17.05.2015

Narrative Intelligenz

Der Mensch, bzw. sein Selbst, so wusste mein guter Peter Fuchs zu sagen, konstituiert sich im Medium der Erzählungen. Ich wiederum bin den Zeichen, Metonymien und Rätseln gefolgt, dann der Argumentation, insbesondere den Enthymemen, die sich auf unvollständige und nicht überprüfbare Voraussetzungen stützen. Schließlich ist im letzten Jahr der Begriff der Hegemonie für mich wichtig geworden und, dank E., ein zweites Mal die Semiosphäre.
Überblickt man diese Kette von Begriffen, dann bilden die kleinen, alltäglichen Erzählungen jenes unsichere Bündel von geteiltem Weltbewusstsein, in dem wir uns bewegen. Sie sind offen für Verdrehungen und Verstellungen, ja können gar nicht anders, da sie zugleich Abkürzungen durch eine von Sinnesreizen so reiche Welt bieten. In den Erzählungen bilden sich auch all die primitiven Begriffe, die wir zur Meisterung unseres alltäglichen Lebens brauchen; sie machen uns handlungsfähig.

Narrative Intelligence Hypothesis

Die Evolution des Abwesenden

Fritz Breithaupt schreibt dazu:
Kerstin Dautenhahn hat unter dem Stichwort der »Narrative Intelligence Hypothesis« vorgeschlagen, die Fähigkeit zur Narration als entscheidende Errungenschaft anzusehen, die evolutionär mit der rapiden Steigerung sozialer Komplexität einherging ...
(123)
Diese These ist schon deshalb gut nachvollziehbar, weil die Fähigkeit, Zeichen nach Regeln zu verketten, bedeutet, Abwesendes aneinanderzufügen, also nicht die tatsächliche Handlung auszuführen, sondern "nur" eine symbolische. Dadurch besteht aber auch die Möglichkeit, eigentlich Unvereinbares nebeneinander bestehen zu lassen. Unsere Fähigkeit, uns neue Welten ausdenken zu können, ist wohl unbestritten, auch wenn dies erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts systematisch geschieht, nachdem das 18. Jahrhundert all die großen Spukgestalten der Menschheit als literarischen topos entdeckt hat.

Gedankenfügung, Weltkodierung

Narration mache die natürlichste und erfolgreichste Art und Weise der Gedankenfügung aus. Kleinkinder besitzen die Fähigkeit zur Narration vielleicht von Geburt an.
(123)
so Breithaupt weiter.
Auch dies ist leicht einzusehen, kann doch jeder Satz sowohl räumliche wie zeitliche Elemente zusammenfügen und wieder auseinandernehmen. Jedes Subjekt in einem Satz verweist bereits auf ein Bündel an Erfahrungen, die wir mit dieser Person oder diesem Gegenstand gemacht haben.
Sätze fügen die Welt zu Zeichen zusammen und ordnen, ja erschaffen die Welt zugleich damit in ihrer spezifischen Ordnung. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass wir uns die Welt aus einem reinen Nichts erschaffen, aber zumindest ist unsere Weltordnung Basis unserer Handlungsfähigkeit und über unsere Handlungsfähigkeit regeln wir die weitere Ordnung der Welt und unsere eigene Stellung in ihr. Insofern gilt die These des Konstruktivismus trotzdem: wir erschaffen uns unsere eigene Welt, allerdings mit sorgfältiger Beachtung dessen, wo sich ein Signal abschwächt oder in die Höhe schießt, ohne dass wir uns darauf einen Reim machen können. Was geschieht, ohne dass wir es erklären können, muss anderswo verursacht worden sein, also in der Welt.

