben beginnt.

10.11.2012

Wenn Blogger sterben - Nachruf auf Christof Zirkel

Bloggen ist ja noch ein recht junges Hobby, auch wenn ich mir mit meinem seit sechs Jahren geführten Blog schon wie ein Opa vorkomme. Dass Blogger sterben können, war mir irgendwie klar. Dass sie dann tatsächlich sterben, ist manchmal eine Katastrophe.
Christof Zirkel, der seit vielen Jahren den Blog schreibschrift geführt hat, ist bereits am 11. September 2012 einem Herzinfarkt erlegen. Mein Beileid geht an die Familie. Wir haben einen tollen Blogger und engagierten Menschen verloren.

08.11.2012

Mikrologik IVb: der Wandel der Bedürfnisse

Irgendwie bin ich seit einigen Tagen intellektuell sehr am Brummen. Das merke ich auch daran, dass ich zwar gestern Abend sogar relativ früh ins Bett gegangen bin, aber bereits seit 2:30 Uhr wieder wach, weil mir bestimmte Ideen einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Ich hatte in den letzten Teilartikel die Ebenen der Motiviertheit vorgestellt. Ich möchte als erstes ergänzen, dass diese Ebenen sich wundervoll für den Spannungsroman eignen, aber nur sehr bedingt für den humorvollen Roman. Für diesen braucht man andere Techniken.

Dieser Artikel ist nun ein Zwischeneinschub. Ein Bekannter hat mich gefragt, was es für Bedürfnisse gäbe. Hier habe ich noch keine wirklich gute Einteilung gefunden, jedenfalls psychologisch gesehen nicht. Das bekannteste Modell ist die Maslowsche Bedürfnispyramide. Diese ist für meine Zwecke nützlich. Psychologen sollten hier eine kritische Distanz bewahren.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Es gibt zwei Formen der Bedürfnispyramide, einmal mit fünf Stufen und einmal mit acht. Da wir die Bedürfnispyramide als Autoren nicht präzise einsetzen müssen, empfehle ich die Fünf-Stufen-Version. Auch um die Sache nicht zu verkomplizieren.

Die Bedürfnispyramide ist, wie der Name schon sagt, ein hierarchisches Modell. Die Basis bilden die ganz grundlegenden Bedürfnisse. Sie endet mit den hohen, individuellen Bedürfnissen. Ich habe nun an dieser Bedürfnispyramide herumgebastelt und sie in Bezug auf Handlungen umgeändert. Das ist ganz wichtig, da es in Romanen (aber nicht nur dort) immer auch um Handlungen, also um die Verwirklichung von Bedürfnisbefriedigungen geht. Hier ein übersichtliches Schema: weitere findet ihr massenweise im Internet:
Die erste Stufe bilden die physiologischen Bedürfnisse: dazu zählen Atmen, Essen, Wasser, Sex, Homöostase (damit bezeichnet Maslow das physiologische Gleichgewicht, insbesondere die Salze im Blut) und die Ausscheidung. Diese Bedürfnisse werden recht gleichförmig befriedigt. Zunächst. Auf die Handlung bezogen bilden sie die Voraussetzung, dass ein Mensch überhaupt handeln kann.

Auf der zweiten Stufe geht es um Sicherheitsbedürfnisse: die Sicherheit von Körper, Beschäftigung, Ressourcen, Moralität, Familie, Gesundheit und Besitz. Im einzelnen ist diese Aufzählung sehr kritikwürdig. Für Spannungsromane spielt sie aber eine wesentliche Rolle. Jedes Verbrechen am Anfang eines Krimis verletzt in gewisser Weise die Moralität eines Kommissars oder Detektivs. Thriller haben öfter die Bedrohung der eigenen Familie als einen Verstoß gegen diese Form von Bedürfnissen; aber auch den Verlust von Ressourcen (man denke zum Beispiel an den Diebstahl wichtiger Dokumente).
Auf der Handlungsseite ermöglicht diese Ebene eine Verlässlichkeit des eigenen Handelns und der Umwelt. Nur wenn die Umwelt verlässlich ist, kann ich mir der Folgen meiner Handlung sicher sein.

Die dritte Ebene stellt die Bedürfnisse der Zugehörigkeit/Liebe zusammen. Hierzu gehören Freundschaft, Familie und sexuelle Intimität. Wie ihr seht, wird Familie hier erneut als Bedürfnis bezeichnet. Auf der zweiten Stufe ist dies einfach die Sicherheit einiger Bezugspersonen. Auf der dritten Stufe dagegen bezieht sich Familie auf die Kommunikation und den Austausch, aber auch auf die (emotionale) Arbeitsteilung innerhalb von Familien. Sie bezeichnet weiterhin die Verlässlichkeit im Dialog und die Kontinuität der eigenen Persönlichkeit. Kontinuität der eigenen Persönlichkeit: das meint im Roman die Nachvollziehbarkeit eines Charakters. Als ein mögliches Beispiel, wie diese Ebene genutzt werden kann.

Mit der Achtung als Bedürfnis erreichen wir die vierte Stufe. Maslow zählt dazu die Selbstachtung, die Zuversicht, die Leistung, der Respekt durch andere und den Respekt für andere. Auf der Ebene der Handlung geht es um die sozial-kulturelle Ebene: um den Menschen als geschichtliches Wesen und um den Menschen, der nur im Zusammenhang mit anderen Menschen eine solche Geschichte entwickeln kann.

