22.01.2018

Wissen; und eine Nullübersetzung

Der Anspruch an den eigenen Fleiß und der Anspruch, dadurch zu einem halbwegs endgültigen Ergebnis zu kommen, klafft gelegentlich weit auseinander. Es war wohl Schicksal, dass die Fluten der Publikationen mir zunächst das letzte Buch von Sybille Krämer (Figuration, Anschauung, Erkenntnis) in den Bücherschrank gespült haben; und nicht mehr ganz so Schicksal war es, dass ich daraufhin Goodman und Quine herausgesucht habe. Zu Ende gelesen habe ich noch nichts, nicht jedenfalls in dem Sinne, dass mich diese Bücher nun kalt lassen und dermaßen erkaltet in meinem Bücherschrank herumstehen.

Wie man nicht zu Ende kommt

Im Moment achte ich sehr darauf, Modelle und semantische Gefüge auf andere Bereiche zu übertragen. Ich lese Texte also so gründlich, dass ich daraus ein oder mehrere Modelle gewinne, manchmal auch nur eine Liste von semantischen Oppositionen (zum Beispiel Repräsentation/Ähnlichkeit) oder semantischen Gruppierungen (zum Beispiel sprachliche Repräsentation – Regeln (Lexikon und Grammatik) – Sprachkompetenz).
Ob sich nun ein solches Modell auf einen bestimmten Weltausschnitt anwenden lässt, kann man im vornherein nur abschätzen. Es gibt natürlich ein gewisses sinnvolles Gefühl, was funktionieren könnte und was nicht. Aber vollständig verlassen sollte man sich darauf nicht. Kultur bedeutet Reduktion und allzu oft unbegründete Reduktion. Wer sich darauf nicht einlassen möchte, sollte auch gelegentlich an unwahrscheinlichen Fällen arbeiten. Bei Texten ist dies besonders praktisch, da sich niemand darüber aufregt, wenn man es tut. Notfalls landen sie eben unveröffentlicht und unberichtet im Papierkorb. Oder, wie bei mir, in irgend einer Datei.
Weltausschnitte gibt es nun viele. Modelle habe ich bereits auch einige angesammelt. Und so haben sich diese Woche einmal satzübergreifende Relationen, geometrische Aspekte (insbesondere aber entwicklungspsychologische Bedingungen dazu) und – endlich mal wieder – Diagramme der Objektmodellierung über meinen Schreibtisch „bewegt“, daneben aber alle möglichen anderen Sachen, von politischen Betrachtungen, einigen Cartoons, mit denen ich immer wieder mal arbeite, Häkeln (jawohl, auch das kann man mit Mitteln der Semiologie und des Pragmatismus betrachten), und so weiter.
Dass dabei gelegentlich ein erster Kommentar durch viele weitere ergänzt wird; dass ich mir dabei auch mal ein assoziatives Weitergleiten erlaube: ihr könnt es euch wohl vorstellen.

Fruchtbare semantische Oppositionen

Man trifft in unserer Kultur auf zahlreiche semantische Oppositionen, die mal sinnlicher Art sind und die ich dann Kontrast nenne, zum Beispiel hell/dunkel, schwarz/weiß; andere wiederum binden sich an Tätigkeiten (aufsteigen/absinken), weitere an Ideen (Höflichkeit/Ehrlichkeit) und einige an einen Mischmasch ohne festen Kern (Mann/Frau ist dafür ein recht gewichtiges Beispiel; oder – weil es sich auf den ersten und zweiten und dritten Blick nicht klar voneinander scheiden lässt – Einheimischer/Bürger).
Catherine Elgin untersucht in Im Blick: Neuheit (Goodman/Elgin: Revisionen) die Repräsentation in sprachlichen und in pikturalen Werken. Dabei stellt sie fest, dass die oberflächliche Trennung eher eine gewohnheitsmäßige als eine begründete und schon gar nicht eine interessante ist. Tatsächlich verschiebt sie eine vorrangig als Kontrast empfundene semantische Opposition in Richtung einer gemischten und damit durchaus unklaren.