Satzfügung

Unsere Fähigkeit zu sprechen hat uns auch die Möglichkeit gegeben, Welten miteinander zu teilen. Dabei sind die Zeichen nicht ausschlaggebend, zunächst nicht. Wichtig ist die Analogie zwischen Handlung und Sprache. Ein Wort wie »Elefant« sagt einem Säugling nichts. Dieser kann aber über Verweisen und dazugehörige Laute die Sprache entdecken. Ein »ee« kann dann als Ausdruck für eine leere Trinktasse ebenso dienen wie als Ausdruck, dass der Papa hinter einer Tür verschwunden ist.
Später werden Wörter als inhaltlich aufgefüllt vorausgesetzt. Hinter einer geordneten Lautfolge steht eine geordnete Vorstellung, mithin ein Begriff. So einfach ist dies allerdings nicht; denn häufig gehen wir mit halben, nicht wissenschaftlich geordneten Begriffen um. Sie sind, wenn man hier ein Bild von Kant nehmen möchte, noch nicht durch die öffentliche Diskussion hindurch gegangen.
Um uns des aktuellen Gebrauchs von solchen vagen Begriffen zu versichern, sind Sätze notwendig, die den Kontext festlegen. Dabei kann man natürlich auch den anderen Wörtern eine solche Unklarheit vorwerfen. Aber anscheinend schaffen wir es, aus diesen verschiedenen Unklarheiten ein solches Wechselspiel herzustellen, dass schließlich eine Klarheit entsteht. Wechselseitige Limitation von Möglichkeiten, so nennt dies Luhmann.

Grammatik

Deshalb wird auch die Grammatik so wichtig. Die Grammatik hat, zugegebenermaßen, einen Zwangscharakter. Die Schüler mögen sie nicht. Es sind Regeln, deren Bedeutung man nicht einsehen mag. Einzusehen aber ist, dass Grammatik eben tatsächlich keine Bedeutung hat, außer eben die Bedeutung einzuschränken und nicht mehr jede Vorstellung zuzulassen, sondern nur noch gewisse. Der »Hund in der Badewanne« besitzt eine genaue Kraft der Evokation, lässt aber noch offen, ob dies mit oder ohne Schaumbad, tot oder lebendig, einen halben Tag oder nur zehn Minuten zu sein hat.
Anders gesagt dient Grammatik der Verfugung von Wörtern zu Sätzen und von Sätzen zu Textmustern und damit einer Temporalisierung des Abwesenden und Vorgestellten. Wer die Grammatik einer Sprache beherrscht, nimmt an ihrer Konstruktion von Welten teil.

Textmuster

Dass es Textmuster gibt, ist für manche Menschen immer noch überraschend, obwohl Literaturwissenschaft und Linguistik seit vielen Jahren damit umgehen. Schwieriger ist anzugeben, wie sich die Grundelemente von Textmustern zusammensetzen. Hier erscheint die Lage ähnlich kompliziert wie die der Rhetorik. In der Rhetorik finden sich zahlreiche Ebenen, auf denen rhetorische Figuren platziert werden können, von der lautlichen Ebene (wie zum Beispiel bei der Alliteration) bis hin zur intertextuellen Ebene (so bei der Parodie oder der Allusion).
Textmuster können nur dann Textmuster sein, wenn sie explizit oder implizit auf Regeln aufbauen. Hier genügt zum Beispiel nicht, dass die Schule zwischen einer Beschreibung und einer Schilderung oder zwischen einer Erzählung und einer Anekdote differenziert. Eine Erzählung von Franz Kafka beginnt ganz anders als eine von Thomas Mann. Ein Arthur Schnitzler ist kein Bertolt Brecht. Und auch die Erzählungen alltäglicher Leute lassen sich nicht einfach unter einen solch diffusen Begriff vereinen.
Worin besteht also die Einheit eines Textes? Der stärkste Kandidat dafür ist die Wiederholung, sei es durch die direkte Wiederholung (so hat jede Erzählung bestimmte Figuren, die immer wieder benannt werden), die verweisende (zum Beispiel durch Pronomen) oder die auf Attributionen beruhende (Mensch und Elefant gehören zu den Säugetieren; Pflug und Schwein gehören zum Bauernhof). Eine eigentliche Einheit des Textes gibt es nicht; doch der Text suggeriert bestimmte Einheiten und der lesende Mensch greift diese dankbar auf.
Dass dann die Wiederholung Regeln suggeriert, darf als Allgemeinplatz angefügt werden.