Schließlich, als letzte Stufe, die Selbstverwirklichung. Diese wird aufgeteilt in die Moralität, die Kreativität, die Spontanität, das Problemlösen, die fehlenden Vorurteile und das Akzeptieren von Fakten. Die Moralität ist doppelt (siehe Stufe zwei). Hier weiß ich noch nicht, wie die Abgrenzung genau läuft. Allerdings kann man sagen, dass auf der zweiten Stufe die Moralität Normen setzt, wie gehandelt werden darf und wie nicht mehr; auf der fünften Stufe geht es eher um die eigenen Leistungen, die man der Gesellschaft zukommen lässt, zum Beispiel, dass man Bücher schreibt, um andere Menschen aufzuklären oder ihnen für einige Stunden eine Entlastung vom Alltag zu bieten. Auf einem meiner Zettel bezeichne ich dies als (Achtung!) „gestaltete Mitgeschichtlichkeit aufgrund der eigenen Persönlichkeit“ (Wortschwall von eurem lieben Fredi). Einfacher ausgedrückt: die Selbstverwirklichung befriedigt persönliche Vorlieben kultureller Art.

Die Bedürfnispyramide in der Erzählung

Ganz grob können wir den einzelnen Stufen ein Genre zu ordnen. Ich lasse die physiologischen Bedürfnisse beiseite, die oft nur stellenweise auftauchen. Am häufigsten habe ich (bisher) das Bedürfnis des Atmens gefunden, nämlich ganz genau dann, wenn der Protagonist zu ertrinken droht. Doch auch das ist eher selten zu finden.
In Thrillern werden immer Sicherheitsbedürfnisse verletzt. Deshalb gibt es einen engen Bezug.
Die dritte Stufe gehört eindeutig den Liebesromanen.
Die Bedürfnisse der Achtung lassen sich gut mit dem Bildungsroman verknüpfen. Und die Bedürfnisse der Selbstverwirklichung schließlich mit dem Künstlerroman.
Wie zwischen den einzelnen Romanen keine klare Abtrennung herrschen muss, gilt dies natürlich auch für die einzelnen Bedürfnisstufen.

Der Wechsel der Bedürfnisse

Zu Beginn der Geschichte

Eine recht billige Feststellung ist nun, dass eine Geschichte mit dem Wechsel von Bedürfnissen beginnt. Oft gibt es ein Ereignis von außen, das diesen Wechsel notwendig macht - dies wird in der Creative Writing Movement auch als ›call to action‹ oder ›call to adventure‹ bezeichnet. In MondSilberLicht etwa ist dies der Tod der Mutter. Hier wird übrigens der Wechsel nur langsam vollzogen. Emma entwickelt erst nach und nach wieder deutliche eigene Bedürfnisse. Dies zeigt sehr schön, wie ein anderes Bedürfnis, das Bedürfnis zu trauern, handlungsorientierte Bedürfnisse in den Hintergrund schiebt. Maslow vergisst dieses doch eigentlich recht wichtige Bedürfnis des Trauerns und zeigt, wie schwach sein Modell ist. Mein Tipp: ergänzt die Bedürfnisse, soweit es euch notwendig erscheint!

Was eine Katastrophe ist (rein narrativ)

Manche Romane beginnen mit einer Katastrophe. Was ist eine Katastrophe? Es ist ein Ereignis, das die Bedürfnisse auf eine deutlich tiefere Stufe schiebt: eben noch wollte man den folgenden Tag während des Frühstücks durchdenken, jetzt kämpft man gegen Zombies. Eben noch hat man sich auf einer Party sehr amüsiert, jetzt versucht man dem flammenden Inferno im Hochhaus zu entkommen. Das ist die eine Möglichkeit, eine Katastrophe mit Maslow zu beschreiben. Die andere Form ist, dass ein konventionelles Bedürfnis durch ein bedrohliches und unkonventionelles Bedürfnis abgelöst wird. Eben habe ich noch Kartoffeln gesteckt (Sicherheit von Ressourcen), jetzt kämpfe ich gegen drei Wölfe (Sicherheit des Körpers). (O.k., das letzte Beispiel ist nicht gerade ein Beispiel für eine „gute Katastrophe“.)

Wichtig: der Bedürfniswandel

Es ist jedenfalls wichtig, dass sich die Bedürfnisse wandeln. Es gibt einige Regeln, die man ganz gut befolgen kann. In Spannungsromanen kann man eine höheres Tempo solcher Bedürfniswandel gegen Ende des Romans feststellen. Und man kann einen Wechsel der Bedürfnisse auf tiefere Ebenen vom Beginn bis zum Ende des Romans erkennen. Nehmen wir als Beispiel noch einmal Lost World. Eines der wichtigsten Bedürfnisse zu Beginn dieses Romans ist das Problemlösen. Da passiert irgendetwas in der Welt; das könnte für mich wichtig sein, also mache ich aus diesem „etwas“ präzise Informationen. In dem Roman bezeichnet das natürlich, dass die Forscher feststellen, dass es eine zweite Insel mit Dinosauriern gibt. Und hier rutscht dann die Motivation auf eine niedrigere Stufe, die der Achtung. Die Forscher brennen darauf, weitere Forschungsergebnisse über das wirkliche Leben der Dinosaurier zu sammeln und planen eine Expedition.
Nach und nach kippt der Roman dann weiter nach unten in der Bedürfnispyramide, bis er in einer wilden Flucht und einem dramatischen Entkommen ausklingt. Dieser letzte Abschnitt stellt also die Sicherheitsbedürfnisse in den Vordergrund.

Zur graphischen Form

Natürlich ist diese Abfolge eher zickzackförmig als linear. In Lost World zum Beispiel gibt es zunächst den Angriff der Tyrannosaurier, die auf der Suche nach ihrem Kind sind. Dann folgt, durch einige Zwischenszenen getrennt, die Flucht vor den Raptoren (wer den Roman nicht kennt: das sind sehr bösartige, in Rudeln jagende Dinosaurier). Die Zwischenszenen sind ruhiger. Sie wechseln also zeitweilig auf eine höhere Stufe der Bedürfnispyramide.