Wissen

Der Weg, den Elgin nimmt, ist trickreich. Und bevor man ihn nun als reinen Trick und damit als eine Art Beschäftigungstherapie ansieht, sollte man sich auf ihn lange und gründlich einlassen.
Denn zunächst geht Elgin davon aus, dass die Wahrnehmung eine konstruktive ist und dass in dieser ein zwar unbewusstes, aber selbstverständlich genutztes Wissen existiert, wie man Repräsentationen und Ähnlichkeiten „herstellt“.
Elgin fragt sich also nicht, was eine Repräsentation oder eine Ähnlichkeit ist. Sie fragt allerdings auch nicht, warum ein Mensch etwas als Repräsentation oder als Ähnlichkeit auffasst. Und sie will auch nichts von den psychologischen Bedingungen wissen. Stattdessen erstellt sie einige Regeln, wie Repräsentationen und Ähnlichkeiten erzeugt werden können. Ihr Vorgehen ist damit „pragmatisch“, und zwar pragmatisch in dem Sinne, wie dies vom Pragmatismus (einer zunächst amerikanischen philosophischen Schule) verstanden wird.
In gewisser Weise läuft dies dann darauf hinaus, einen Arbeitsablauf oder ein Rezept zu entwickeln, wie man eine Sache in eine andere verwandeln kann. Das ist nun etwas schlicht gesagt, wird auch den hohen argumentativen Standards und den feinsinnigen Unterscheidungen der Autorin nicht gerecht, bietet aber eine ganz gute erste Orientierung. (Und ehrlich gesagt: sowohl Goodman wie Elgin schreiben so dicht, dass man gelegentlich an einem einzelnen Absatz, an einer halben Seite ein, zwei, drei Stunden verbringen kann; wenn man denn genügend Arbeitsmaterial hat, in das man das Gelesene hineintragen kann.)
Tatsächlich ist der Aufwand in gewisser Weise enorm: zunächst schaut man nach stillgestellten Bewegungen in einem Modell, einem Diagramm oder einem Text. Stillgestellt soll auf der einen Seite heißen, dass es so etwas wie Transformationen in einem Modell gibt, die zwar vom Modell nicht ausgeführt werden, zu denen es aber – explizit oder implizit – auffordert. Und wenn ich hier implizit sage, verbirgt sich darin die zweite Schwierigkeit: oftmals sind diese stillgestellten Bewegungen nicht ersichtlich und müssen ausprobiert werden.
Wenn man sich zum Beispiel ein Klassendiagramm für ein Java-Programm erstellt, muss man ein Stück Wirklichkeit nach bestimmten Regeln in ein solches Diagramm überführen und danach dieses Diagramm in ein Programm umsetzen. Dabei sind aber die einzelnen Arbeitsschritte und die Bedingungen, unter denen dies geschieht, keineswegs aufgelistet. Man muss sie immer wieder ausprobieren und auch immer wieder darüber nachdenken, ob man mit den geeigneten Methoden arbeitet. Gerade bei der Objektmodellierung wird so schnell die Erfahrung zu einem wichtigen Bestandteil des Programmierens. Sie wird so wichtig, dass die einzelnen Diagramme lediglich formale Dokumentationen bieten.
Beim Programmieren zeigt eine semiotische Betrachtung zum Teil recht deutlich geradezu hinterlistige Phänomene.
Es ist zwar richtig, dass sich sprachliche Systeme durch Repräsentationswissen gut ausdrücken lassen, während pikturale Systeme durch ein Ähnlichkeitswissen entstehen. Aber in komplexeren pikturalen Systemen gibt es notwendig auch ein Repräsentationswissen (und das schon bei Piktogrammen, die einen durch eine Behörde schleusen), während sprachliche Systeme immer auch pikturale Systeme sind: nur sind die pikturalen Systeme innerhalb der Sprache durch ihre unendliche Reproduzierbarkeit von ihrer Originalität komplett befreit. Dies wird bei Buchstaben besonders deutlich: ihnen ist wesentlich, wiederholbar zu sein. Ursprünglichkeit oder gar Gefälligkeit sind dagegen wenig oder überhaupt nicht wichtig. Dagegen gewinnen Buchstaben, sobald sie in ein anderes System eingebunden sind, gelegentlich eine geradezu mystische Bedeutung. Man sehe sich nur das kunstvolle (und möglicherweise gekünstelte) Spiel von Binnen- und Endreimen im Spätwerk von Rilke an.
Beim Programmieren treten hier gelegentlich seltsame Schleifen auf. Man kann sich relativ sicher sein, dass eine Augenfarbe durch eine entsprechende Farbkarte vertreten werden kann: die Farbe auf der Farbkarte und die Augenfarbe müssen hinreichend ähnlich sein. Wird diese Farbe dagegen vom Computer quantifiziert, dann geschieht dies in eine der üblichen Farbkodierungen und in Form von Zahlen. Dass diese Zahlen in Computern natürlich auch irgendwie nicht existieren, sondern letzten Endes nur noch auf elektronischen Zuständen aus Nullen und Einsen bestehen, macht die Sache nicht leichter. Die Zahlenkombination repräsentiert eine Farbe, ist ihr aber nicht ähnlich.
Und trotzdem kann ich aus dieser Repräsentation nun auf dem Bildschirm eine Farbe darstellen, die wiederum eine hinreichende Ähnlichkeit mit der tatsächlichen Augenfarbe besitzt. Das mag im ersten Moment dann tatsächlich verwundern, da man zum Beispiel eine Repräsentation eines Hundes durch das Wort Hund drehen und wenden kann, wie man will: man wird aus dem Wort keinen echten Hund herausgequetscht bekommen. Und im Computer selbst müsste eine eindeutige Zuordnung zum Beispiel zwischen Wort und Bild bestehen. Dass dies bei Farben anders ist, liegt dann daran, dass sich die Analyse der Farbe und ihre Quantifizierung in einer Struktur niederschlägt, von der man sagen kann, dass sie außerhalb des Computers und innerhalb (zumindest des Monitors) so ähnlich ist, dass daraus eine Art „Nullübersetzung“ entsteht.