Narrative Intelligenz

Breithaupt zitiert dann Dautenhahn direkt:
»Narration könnte das ›natürliche‹ Format der Kodierung und Übertragung von sozial bedeutungsvoller Informationen sein (zum Beispiel von Gefühlen und Absichten und Gruppenmitgliedern)«.
(123)
Doch tatsächlich müsste man die Narration nicht als ein besonderes Vermögen beschreiben, sondern eher als ein Unvermögen, ein Wiederholungszwang, der sich einer gewissen Abwechslung und Austauschbarkeit erfreut; so dass man einen berühmten Buchtitel folgendermaßen abändern könnte: Die Geburt der Narration aus dem Geiste der Wiederholung.
Mit anderen Worten ist Narration das, was entsteht, wenn Menschen nach der Wiederholbarkeit von Ereignissen suchen und dabei neue Erlebnisse haben. Dann entsteht ein eigentümliches Gemisch aus Wiederholbarkeit und Neuheit. Und sofern wir dies dann symbolisieren, entsteht eine Erzählung.

Durchdachte Limitationen

Offensichtlich hat sich im siebten Jahrhundert vor Christus, mit den Vorsokratikern, eine kulturelle Wende angebahnt, deren Ende heute weniger denn je abzusehen ist. Dort ungefähr kann man den Übergang vom Mythos zur Philosophie bestimmen. Viel wichtiger jedoch ist, dass sich damit der Mensch von den Automatismen der mythischen Textmuster nach und nach befreit und sich durchdachte Begrenzungen einfallen lässt. So wird das Schreiben seit jeher reflektiert; und da jegliches Schreiben bedeutet, sich auf bestimmte Textmuster einzulassen, ist es immer Begrenzung und Selbstbegrenzung, niemals aber frei. Es gibt immer Vorschriften, wie man zu schreiben habe. Und insofern ist zum Beispiel die Wut, die manche Schriftsteller auf solche spezifischen Schreibaufgaben pflegen, keineswegs nachvollziehbar. Werden solche Schreibaufgaben nicht gemacht, geraten die Autoren in Gefahr, auf die unbewussten Muster zurückzugreifen und damit das Übliche zu schreiben, weil sich dieses Übliche aufdrängt.

Rhetorik

Emphase und Satzgefüge

Betrachtet man die Rhetorik, dann scheint diese durch Auffälligkeiten zu wirken. Der eine Autor betont den Wortbeginn und lässt Gott, Gold, Gondel im gleichen Gedicht auftauchen. Der andere Autor bedient sich gleichermaßen bei der griechischen Mythologie wie der aktuellen Politik, so dass sich Putin und Ares ebenso verschränken, wie Merkel und Hestia. Wer dies lesen kann, fühlt sich in eine gewisse Richtung gedrängt, und versucht, das einmal erkannte Prinzip auf den ganzen Text anzuwenden.
Dementsprechend scheint die Satzgrammatik wie ein Angelpunkt für verschiedene Ansätze zu sein, die auf ganz anderen Ebenen Wiederholungen herzustellen versuchen. Rhetorische Figuren bauen solche Emphasen jenseits der Satzgefüge auf und beharren damit auf einer individuelleren Weltkonstruktion.

idioms and phrases

Besonders bekommt man die Individualität rhetorischer Konstruktionen dann zu spüren, wenn man sich Idiome anderer Sprachen ansieht. "Cheese it!" ist eine umgangssprachliche Metapher, die mit "Mach die Fliege!" übersetzt wird. Beide Idiome dürften schwer zu übersetzen sein. Idiomen sind oftmals Wortschöpfungen, die zu Allgemeinplätzen geworden sind. Häufig sind diese unmittelbar eingängig, auch wenn man nicht aus der entsprechenden Kultur stammt; "it's raining cats and dogs" ist so einprägsam als Übertreibung, wie im Deutschen "es regnet Wasserfälle".
Trotzdem sind viele dieser Idiome für den Fremdsprachler neu und aufregend: "a fly in the ointment" für "ein Haar in der Suppe", oder "faire une frommage de qch." für "viel Lärm um etw. machen". Was in den Sprachen selbst als rhetorische Figur verblasst ist, ist in anderen Sprachen so neu, dass es unverständlich sein kann.