Verschränkung zweier Handlungslinien

Eine andere Möglichkeit, mit Bedürfnissen umzugehen, ist die Verschränkung zweier Handlungslinien. Es geht zum Beispiel für den Protagonisten nicht nur darum, den Bösewicht zu besiegen, sondern auch, das Herz einer Frau zu erobern. Oder: der Protagonist muss nicht nur einer unschönen Situation die Stirn bieten, sondern auch herausfinden, was mit ihm selbst los ist. Dies wird zum Beispiel zu Beginn von Harry Potter gezeigt: Harry wohnt bei den Dursleys (unschöne Situation) und weiß nicht, warum ihm immer solch seltsame Ereignisse zustoßen (natürlich, weil er ein Zauberer ist). Dasselbe passiert am Anfang des ersten Filmes von X-Man. Eric Landser (der spätere Magneto) muss in ein Konzentrationslager (unschöne Situation) und findet heraus, dass er Kräfte hat, die er nicht erklären kann (natürlich, weil er ein Mutant ist).

Parallele Handlungen

Eine andere Form, Handlungslinien zu verschränken, ist die parallele Handlung. Ein Klassiker ist dieses Ineinander einer Krimihandlung und des Quidditch bei Harry Potter. Beim Quidditch (einem Zaubererspiel) geht es um Bedürfnisse der Achtung (der Leistung, des Respekts). In der Krimihandlung wird zum Ende immer Harry in seinem Leben bedroht. Zwischen diesen beiden Handlungssträngen gibt es natürlich einen Austausch, aber nur punktuell kann man den einen Handlungsstrang als notwendig für den anderen bezeichnen.

Bedürfnisse und Motive

Planung mit der Bedürfnispyramide

Die Bedürfnispyramide eignet sich also ganz gut, um die Dramatik von Geschichten durchzuplanen. Etwas sehr platt gesagt: im Laufe der Geschichte müssen immer notwendigere Bedürfnisse befriedigt werden und dazu muss der Autor die passenden Ereignisse finden. Beachtet bitte, dass Bedürfnisse noch keine Motive sind. Und dass wir, als Autoren, zwar die Bedürfnisse im Auge behalten sollten, aber vor allem die Motive schildern. Denn erst diese machen die Handlungen konkret. Es ist ein Unterschied, ob jemand als Leistung für sich selbst und die Gesellschaft eine neue Kunstform entwickelt oder einen bestimmten Virenstamm untersucht. Es mag dasselbe Bedürfnis befriedigt werden. Doch durch die sehr unterschiedlichen Motive sind die Handlungen natürlich ebenso unterschiedlich.

Übung

Für meine Kunden habe ich hier eine schöne Übung. Sie sollen, anhand der Bedürfnispyramide, für jede wichtige Person zu jedem Bedürfnis ein Motiv finden. D.h., wenn jemand einen Krimi schreibt und einen Kommissar charakterisieren möchte, dass er sämtliche Bedürfnisse, von den physiologischen bis hin zu denen der Selbstverwirklichung, mit Motiven versorgt.

Neurotisches Verhalten

Wenn ihr das macht, werdet ihr allerdings ein großes Problem feststellen. Es gibt nämlich, auch bei Romanfiguren, neurotisches Verhalten. Und neurotisches Verhalten kann man in Bezug auf Bedürfnisse als eine Befriedigung bezeichnen, die das entsprechende Bedürfnis gar nicht befriedigt. Wie häufig gibt es einen Protagonisten, der Probleme hat, sich auf Intimität einzulassen? Und zu ganz komischen Ersatzreaktionen neigt?
In Wirklichkeit hat der Protagonist Angst, erneut verletzt zu werden. Er beginnt also Motive zu entwickeln, die noch irgendwie sein Bedürfnis nach Intimität befriedigen, aber zugleich das Bedürfnis nach Integrität nicht verletzen. Solche innerlich gespaltenen Charaktere sind natürlich für den Leser besonders interessant. Doch genau hier bekommen wir bei der Planung eine Verdrehung der Bedürfnisse, die die Maslowsche Pyramide recht unpraktisch machen. Auch hier solltet ihr mit euch selbst großzügig sein. Probiert es aus! Ihr werdet merken, wie lästig das plötzlich wird.

Bedürfnisse auf der Satzebene

Was ich hier eher für die Mesoebene der Motiviertheit geschildert habe, funktioniert natürlich auch in einzelnen Szenen auf der Satzebene. Es gibt einen fortlaufenden Wandel der Bedürfnisse, der sich in den Handlungen der Figuren auf der Satzebene ausdrückt.
Jede Handlung verändert die Umwelt und schafft neue Ereignisse, die sich auf das nächste Handlungsmotiv auswirken. So gibt es eine ganz grundlegende Abfolge im Erzählen: Handlung - Ereignis - Handlung - Ereignis, usw.
Dieses ist auf keinen Fall eine Regel (siehe dazu das gelegentlich recht zwanghaft wirkende Buch Scene & Structure von Jack M. Bickham). Wenn zum Beispiel eine Haupthandlung auf einen anderen Charakter überspringt, gibt es einen Bruch. Es ist aber ein ganz gutes Raster, um die Logik der Handlungen zu überprüfen. Wenn man aus diesem Schema ausbricht, kann man noch einmal darüber nachdenken, ob dies an dieser Stelle sinnvoll ist.
Hier werde ich im nächsten Artikel etwas genauer werden.