Es wäre Nacht

Zunächst sind all diese kleinen Untersuchungen wohl nichts anderes als Gedankenspielereien. Auf die eine oder andere Weise beschäftige ich mich aber intensiv mit dem Stoff, sei es mit der Möglichkeit, die komplexe Tätigkeit des Programmierens in einfachere und damit vermittelbare Sequenzen herunterzubrechen, sei es mit der günstigen Aufteilung eines Arbeitsblattes (obwohl ich dies schon tausend Mal in meinem Leben überdacht habe), sei es mit den Anforderungen, die in einer Faltarbeit oder einer geometrischen Zeichnung verborgen sind.
Erbsenzählerei, so hatte ich das gelegentlich genannt, und so wird es wahrscheinlich auch manchen Menschen vorkommen. Es bedeutet, anhand eines Modells systematisch ein Stück Wirklichkeit abzuklopfen. Es bedeutet, den ersten Eindruck durch eine Analyse aufzubrechen, auch wenn diese Analyse, da sie sich immer auf ein begrenztes Modell stützt, nur eine begrenzte Reichweite liefern kann.
Gelegentlich entdeckt man dadurch ein Stück neues Wissen, gelegentlich entdeckt man an sich etwas mehr Empathie und guter Einschätzung von dem, was vor einem liegt. Das sind vielleicht Marginalien. Aber geduldiges Zusammentragen, winzige Schritte, der Besuch tausender, oftmals unscheinbarer Blüten, all das wird dann vielleicht doch zu dem einen Tröpfchen Honig führen, den man als Bienchen unter vielen anderen Bienchen dazu tun kann.
Nun ist es Nacht. Ich habe vier Arbeitsblätter entworfen, dazu zwei Mathespiele (zum Rechnen mit Geld; wer will, darf sie anfordern), zwei Blätter für den Sachkundeunterricht. Aus dem Buch Im Krebsgang voran (Umberto Eco) drei Glossen, besagten Artikel von Elgin um zahlreiche Kommentare erweitert, zwei Dokumentationen für die Schule, mehrere Gedanken zu Schülern und Schülerinnen, eine Zusendung eines Kollegen zum Informatikunterricht begutachtet, aber, wie ich befürchte, noch lange nicht zu Ende gedacht. Im Zimmer etwas umgeräumt, den Rucksack gepackt. Ich kann, eigentlich, zufrieden sein.