Zu viel Bewegung

Die Jugendsprache zeichnet sich gerne dadurch aus, dass sie sich mit neuen Wortschöpfungen oder dysgrammatischen Konstruktionen den Anschein von Neuheit gibt. Kommt in eine Sprache zu viel Bewegung, treten zu viele Missverständnisse zwischen den Sprechern auf: es entstehen Subkulturen. Dies ist kaum zu vermeiden, da die Basis des Sprechens immer noch auf den direkten Verweis gestützt ist. Um handeln zu können, muss man notfalls eben doch selbst zugreifen. Zugreifen kann nur, wer dicht daneben lebt, der Nachbar, der Kumpel. Subkulturen bilden sich ortsnah (obwohl sich dies in den Zeiten des Internets ändert: siehe die ganzen Diskussionsforen).
Trotzdem können sowohl die Jugendsprache, die Dichtung und die Sprache der Irren so befreiend sein wie Fremdsprachen. Plötzlich erscheint die Möglichkeit, die Welt auf eine andere Art und Weise wahrzunehmen. Plötzlich bewegt sich der Alltag, eingefahrene Ordnungen geraten durcheinander und neue Ordnungen erscheinen am Horizont. Manches, was uns die verschiedenen Sprachgemeinschaften vorgelebt haben, ist in die Alltagssprache hineingewandert und dem allgemeinen Gebrauch zugänglich. So verschwinden Subkulturen dann auch wieder.

Glaubensüberzeugungen

Doch genauso hartnäckig werden bestimmte Verbindungen übersehen, bzw. bestimmte Abkürzungen, die eine Sprache genommen hat, weitergetragen. Es ist kaum auszurotten, dass Frauen emotionaler und damit empathischer seien; der Feminismus, der einst angetreten ist, um den Frauen Zugang zur Wissenschaft zu erleichtern, ist mittlerweile bei der Erkenntnis angekommen, dass Frauen mehr erkennen könnten, weil in unserer heutigen Gesellschaft vieles auf solchen emotionalen und sozialen Fähigkeiten aufbaue.
Was damit nicht verändert worden ist, ist der Glaube an ein privilegiertes Wissen. Und seltsamerweise wird damit die Naturwissenschaft, die einst für die Frauen zugänglich gemacht werden sollte, häufig unattraktiv. Diese bleiben wiederum Domänen der Männer, wenn sie auch jetzt in ganz andere Glaubensüberzeugungen eingepackt wird. Frauen sind weiterhin emotionaler, Männer verstehen weiterhin mehr von Technik; und genauso bleiben die Toiletten geschlechtsspezifisch getrennt.
Ein anderes Beispiel findet man in der Debatte der Inklusion. Behinderte Kinder müssen weiterhin besonders behandelt werden, auch wenn dies von der Annahme ausgeht, dass die einen Menschen wegen ihrer Behinderung weniger lernen können, andere Menschen dagegen lediglich Zeit und Interesse brauchen, um alles tun und lassen zu können. Ob diese Einteilung sinnvoll ist, wird zwar häufig debattiert. Im alltäglichen Gespräch bietet unsere Kultur allerdings so viele passende Wörter und semantische Oppositionen an, dass man fast automatisch wieder bei einem Diskurs der Normalität und Normalisierung landet.
Auch Inklusionsschulen legitimieren sich dadurch, dass sie bestimmte Menschen inkludieren, nämlich solche, die man vorher als Behinderte erkannt hat.

Hegemoniale Effekte

Institutionen

An Institutionen kann man wohl am besten sehen, wie sich bestimmte zentrale Funktionen und gesonderte Begrifflichkeiten in Subkulturen transformieren. Wenn die Schulbehörde durch ihre Amtsverordnungen und den Rahmenlehrplan ein Bündel von Begriffen schafft, heißt dies noch lange nicht, diese Begriffe genau so in einer Schule benutzt werden. Oftmals ist es ja so, dass auch solche Amtssprachen im Zustand der Vorbegriffe hängen bleiben. Sie schaffen sich einen künstlichen, nicht natürlich gewachsenen Alltag. Wie dieser dann individuell aufgefüllt wird, bleibt den Institutionen selbst überlassen. So findet man dann auch recht unterschiedliche Ausprägungen, wie Schulen die Inklusion zu verwirklichen gedenken.
Wichtig dabei ist allerdings, dass die Schulbehörde bestimmte Voraussetzungen schafft, die nicht weiter diskutiert werden können. In der je einzelnen Schule wird dann die konkrete Handhabung darauf abgestimmt; und auch hier bilden sich dann bestimmte Rituale und Praktiken aus, die fortwirken und nicht mehr hinterfragt werden können.