Bedürfnisse und Konflikte

Konflikte mitentwerfen

Ein anderer Grund, warum ich die Bedürfnispyramide trotz all ihrer Fehler sehr schätze: damit lassen sich wunderbar Konflikte entwerfen. Wenn ihr, zumindest für die wichtigen Charaktere, eine Liste mit allen Bedürfnissen und den dazugehörigen Motiven angelegt, dann könnt ihr auch gleich dazu Konflikte entwerfen. Für handlungslastige Spannungsromane sind äußere Konflikte besonders wichtig. Nehmen wir zum Beispiel an, der Protagonist untersucht bestimmte Viren, um ein neues Medikament zu entwickeln und steht kurz vor einem bahnbrechenden Ergebnis. Nun tritt das Bedürfnis eines anderen Protagonisten mit diesem Motiv in Konflikt. Der andere Protagonist möchte sich die Forschungsergebnisse unter den Nagel reißen.
Ein anderer Konflikt wäre: Niemand, außer dem Forscher, erkennt, dass der große Durchbruch kurz bevor steht. Ihm werden die Gelder gekürzt oder er sogar entlassen und muss nun, auf eigene Faust, sich ein neues Labor aufbauen und seine Arbeit zu Ende bringen. Das Bedürfnis nach Leistung (Forschung) stößt konflikthaft mit dem Bedürfnis nach Ressourcen (Kürzung der Forschungsgelder) zusammen.

Sich Zeit lassen

Meine Erfahrung, bzw. die meiner Kunden, ist folgende: lasst euch bei den Möglichkeiten, Konflikte zu entwerfen, Zeit. Ihr werdet erstaunt sein, wie viele Konflikte euch einfallen, sobald ihr nur ein wenig Übung habt. Da Konflikte die Motoren des Spannungsromans sind, schafft ihr euch häufig einen ganzen kleinen Maschinenpark an. Fangt vor allem mit äußeren Konflikten an.

Innere Konflikte

Innere Konflikte entstehen dann, wenn zwei Bedürfnisse derselben Person sich auf zwei Motive beziehen, die nicht zueinander passen. In letzter Zeit lese ich zum Beispiel häufig folgendes Beispiel: junger Mann verliebt sich in homophober Umgebung in einen anderen Mann: er möchte der Moralität gehorchen (Homosexualität ist böse), aber ebenso seiner Liebe folgen (Homosexualität ist gut). Ebenso: Junge Frau will Ärztin werden, in einer Zeit, in der Frauen dazu noch nicht das Recht hatten; zudem möchte sie nicht ihre Familie aufgeben, die diesen Wunsch komplett ablehnt.
Innere Konflikte sind schwieriger zu entwerfen. Hier muss man wirklich herumprobieren. Ganz günstig ist es, sich zwei verschiedene Bedürfnisse zu wählen (bei einer Figur) und zwei konflikthafte Motive dazu zu erfinden. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass glaubwürdige Konflikte erst nach und nach entstehen. Viele eurer ersten Entwürfe werden euch sofort unsinnig vorkommen. Ihr solltet das trotzdem ausprobieren: man sagt ja so schön, dass ein Schriftsteller zu 95 % für den Müllkorb produziert. Dies gilt offensichtlich auch für die Konstruktion innerer Konflikte.

Vielfältige Konflikte nutzen

Schließlich kann man natürlich auch verschiedene Konflikte im Roman verwenden. Eine ebenfalls ganz günstige Technik ist, zueinander passende Konflikte zu einer Abfolge zusammenzustellen und darum herum seine Handlungen zu basteln. Dann benutzt ihr die Konflikte als eine Art erstes Gerüst für eine Geschichte, von der aus ihr euch an eine konkrete Ausgestaltung des Plots wagen könnt. Diese Technik ist nicht jedermanns Sache. Manche meiner Kunden kommen damit gut zurecht, andere empfinden sie als unpassend. Ob es euer Geschmack ist, müsst ihr ausprobieren.
Auf der anderen Seite sollten ihr aber auch vermeiden, zu viele Konflikte gleichzeitig ins Spiel zu bringen. Nicht nur sind diese schwierig zu handhaben, wenn auch für erfahrene Schriftsteller*innen nicht unmöglich, sondern sie können auch unerfahrene oder auf Kurzweil pochende Leser*innen überfordern. Hier orientiert ihr euch am besten an euren literarischen Vorbildern.

Mikrologik IVa: Ebenen der Motiviertheit

Ich entschuldige mich zunächst, dass ich doch relativ spät den nächsten Artikel zum Mikrologik veröffentliche. Ihr habt es ja mitbekommen: ich bin emotional und dann auch intellektuell von diesen Streitereien um die Qualität von Büchern abgelenkt worden.
Auch diesmal werde ich eher eine theoretische Betrachtung geben. Die praktische Seite möchte ich getrennt behandeln, also in einem späteren Artikel. Diesmal geht es mir um die Motive einer Geschichte und zwar auf der narrativen Ebene. Die narrative Ebene, ich erinnere daran, behandelt alles, was eine Geschichte als real aufbaut. Auf der narrativen Ebene ist ein Baum ein wirklicher Baum, eine Insel eine wirkliche Insel und eben das Bedürfnis des Protagonisten, seine Familie zu beschützen, ein wirkliches Bedürfnis.
Es ist also diese narrative Ebene, auf die sich Leser einlassen, wenn sie sagen: dieser Roman hat mich ganz in seinen Bann gezogen, ich konnte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Für einen Unterhaltungsschriftsteller ist das sogar das oberste Ziel. Wem es gelingt, den Leser in die Welt des Protagonisten hineinzuziehen, der hat ordentliche Arbeit geleistet und die schriftstellerischen Techniken hinreichend gut angewendet.