14.01.2018

Signalgeber

Eigentlich genieße ich meinen Sonntag. Aber dann lese ich doch Nachrichten.

Sabbern statt lesen

Die rechte Szene, oder, wie sie sich gerne nennt, die Konservativen, verleugnet mittlerweile flächendeckend jede Eigenleistung beim Lesen. Sobald irgendwo das Wort ›Ausländer‹, oder eventuell sogar ›Afghane‹, sobald der Name ›Merkel‹ fällt, spult sich das Geplärre automatisch ab. Und wenn dann erst auf einem Foto eine Frau mit einem Kopftuch auffällt … Wie war noch mal das Äquivalent beim pawlowschen Hund? Sabbern? – Eben.
Rhetorisch gesehen handelt es sich hier um eine Extrapolation, eine ungebührliche Hervorhebung eines einzelnen Merkmales. Und man höre dies: ungebührliche Hervorhebung. Die Merkmal wird damit noch kein Recht auf Wahrheit abgesprochen, wohl aber der Konstellation. Aber solche Feinheiten scheren die neuen Nazis genauso wenig wie die alten.

Obergrenzen und drittes Geschlecht

Die hypothetische GroKo hat eine Obergrenze für Zuwanderung erlassen. 880.000 in den nächsten vier Jahren. Sieht man sich dabei mit an, dass es ein Zuwanderungsgesetz geben soll, welches vor allem auch auf Fachkräfte abzielt, dann dürfte für „Wirtschaftsflüchtlinge“ bei einer solchen Zuwanderung wenig Platz sein. Was machen die Nazis (und ich bedaure hier gelegentlich, dass ich auf Facebook immer noch die Beiträge und Kommentare von Michael Vogel lese)? Sie schreien natürlich. Dass diese Konstellation kaum noch etwas mit den Menschenrechten zu tun hat, fällt ihnen dagegen nicht auf.
Auf Pässen und in Behördenanträgen soll ein drittes Geschlecht eingeführt werden. Mich ärgert das, weil es genau die Schärfe aus der gender-Theorie herausnimmt, die diese so fruchtbar macht. Und es ist auch mal wieder typisch deutsch: aus einer Idee wird ein Verwaltungsakt gemacht. Letztlich aber kann man es drehen und wenden wie man will: auch hier sind die Zeter und Mordio schreienden Rechten nicht mehr in der Lage, zwischen einer sinnvollen Theorie und unsinnigen Dogmen zu unterscheiden.

Biologisiererei als Radikal-Genderismus

Rein logisch gesehen muss man den Unterschied zwischen beliebig (also wahllos) und kontingent (also so, aber auch anders möglich) beachten. Das soziale Geschlecht ist nicht beliebig, vor allem aber ist es auch nicht einem Akt der Selbstwahl in einer Art und Weise zugänglich, dass man von einem freien Willen bei der Geschlechterwahl sprechen könnte. Ein großer Teil des sozialen Geschlechtes entsteht in den vorherrschenden Bildern der umgebenden Kultur. Diese sind strukturell verwurzelt. Und es ist gerade der Zynismus dieser Biologisierer, dass sie sich in ihrer Biologisiererei auf die kulturelle Konstruktion der Geschlechter verlassen können. Denn das Weibchen am Herd ist nichts anderes als ein irrationales Trugbild. Dass es sich gelegentlich materialisiert, besagt noch nichts über seine Notwendigkeit. Es scheint gerade so, dass die soziale Konstruktion des Geschlechtes umso stärker und repressiver ausfällt, je mehr man sich auf die Biologie stützt. (Aber natürlich sage ich Biologisiererei, weil diese sich nur auf sehr ausgesuchte und willkürlich interpretierte Fakten der Biologie stützt.)
Das ganze Elend der Rechten, aber auch zum Teil der „Linken“ (oder das, was die Rechten als Linke bezeichnen – und da gibt es ja durchaus Unterschiede, deutliche Unterschiede!), ist die Behauptung einer Klarheit, wo die Wissenschaft noch immer am Problematisieren und Forschen ist. So ist auch der Zusammenhang zwischen Kultur und Gewalt ein notwendiger. Das liegt alleine schon daran, dass jede Kultur im Unbegründeten endet. Die Frage ist doch eher, wie man das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen gestaltet. Das Gewaltmonopol des Staates ist eine gute Lösung. Sie ist natürlich nicht perfekt.