Am Rand des Schweigens

Aristoteles nannte die Abkürzungen von Argumentationen Enthymeme, etwas, was vor einigen Jahren in der Coaching-Szene unter dem Begriff „geheime Glaubensüberzeugungen“ Karriere machte. Solche Enthymeme lagern sich schweigend in eine Kultur ein und begrenzen die Möglichkeiten des Denkbaren.
Hegemonien entstehen dadurch, dass es einen mehr oder weniger personalisierten Führer gibt, der einer Gruppe, einer Gemeinschaft, gelegentlich auch einer ganzen Nation die Marschrichtung vorgibt (eine hübsche Metapher, wunderbar militaristisch). Anscheinend sind aber solche Führer dicht an dem gelagert, was sie auszuschließen gedenken, gleichsam nur durch eine Negation getrennt.

Alltagserzählungen

Alltagserzählungen bieten die Gelegenheit zu berichten, was in einer Gesellschaft funktioniert und was nicht. Sie zerstreuen durch Anekdoten den Blick auf die hegemonialen Effekte.
Zugleich aber offenbaren sie für den kritischen Geist auch wieder die Durchsicht auf diese Mauern des Schweigens. Wenn die Wiederholung, wie ich oben gesagt habe, tatsächlich die Erzählung konstituiert, dann konstituieren die spezifischen Wiederholungen innerhalb einer Kultur die spezifischen Erzählungen. Und da sich die Führung einer Kultur nicht ohne die Übernahme bestimmter Wiederholungen übernehmen lässt, führen sich hier die Führerpersönlichkeiten und die jeweilige Subkultur gegenseitig, oftmals im Unverstand.
Es lohnt sich also, den alltäglichen Textmustern zu lauschen, den Erzählungen von der kranken Mutter, den Bevorzugungen bestimmter Verhaltensweisen von Kindern als Thema zwischen Kollegen, und so weiter. So setzen sich, durch die Wiederholungen, auch die Dinge durch, über die man nicht spricht.

Die kritische Kultur

Besonders einprägsam ist dies beim Gegenbegriff zur automatisierten Wiederholung zu sehen, der Kritik. Schließlich ist die Kritische Schule so unkritisch geworden, dass sie die Kritik der kantschen Kritik an sich selbst wiederholt fand. Jede kritische Schule findet ihre blinden Flecken in den Methoden, die sie wiederholt und die sie verbreitet. Und jede Institutionalisierung der Kritik fördert solche Wiederholungen. Dies konnte man in den letzten 15 Jahren einprägsam bei der Kritischen Kriminologie als auch bei dem kritischen Potenzial des Feminismus sehen. In der Kritischen Kriminologie zitiert man oftmals nur noch sich selbst. Ähnlich, wie in der Coaching-Szene bestimmte Überzeugungen, oftmals auch Fehler, so weitergetragen werden, werden die Mythen der Kriminalisierung ohne Umschweife übernommen (ganz so wild allerdings ist es nicht: tatsächlich finden sich immer noch hervorragende Menschen, die die Struktur der eigenen Theorie reflektieren und ihre Begrenzungen verstehen).

Narrative Intelligenz

Ob es sich bei der narrativen Intelligenz um eine Intelligenz handelt, ist allerdings fraglich. Basiert die Narration tatsächlich auf der Fähigkeit, etwas zu wiederholen und vor allem automatisiert zu wiederholen, und ist Intelligenz vor allem daran zu messen, wie schnell etwas verstanden werden kann, dann ist die narrative Intelligenz die Fähigkeit, sich besonders rasch in eine Gemeinschaft zu integrieren, also auch in eine Gemeinschaft, die ihre blinden Flecken erzeugen muss, die ihre hegemonialen Effekte hat.
Dann aber handelt es sich bei der narrativen Intelligenz tatsächlich um die Fähigkeit, sich durch Wiederholungen zugleich auf die blinden Flecken einzulassen, mithin also eigentlich nicht um das, was wir als Intelligenz verstehen.