Motiviertheit

Ich weiß: Motiviertheit ist wieder so eins meiner Wörter. Damit meine ich, wie sich die Motive des Protagonisten (und aller anderen Figuren) auf der narrativen Ebene darstellen. Es handelt sich also um „reale“ Motive und natürlich auch solche, die uns fesseln müssen, damit wir mit dem Protagonisten mitfühlen können.
Die erste Frage ist, was überhaupt ein Motiv ist. Ein Motiv ist ein Ziel für die Befriedigung eines Bedürfnisses. Wer Hunger hat, macht sich etwas zu essen. Das Bedürfnis ist der Hunger. Essen ist das Motiv, um dieses Bedürfnis zu befriedigen. Betrachtet man sich die Art der Motive genauer, dann kann man zusätzlich sagen, dass Motive nicht irgendwie ausgewählt werden, sondern so, wie die Kultur es nahelegt. Zwar können die ganz grundlegenden Bedürfnisse und deren Befriedigung als auf der ganzen Welt gleich angesehen werden, aber ein Bedürfnis nach Freundschaften wird in Deutschland mit Sicherheit anders ausgelebt als in Japan oder in Brasilien. Motive sind also bedingt kulturabhängig.
Bedürfnisse dagegen werden aus der Situation heraus bewertet und in den Vordergrund gestellt oder beiseite geschoben. Hat zum Beispiel ein Mensch seit Tagen nichts gegessen, dann ist sein Bedürfnis nach Nahrung besonders groß. Er wird in diesem Fall nicht fragen, wie er auch noch sein Bedürfnis nach Kreativität ausleben könnte. Ja, er würde sogar dieses Bedürfnis in diesem Moment als völlig unwichtig erachten.
Diese Ansicht ist psychologisch natürlich sehr problematisch. Aber für die Betrachtung von Romanen ist sie hilfreich. Wir können uns nämlich an dieser Stelle fragen, welche Bedürfnisse eine Romanfigur motivieren und wie er sie befriedigen möchte. Zudem können wir sagen, dass die Motive zwar in der Erzählung nicht ständig auftauchen müssen, aber sie etwas sehr wichtiges leisten: Sie geben einer Handlung eine Einheit. Nehmen wir an, ein Einbrecher möchte ein kostbares Gemälde aus einer Villa entwenden. Sein Bedürfnis ist zum Beispiel die Selbstverwirklichung: er sieht den Diebstahl eher als Sport an. Und sein Ziel/Motiv ist natürlich, in den Besitz des Gemäldes zu kommen. Damit ist allerdings auch eine Lücke zwischen dem Bedürfnis und dem Motiv gesetzt und diese Lücke muss durch Handlungen ausgefüllt werden. Aber jetzt sind es zielgerichtete Handlungen.

Drei Ebenen der Motiviertheit

Betrachtet man sich die Motive in einem Roman, so kann man ungefähr drei Ebenen unterscheiden: zunächst die des groben Plots, die ich Makroebene nennen werde und auf der sich das wesentliche Bedürfnis des Protagonisten widerspiegelt. In vielen Romanen ist dies die Idylle: die Anna ist schließlich mit ihrem Peter zusammen, Harrys Narbe hat seit vielen Jahren nicht mehr geschmerzt und alles ist gut, und der Kommissar hat den Verbrechern überführt und der Gerechtigkeit Genüge getan.
Eine zweite Ebene ist die der Szenenabfolge. Das große Motiv des Romans teilt sich hier in Teilmotive auf. Diese werden auf die eine oder andere Art und Weise in den Szenen und Szenenabfolgen behandelt. Um den Räuber Hotzenplotz zu überführen, basteln Kasperl und Seppel eine Kiste mit der Aufschrift „Vorsicht, Gold!“. Das Motiv ist also, die Kaffeemühle von Großmutter wiederzubekommen. Zwei Teilmotive sind, den Unterschlupf von Hotzenplotz zu identifizieren und vorher durch einen Trick Hotzenplotz zu einer unbedachten Handlung zu veranlassen.
Schließlich gibt es eine dritte Ebene. Jeder Mensch muss eine Reihe von Handlungen ausführen, um ein Motiv oder ein Teilmotiv zu erreichen. Er muss, wenn wir weiter beim Hotzenplotz bleiben, eine Kiste auswählen, diese mit Sand füllen, ein Loch in die Kiste bohren und es mit einem Streichholz verstopfen, die Kiste zunageln und mit roter Farbe einen Schriftzug darauf pinseln. Mit anderen Worten: die Teilmotive teilen sich weiter auf bis hin zu einzelnen Handlungen. In vielen dieser Handlungen muss, zumindest im Spannungsroman, das große Motiv der Geschichte durchscheinen.
Schauen wir uns aber diese drei Ebenen jede für sich an.