Horden

Und in Bezug auf die Kulturen sollte man seinen Blick dahingehend schärfen, was als Kultur zu gelten hat. So ist es geradezu unmöglich, von einer deutschen Kultur zu sprechen, ja auch nur von einer Berliner Kultur. Kultur ist immer, so scheint es, die Angelegenheit kleinerer Gruppen. Wie man es dreht und wendet: Staaten sind immer „multikulturell“; und damit erübrigt sich schon fast die Diskussion, ob eine bestimmte Kultur dazu gehört oder nicht.
So. Nun kehre ich wieder in meine eigene, kleine, private Kultur zurück.

07.01.2018

Er ist wieder da

Matussek ist wieder da. Und weiterhin macht es keinen Spaß, ihn zu lesen. Er schreibt:
Leider sind auch die Kirchen massiv vom Mahlstrom der Lüge erfasst worden. Sie verlangen christliche Fernstenliebe und vergessen die Nächstenliebe, vor allem aber jene Weisheit des Thomas von Aquin, der sagte: „Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit ist grausam; aber Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit führt zur Auflösung.“
(Die Lüge hat einen guten Lauf)
Der Mahlstrom der Lüge, das ist wohl Matussek selbst: denn weiterhin gilt im Christentum das Gebot der Nächstenliebe. Von der Fernstenliebe hat nur Nietzsche gesprochen, und dies in einem komplett anderen Zusammenhang. Und so hat auch die darauf folgende Argumentation wenig mit der These zu tun, mit der dieser Absatz eröffnet wurde.
Auch insgesamt liefert Matussek in diesem Artikel viel Suggestion, aber keinerlei Analyse. Dies ist auch deshalb ein Problem, weil durch Undifferenziertheit eine ganz andere Art von Lüge entsteht: dass die Willkommenskultur eine undifferenzierte Selbstbeschreibung lieferte, ist das eine Problem; aber dies durch Entdifferenzierung zu unterbieten, macht die Sache nur noch schlimmer. Tatsächlich ist die Willkommenskultur ähnlich wie die gender-Ideologie eher eine Erfindung der neuen Rechten, die sich hier ein Feindbild zusammengeschustert haben, gegen das vorzugehen so einfach wie feige ist. Denn was nicht existiert, kann nicht bedrohlich sein und kann sich auch nicht wehren.
So ist ein wesentlicher Zug der neuen Rechten nicht ihr Konservatismus, sondern genau diese Feigheit, die sie in politischen Mut umzulügen versuchen.