Kulturen in Bewegung

Auf dieser Aporie muss man sich dann wohl einlassen: handelt es sich bei der Fähigkeit zur Narration tatsächlich um eine Art Intelligenz, dann ist diese zugleich mit und gegen Kultur gerichtet, als ein stetiges Neu-aushandeln von dem, was verändert wird und was bleibt, wobei andere Kulturen gerade dadurch interessant werden, weil sie auf die Blindheit der eigenen Kultur hinweisen können. Kulturelle Kompetenz ist zugleich interkulturelle Kompetenz.
Kultur sei Mischung, so habe ich es einst in einem Interview gelesen. Mischung, fragte der Interviewende, wovon? Die Antwort war: Von Kultur. (Allerdings muss man hier auf die doppelte Bedeutung des Begriffes der Kultur hinweisen: auf der einen Seite betrifft die Kultur einen Sprachraum, auf der anderen Seite den einer Gemeinschaft. In der Gemeinschaft wird die Kultur im deutschen Sprachraum gerne auch als Subkultur bezeichnet. Und tatsächlich macht dies Sinn, denn in dem zitierten Interview scheint nichts anderes behauptet zu werden, als dass sich Subkulturen beständig mischen und neue Subkulturen bilden.)

12.05.2015

Formen der Aneignung: Band, Pendel, Kreis

In der Auseinandersetzung mit der Lernpsychologie bin ich (wieder einmal) am Systematisieren. Meine Vorliebe für Autoren wie Gaston Bachelard, Roland Barthes oder Hans Blumenberg dagegen führt mich immer wieder zu vergleichbaren Gegenständen, oder wie hier, zu analogen Formen der Mechanik. Auf dem Rückweg von der Arbeit hat mich nämlich folgendes Bild bedrängt. Es bildet zugleich den Ausgangspunkt für den Vergleich von drei sehr ähnlichen Lerntheorien.

Das Pendel im Sand

Mein Onkel besitzt eine Art Meditationsspiel. Dieses besteht aus einer flachen Schüssel aus Sand, über die ein metallener Bogen gespannt ist. Im Zenit dieses Bogens befindet sich eine Schlaufe, in der ein Pendel hängt. Am unteren Teil des Pendels zieht ein Gewicht, welches nach oben hin kugelförmig, nach unten hin einen Zylinder bildet, und dessen Spitze in den Sand hineinragt. Durch Bewegung des Pendels zeichnet dieses dann regelmäßige Kreise, die zunehmend enger werden und dadurch eine kreisförmige oder elliptische Spirale hinterlassen.

Piaget: das Band der Assoziation

Betrachtet man die primitive Auffassung, die in vielen Lernpsychologien von der Theorie Piagets gelehrt wird, dann ist die Verknüpfung zwischen dem Ankerpunkt und dem Pendel der Assoziation gleichzusetzen, die das Gehirn zwischen zwei verschiedenen Reizen zieht. Die Reize werden durch Wiederholung verknüpft und die Verknüpfung gefestigt.

Leroi-Gourhan: das Pendel der Tätigkeit

Vorausgeschickt werden muss, dass die folgenden Passagen sich keineswegs nur auf den französischen Paläontologen Leroi-Gourhan beziehen. Seit ich diesen Mitte der neunziger Jahre kennengelernt habe, habe ich viele weitere Passagen entdeckt, in denen das Lernen als Pendel dargestellt wird. Insofern beansprucht dieser Autor nur eine subjektive Wichtigkeit.
Statt der Assoziation stellt Leroi-Gourhan die Tätigkeit in den Mittelpunkt, die zwischen einem menschlichen Bedürfnis und der kulturellen Umgebung hin- und herläuft. Dabei werden die durchlaufenden Tätigkeiten gefiltert, verkürzt und möglicherweise symbolisiert. Unschwer erkennt man hier die Bewegung der Pendelspitze im Sand in einer immer engeren, aber gleichförmigen Bewegung. Übrig bleibt allerdings der Rhythmus nicht zwischen Handeln und Denken, sondern der zwischen Verinnerlichung (Interiorisation) und Veräußerlichung (Exteriorisation), zwischen sich selbst und die Umwelt verändern.
Unschwer lässt sich auch erkennen, dass diese Art der Betrachtung die Wiederholung, die bei Piaget zu der Verknüpfung zwischen zwei Reizen führt, weiter auflöst und dabei das „kognitive Potenzial“ aus der Innerlichkeit des Menschen herausholt und es gleichsam dicht unter der Oberfläche lokalisiert.