Makroebene: der Plot

Spannungsromane haben ein einheitliches Ziel, zumindest in den meisten Fällen. Am einfachsten lässt sich dies an Krimis erklären. Irgendjemand hat einen Mord begangen. Der Kommissar muss jetzt, zunächst nur von Amts wegen, diesen Mord aufklären. Sein Motiv ist also die Wiederherstellung der Gerechtigkeit (im weiteren Sinne) und den Täter vor Gericht zu bringen (im engeren Sinne).
Häufig findet man folgenden Ablauf: in einem ersten, kurzen Akt lebt der Protagonist noch in einem Gleichgewichtszustand, der dann aber massiv erschüttert wird; in einem zweiten, längeren Akt orientiert sich der Protagonist und plant seine Handlungen; in einem nächsten, dritten Akt handelt der Protagonist; und schließlich erreicht der Protagonist sein Ziel und kehrt mehr oder weniger zur ursprünglichen Idylle seines Lebens zurück.
Ein Beispiel: der Protagonist wacht morgens auf und bereitet alles für sein Frühstück vor (erster Akt); als er aus dem Fenster blickt, stellt er fest, dass draußen ein Riesenchaos herrscht, die Menschen sich wie irre benehmen und dann natürlich auch, dass sich plötzlich ein Großteil der Bevölkerung in Zombies verwandelt hat: der Protagonist flieht vor ihnen und sucht nach einem sicheren Unterschlupf (zweiter Akt); da sich die Zombies allerdings „irgendwie“ intelligent verhalten, reicht eine einfache Flucht nicht und nötigt den Protagonisten zu einem Gegenschlag (dritter Akt); dieser Gegenschlag gelingt zwar nicht vollständig, aber zumindest so, dass der Protagonist einen besseren Zustand herstellen kann (vierter Akt). Das ist nun keine besonders originelle Geschichte, zugegeben. Sie ist sogar recht primitiv und wer die üblichen Zombieromane und Zombiefilme kennt, hat sie schon 1000 mal gelesen/gesehen. Aber das Prinzip dürfte dadurch deutlich geworden sein.
Das Bedürfnis, das in Zombieromanen wesentlich verletzt wird, ist das Bedürfnis nach Sicherheit. Das Motiv des Protagonisten besteht zum Beispiel darin, sich mit anderen Menschen zusammenzutun und eine zombiefreie Zone zu errichten.
Nehmen wir ein etwas missglückte Beispiel für eine Geschichte: das erste Buch von Twilight. Im Prinzip handelt es sich um zwei Geschichten, die hintereinander erzählt werden. Die erste Geschichte ist jene, wie Bella und Edward ein Paar werden. Hier ist der Vorspann (der erste Akt) relativ lang; man kann ihn bis zu jener Szene in der Biologiestunde angeben, als Bella merkt, dass Edward offensichtlich großen „Abscheu“ gegen sie hegt. Allerdings könnte man den Wechsel in den zweiten Akt auch schon früher ansetzen, nämlich den Moment, in dem Bella Edward zum ersten Mal sieht. Wann genau man dieses Wechsel sieht, ist wohl eine Geschmacksfrage. Der zweite Akt spannt sich (meiner Ansicht nach) bis zu dem Moment, als Bella in der Stadt von einigen Jugendlichen verfolgt und durch Edward gerettet wird. Man kann allerdings auch die Restaurantszene mit dazunehmen. Ab hier gibt es dann einen „Tanz“, was für eine Beziehung die beiden führen können. Dies hängt im Wesentlichen davon ab, wer Edward ist. Als dies schließlich klar wird, wechselt der Roman (nicht der Film) in den vierten Akt und könnte abgeschlossen werden. Nun passiert hier aber Folgendes: in dem Moment der Idylle (erster Akt der zweiten Geschichte) bricht eine Art Katastrophe in die Welt der beiden ein: ein feindlicher Vampir, dessen Motiv eindeutig ist: er möchte Bella töten. Und nun wiederholt sich die ganze Struktur: es wird nach einer Lösung gesucht (zweiter Akt), die Lösung durchgeführt (dritter Akt), wobei es einige Komplikationen gibt, und schließlich der Feind besiegt (Übergang in den vierten Akt).
Missglückt (zumindest in einem gewissen Sinne) ist Twilight deshalb, weil die beiden Geschichten nicht eng genug miteinander verflochten sind. Es gibt sozusagen zwei große Motive, die das Handeln der Protagonisten motivieren, aber den Roman zerbrechen. Hier wäre eine engere Verflechtung günstiger gewesen. Auf der anderen Seite ist allerdings diese Zweiteilung auch nicht so schlimm, weil es einige Nebenkonflikte gibt, die dem Roman wieder eine gewisse Einheitlichkeit verschaffen: so zum Beispiel die Kabbeleien zwischen Bella und ihrem Vater oder der sich abzeichnende Konflikt zwischen Edward und Jacob. Der Film schafft es hier, die beiden Konflikte ein Stück weit parallel laufen zu lassen; so wird zum Beispiel relativ frühzeitig gezeigt, wie ein Mann von den drei fremden Vampiren gejagt wird und wie hier, über den Vater von Bella, dieser Tote zu einem Thema für Bella wird.

Mesoebene: die Szenen

Ein Plot teilt sich selbstverständlich in Szenen auf. Und zunächst kann man sagen, dass sich die Struktur des gesamten Plots auch in den einzelnen Szenen, aber auch in Szenenabfolgen wiederholt. Es gibt also dieselben vier Akte in manchen Sequenzen und in den Szenen selbst. Hier ist allerdings Vorsicht geboten! Während der Spannungsroman in seinem Plot am besten so aufgebaut wird, wie ich das oben geschildert habe, gilt dies für die Szenen nur teilweise. 95 % aller Szenen gehorchen dieser Regel, 5 % allerdings nicht.
Diese 5 % dienen zum Beispiel der Beschreibung von Ortswechseln (Reisen) und sind entsprechend nur kurz; viel wichtiger sind Szenen, die der charakterlichen Vertiefung dienen: so nutzt der italienische Krimiautor Camilleri solche Szenen, um seinen Commissario Montalbano irgendwo essen gehen zu lassen und ihn dabei als genusssüchtigen und knurrigen Menschen zu beschreiben. Die Szenen selbst tragen wenig oder gar nichts zum Fortgang der Geschichte bei und sind humorvolle Einsprengsel.
Im Allgemeinen aber kann man sagen, dass eine Szene immer in irgendeiner Weise ein Teilmotiv in Bezug auf das gesamte Motiv verwirklicht. Zu Beginn eines Romans sind diese Motive noch sehr lose mit dem Gesamtmotiv zusammenhängend. Bella aus Twilight zum Beispiel möchte sich einfach nur irgendwie in ihrer neuen Umgebung einleben; Harry Potter möchte vor allem aus dem Schussfeld seiner Ersatzfamilie kommen; und die Forscher aus Lost World (Michael Crichton) sind zunächst nur daran interessiert, die Gerüchte zu klären, ob es eine zweite Insel mit Dinosauriern gibt. Gerade Lost World zeigt uns aber auch, wie natürlich verschiedene Motive ineinandergreifen können: zunächst wird eine Information geprüft und bestätigt, was als nächstes die Reise auf die Insel motiviert; dort geraten die Forscher dann in allerhöchste Gefahr und ihr letztes Motiv ist die sichere Flucht aus der tödlichen Umgebung. Zusammengehalten wird diese Geschichte durch ein ganz anderes Bedürfnis, den Forschungsdrang.
Jede Szene verwirklicht also ein Teilmotiv. Und ein Weg zu einer guten Szeneabfolge besteht darin, das große Motiv gut aufzuteilen. Hier jedoch ist Vorsicht geboten.
Die meisten Spannungsromane enden damit, dass ein Motiv des Protagonisten befriedigt wird. Der Täter wird überführt, die Liebe erfüllt sich, der böse Herrscher ist besiegt. Genau das aber müssen Szenen nicht leisten. So kann in einer Szene zum Beispiel das Gespräch zwischen dem Protagonisten und einer Zeugin unbefriedigend ausfallen. Der Protagonist möchte Klarheit schaffen (Bedürfnis) und die Zeugin kann oder will dies nicht leisten. Auf der Ebene der Szenen also kann ein Bedürfnis enttäuscht werden. Das sind dann die berühmten Hindernisse, die Autoren von Spannungsromanen in ihrer Geschichte einbauen sollten. Eine andere Abweichung ist die Täuschung. Der Kommissar verfolgt eine falsche Spur und muss feststellen, dass er die Tatsachen missinterpretiert hat. Nehmen wir an, der Schriftsteller hat dies in 4-5 Szenen ausgeführt. Diese haben für sich die richtige Abfolge und bauen eine gewisse Spannung auf, enden aber mit einer Enttäuschung.
Trotzdem muss der Protagonist von Szene zu Szene ein Motiv haben, egal ob dieses erfüllt oder enttäuscht wird. Und eine der häufigsten Fehler junger Schriftsteller ist, dass ihre Protagonisten gerade keine solche Teilmotive haben und deshalb auch nicht handeln. Nicht handelnde Protagonisten, ich glaube, das muss man nicht weiter erklären, sind der Tod der Spannung. Hier ist es hilfreich, sich Szene für Szene ein Motiv zu setzen, auf das der Protagonist hin strebt und diese Motive als Teilmotive in Bezug auf den gesamten Roman zu entwerfen, mit den Einschränkungen, die ich oben genannt habe.

Mikroebene: die Handlungen

Genauso gibt es allerdings auch eine Motiviertheit, die sich von Satz zu Satz entlanghangelt. Hier möchte ich noch einmal auf den Roman MondSilberLicht eingehen und ein relativ unverfängliches Beispiel geben:
(1) Ich war trotz der Kälte eingeschlafen. (2) Ich erwachte, weil jemand meinen Namen rief. (3) Verwirrt sah ich mich um. (4) Gleich darauf fiel mir ein, was passiert war. (5) Vorsichtig stand ich auf, doch meine Beine wollten nicht richtig gehorchen.
(6) »Ich bin hier«, flüsterte ich und versuchte es gleich noch einmal etwas lauter. (7) Da stand Calum plötzlich neben mir. (8) Seine Augen glitzerten mich an. (9) Erleichtert zog er mich an sich.
(Position 1211)
Wir können nun diese Passage Bedürfnis für Bedürfnis und Motiv für Motiv zerpflücken. Das ist eine etwas lästige Aufgabe, leider aber sehr hilfreich, um diese Mikroebene der Motiviertheit zu veranschaulichen.
Satz (1) bezieht sich auf das Bedürfnis, seine Müdigkeit zu „befriedigen“. Dieses Bedürfnis muss man aus dem Kontext nicht erwähnen und da das Motiv die übliche Art und Weise ist, wie man mit Müdigkeit umgeht, kann die Autorin die Sache rasch abhandeln. Konventionelle Bedürfnisse oder solche, die in der Geschichte keine große Rolle spielen, müssen nicht weiter erklärt werden. Auch Satz (2) ist unproblematisch. Hier kommt die Motiviertheit aus der Alltagslogik: wer einschläft, wird irgendwann aufwachen. Der Satz (3) ist auch konventionell, basiert aber auf psychologischem Alltagswissen: kurz nach dem Aufwachen ist man orientierungslos. Das muss zwar nicht immer so sein. Aber es ist nachvollziehbar und genau darauf verlässt sich die Autorin auch. Satz (4) nutzt wie Satz (2) eine Alltagslogik: wer desorientiert ist, orientiert sich; hier durch eine Erinnerung, die die Situation klärt. Woolf kürzt allerdings diese Klärung komplett ab. Sie erinnert durch eine „Floskel“ („… was passiert war“) an das, was der Leser eben gelesen hat. Dadurch vermeidet sie Verdopplungen.
Auch der fünfte Satz beruht auf einer Konvention: wer schläft, der liegt, und muss aufstehen.
Ab hier beginnt eine recht hübsche Verflechtung. In Satz (2) erwacht Emma, weil sie gerufen wird. Der Satz drückt ganz direkt eine Motiviertheit aus. Er begründet, warum Emma sich so verhält. Dies wird nun in Satz (6) wieder aufgenommen und zwar auf der Ebene der konventionellen Handlungsabfolge: wer gerufen wird, antwortet. Im Satz (7) steht Calum zwar plötzlich neben Emma, aber auch dies beruht eigentlich nur auf einer konventionellen Handlungsabfolge: wer gesucht wird, wird gefunden. Und noch etwas erbsenzählerischer: jemand hat ein Bedürfnis, jemanden zu finden (Calum und Emma), sucht deshalb (Teilmotiv) und wird gefunden (Motiv). Etwas kompliziert ausgedrückt, ich weiß. Manchmal ist es allerdings sehr hilfreich, sich diese winzigen Funktionen deutlich zu machen, die alle zusammen in eine große und gute Geschichte münden.
Die letzten beiden Sätze beziehen sich auf die Motiviertheit von Calum und lassen zwischen den Zeilen lesen, dass er sie liebt. Emma erscheint hier passiv. Das ist allerdings kein erzählerischer Fehler. In Liebesromanen findet man solche Passagen häufiger, gerade wenn der Protagonist verunsichert und schüchtern ist. Hier muss der Autor dann zwischen einer einheitlichen Charakterisierung als verunsichert und der Notwendigkeit, dass der Protagonist auch handeln muss, abwägen. Woolf schafft dies sehr gut.
Zunächst können wir also an der ganzen Passage feststellen, dass von Satz zu Satz Motive beachtet werden, auch wenn diese nicht hingeschrieben werden. Sie lassen sich nur zwischen den Zeilen und Sätzen lesen. Oft werden sie vom Leser ergänzt. Der Leser kann sie leicht ergänzen, weil sie (die Motive) konventionell oder psychologisch gut nachvollziehbar sind.
Vielleicht wird jetzt auch deutlich, warum ich auf diese Ebene so beharre: die konventionellen Motive machen Handlungen und Handlungsabfolgen nachvollziehbar. Wir erinnern uns: einschlafen - aufwachen. Und die psychologisch nachvollziehbaren Motive gestalten den Charakter mit. Der Charakter ist besonders wichtig, wenn es um die Identifikation des Lesers mit dem Protagonisten oder der Protagonistin geht.