Schopenhauer: der ethologische Kreis

Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt, diesen Austauschprozess als Kreis zu denken. Der Kreis oder Kreislauf, der die Grenze eines Systems überschreitet, um von dort aus wieder zurückzukehren, ist natürlich ein Ideal. Entfaltet man diesen Kreis zeitlich, entsteht eine Sinuskurve, die nichts anderes als ein Rhythmus ist, auf dem sich bestimmte Punkte wiederholen. So schematisiert umfasst der Kreis die beiden anderen Modelle.
Er bildet auf der einen Seite den grenzüberschreitenden Austausch ab, auf der anderen Seite erklärt er, warum bestimmte Phänomene des Lernens dem biologischen Gedächtnis zuzuschlagen sind, andere dem kulturellen Gedächtnis, und warum diese beiden ineinandergreifen, ohne sich ähnlich sein zu müssen.

Das ist der Daumen

Nehmen wir zur Illustration das viel zitierte Beispiel vom daumenlutschenden Säugling.
Nach Piaget werden die taktilen Empfindungen des Daumens im Mund mit dem Wohlgefühl assoziiert. Folgt man dagegen Leroi-Gourhan, etabliert sich hier vor allem ein Rhythmus auf der Grundlage dieser Assoziation, die nach und nach zu einer Reinigung und/oder Ergänzung dieses rhythmischen Austausches führt. Schließlich wird daraus ein Kreislauf, der über die Haut und die Sinnesorgane hinweg einen Austausch und zugleich eine Ausformung und gegenseitige Ergänzung von biologischem und kulturellem Gedächtnis ermöglicht. Der Daumen ist insofern ein Stück „kulturellen“ Gedächtnisses, als er der psychischen Verarbeitung äußerlich ist, auch wenn er evolutionär dem menschlichen Gehirn vorausgeht. Zugleich zeigt dieses Beispiel, dass der Daumen als äußeres Gedächtnis und das Wohlgefühl als inneres keine Ähnlichkeit miteinander haben, sich aber trotzdem ergänzen.

Einführung in die Metakognition

Immer wieder bastele ich an dem Begriff der Metakognition herum. Diese scheint die Funktionen des äußeren Gedächtnisses übernehmen zu wollen. Damit einher geht aber auch die Doppeldeutigkeit: auf der einen Seite schafft die Metakognition eine Unabhängigkeit, die zugleich Kontrolle bedeuten kann; auf der anderen Seite aber besteht die Gefahr darin, dass durch sie korrigierende Prozesse des Austausches mit der Umwelt verloren gehen und das System gleichsam ohne äußere Störung in sich leer läuft (schon Kant schrieb, dass das Tagebuchschreiben Grillenfängerei sei und ins Irrenhaus führe).
Insofern ist der Begriff der Metakognition durchaus widersprüchlich. Nimmt man zum Beispiel die ganzen Techniken der Dokumentation und der individuellen Erinnerungshilfen (wie zum Beispiel die Kalender, die fast jeder Mensch mittlerweile auf seinem Computer oder iPhone besitzt), dann ersetzen diese natürlich nicht die kulturelle Umwelt: Gerade diese nutzen sie ja. Doch unter dem Siegel der Privatheit oder des Datenschutzes werden hier kulturelle Prozesse unterbrochen. Das soziale Gedächtnis beruht zwar immer noch auf Artefakten und Symbolen, ist aber zugleich privat geworden, da es nur noch einem einzigen Menschen zugänglich ist.
Wenn die Metakognition allerdings zunächst Unabhängigkeit von bestimmten Kreisläufen zwischen Mensch und Umwelt bedeutet, dann ist die Möglichkeit, diese Unabhängigkeit von Anfang an zu erlangen, zugleich ein qualitativer Einschnitt in die Metakognition, die diese möglicherweise in etwas ganz anderes verwandelt (auch wenn ich nicht weiß, was).