Erbsenzählerei

Es ist natürlich schon ganz schön penibel, was ich dort oben gemacht habe. Und, soviel kann ich verraten, ich habe die ganze Sache abgekürzt. Ich hätte noch umständlicher und ausführlicher beschreiben können.
Trotzdem empfehle ich euch, euch die eine oder andere Stelle eines Romans auf genau diese Art und Weise anzusehen, sie nämlich nach Bedürfnissen und Motiven durchzukommentieren. Angenehm ist diese Arbeit nicht. Ich habe hier ein gewisses wissenschaftliches Selbstverständnis. Eine der ersten Regeln dabei ist, eine Sache so präzise wie möglich zu beschreiben. Spaß allerdings macht das nicht so wirklich. Warum aber ist dieser Arbeit ganz sinnvoll? Ihr entwickelt eine Sensibilität dafür, wie und wann ihr solche Motiviertheiten präziser einsetzt. Um diese Sensibilität geht es. Sie ist dort hilfreich, wo man (bei seinen eigenen Romanen) über einen Missklang stößt und nicht genau weiß, woher dieser kommt.
Wenn ihr allerdings einen Roman schreibt, dann solltet ihr diese Techniken komplett vergessen. Wenn ihr euch nämlich hier versucht, penibel daran zu halten, könnt ihr sicher sein, dass ihr vor allem eins schreibt: hölzerne Literatur.
Nicht die Techniken sind zuallererst wichtig, sondern das Gefühl für ihren angemessenen Einsatz. Manche Menschen bringen dieses Gefühl aus ihrem Leben mit; andere können sich dies, zum Beispiel durch die Analyse, erarbeiten. Solltet ihr mit eurem Schreibstil unglücklich sein oder jemand daran herummeckern, dann sind diese akribischen Kommentare ein ganz gutes Mittel, um sich zu verbessern.
Ihr solltet euch Zeit lassen und gerade am Anfang mit euch selbst großzügig sein. Wenn ihr keine Lust mehr hat (was zuerst häufig nach zwei, drei Kommentaren passiert), dann folgt eurer Lust und hört auf.

Fazit

Seit Jahren bin ich auf der Suche, was gute Techniken des Spannungsaufbaus ausmacht. Diese Techniken sind natürlich irgendwie schon längst bekannt. Häufig werden sie in Form von Empfehlungen (Maximen) gegeben, wie zum Beispiel: baue Hindernisse in deine Geschichte ein!
Allerdings sind solche Maximen auch wieder recht handlungsleer. Denn Hindernisse allein machen noch keine spannende Geschichte aus. Deshalb liegt mein Schwerpunkt darauf, diese Techniken nicht nur präziser zu identifizieren, sondern auch ihre Verflechtung zu beschreiben. Dabei ist die analytische Trennung in die drei Ebenen der Motiviertheit (Plot, Szene, Handlung) eine ganz hilfreiche Konstruktion.
Auf keinen Fall sollte man aber diese Techniken überbewerten. Ein technisch einwandfrei geschriebener Roman kann trotzdem langweilig sein. Und sofern diese Techniken nicht ständig misshandelt werden, kann man sich auch den einen oder anderen „Schnitzer“ leisten. Sofern die Geschichte im Großen und Ganzen gut funktioniert, sind Leser meist so freundlich, hier die Lücken aufzufüllen. Und meist merken sie das selbst gar nicht.

Ich werde auf dieser Technik noch ein wenig herumreiten. Es wird also weiterhin um Sätze gehen und um die Verflechtung von Sätzen. Und es wird um solche „realen“ Mikromotive in Erzählungen gehen.