03.05.2015

Keine Zeit zum Schreiben

Der letzte Monat hat mich in Atem gehalten. Dabei bin ich kaum zu irgendwelchen Sachen gekommen, die nicht mit Schule zu tun haben.

Stationenarbeit

Nun habe ich in den Osterferien meinen Kreisraum aufgeräumt und es sogar geschafft, eine Seite von seinen Regalen freizuräumen, so dass mein Kreisraum wesentlich geräumiger ist. Sinn und Zweck war auch, diesen für eine differenziertere Stationenarbeit zu nutzen. Das werde ich hoffentlich demnächst auch mal verwirklichen können. Derzeit bin ich mit meiner Differenzierung noch unzufrieden.

Ein Laptop

Nachdem mein Tablet seinen Leistungen doch etwas mager ist, vor allem kann ich nicht auf die Microsoft-Dateien auf meiner Cloud zurückgreifen, habe ich mir jetzt, nach vielen Jahren mal wieder, ein Laptop gekauft. So werde ich hoffentlich rascher auf mein Unterrichtsmaterial zurückgreifen und gelegentlich auch mal im Zug arbeiten können.

Vorrat an grundlegenden Bildern

Ich habe in den letzten zwei Monaten, sofern ich Zeit hatte, nach grundlegenden Bildern im Internet gesucht, nachdem ich damit vor Jahren in meiner alten Klasse zahlreiches Unterrichtsmaterial damit gestaltet habe. Diese Aufgabe ist mittlerweile fast erledigt. Und diesmal habe ich sie, durch meine gewachsene Erfahrung mit Bildbearbeitungsprogrammen, auch so gründlich behandelt, dass die Bilder in zahlreichen Größen verwendet werden können.
Besonders für die Übungen zur Kommasetzung werde ich sie gebrauchen können. Als Stützmaterial sind sie auf jeden Fall sinnvoll. Und auch für die Behandlung von LRS hatte ich sie damals umfangreich einsetzen können.

Lesen

Aber ich darf mich nicht beschweren. Ich konnte auch eine ganze Menge lesen. So habe ich unter anderem Tropen (Rilke) von Paul de Man aus seinem Buch Allegorien des Lesens gelesen, von Jürgen Oelkers Verstehen als Bildungsziel aus dem von Luhmann und Schorr herausgegebenen Sammelband Zwischen Intransparenz und Verstehen, dazu habe ich es immerhin geschafft, das erste Teilkapitel aus dem ersten Kapitel des Buches Kulturen der Empathie durchzukommentieren. Ich bin dort immerhin auf Seite 22. Tatsächlich ist das gar nicht so wenig. Zu den von mir zitierten Passagen kommt in etwa noch die doppelte Menge an weiterführenden Gedanken.
Zudem habe ich nebenher weitere Dateien angelegt, da diese in meiner Kommentierung des Buches keinen Platz mehr gefunden haben, so einiges zu Wittgenstein und Hannah Arendt, Walter Benjamin und Leon Wurmser, Antonio Gramsci und Alfred Lorenzer.
Bedenkt man, dass mich das Thema der Nachahmung/Mimesis schon einmal ausführlich beschäftigt hat, ist meine derzeitige Arbeit sogar ziemlich mager. Schaut man sich allerdings an, was sich sonst noch so gemacht habe in den letzten Wochen, bin ich sogar recht fleißig gewesen.

Netbeans

Ich habe es sogar geschafft, letzte Woche zwei Stunden Java zu programmieren. Nachdem ich eine dreijährige Pause gemacht habe, dachte ich, es sei vieles verschwunden. Tatsächlich war alles aber sofort wieder da: mittlerweile habe ich einige einfache Programme geschrieben, mit denen ich bestimmte Algorithmen ausprobieren kann.