Altersnachweise

Dass bei dem ganzen Streit um Flüchtlinge und Asyl die Rechtsstaatlichkeit und ihre Prinzipien gerne vergessen werden, ist ja nun nichts überraschendes mehr. Und so wundert es auch nicht, dass Andrea Nahles in ihrem jüngsten Vorstoß zum Altersnachweis eine völlig absurde Forderung stellt. Die FAZ schreibt und zitiert Nahles folgenderart:
Konkret sprach sich die Sozialdemokratin [also Nahles] für das sogenannte Hamburger Modell aus. Dort werde das Alter der Flüchtlinge von den Behörden geschätzt. Ist ein Betroffener mit dieser Schätzung nicht einverstanden, könne er selbst den Gegenbeweis antreten. „Die Beweispflicht liegt dann also bei den Flüchtlingen, nicht beim Staat“, so Nahles.
Natürlich ist verständlich, dass ein Mensch nicht sein Leben lang jugendlich sein kann. Und natürlich müssen hier Regelungen getroffen werden. Die Beweispflicht ist allerdings etwas anderes als die Mitwirkungspflicht. Richtig ist, dass ein Mensch, der Leistungen vom Staat empfängt, zur Mitwirkung verpflichtet ist. Falsch ist aber, dass er einen solchen Beweis (oder in diesem Fall Gegenbeweis) alleine antreten muss.
Ein Problem dürfte dabei nicht nur sein, dass manche Menschen ihre Papiere wegwerfen (aus welchen Gründen auch immer; es gibt hier sehr viel mehr Gründe, als die AfD so gerne unterstellt: nämlich sich damit vor der Rückkehr drücken zu können); ein Problem dürfte auch sein, dass in manchen Ländern, vorzugsweise in (ehemaligen) Kriegsgebieten, die Dokumentation des Alters, bzw. der Geburt nicht geregelt ist. Dafür können und dürfen Flüchtlinge nicht verantwortlich gemacht werden.
Die Beweispflicht den Flüchtlingen zuzuschieben hebelt ein grundlegendes Prinzip unseres Rechtsstaates aus. Es geht ja auch niemand hin und verweigert Beatrix von Storch den Zugang zum Bundestag, bis sie eindeutig nachgewiesen habe, dass ihre Gesinnung demokratiekonform sei. Selbst wenn sie wegen Volksverhetzung rechtmäßig verurteilt würde, kann sie nicht so einfach aus ihren politischen Ämtern entfernt werden. Dass dies nicht möglich ist, ist ein Zeichen dafür, dass Demokratie und Meinungsfreiheit ein hohes Gut in unserer Gesellschaft sind.

05.01.2018

Meinungsfreiheit bewahren

Dr. Christina Baum (AfD) schreibt:
„Der Paragraph 130 StGB ist nichts weiter als ein ›Maulkorb-Paragraph‹, mit dem Andersdenkende mundtot gemacht werden sollen, und als solcher einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft wie der unseren absolut unwürdig … Er mag in der Nachkriegszeit seine Berechtigung gehabt haben, da ein Teil der Menschen noch in der alten Ideologie verfangen waren. Doch nach 70 Jahren und ausreichende Aufarbeitung der Geschichte ist dieser Paragraf mehr als überflüssig. Er wird heute als Machtinstrument der Regierungsparteien missbraucht.“
Diese Ansicht ist alleine schon deshalb unsinnig, um nicht zu sagen abgrundtief dämlich, weil Frau Baum damit suggeriert, Vergangenheitsaufarbeitung läge, einmal geschehen, wie ein unantastbares Ding in der Gegend herum. Wer eine solche Meinung von Geschichte hat, kann aus ihr natürlich auch nichts lernen.
Abgesehen davon ist ziemlich klar, dass die Abschaffung dieses Paragraphen vor allem einer Partei nützen soll: der AfD; und damit ihren rassistischen, sexistischen und staatszersetzenden Gruppierungen zu mehr Beweglichkeit und Selbstverständlichkeit verhelfen soll.
Heiko Maas (den ich nicht besonders mag, auch nicht sein Netz-Durchsetzungsgesetz) schreibt sehr richtig:
„Mordaufrufe, Bedrohungen und Beleidigungen, Volksverhetzung oder die Auschwitz-Lüge sind kein Ausdruck der Meinungsfreiheit, sondern sie sind Angriffe auf die Meinungsfreiheit von anderen.“
Deshalb fordert Christina Baum auch nicht mehr Meinungsfreiheit, sondern weniger.
Mittlerweile empfinde ich die AfD nicht nur als äußerst lästig und entwürdigend für die deutsche Kultur, sondern als brandgefährlich für den deutschen Staat und seinen Fortbestand. Und nein: wenn dieser deutsche Staat untergeht, wird kein besserer entstehen, sondern er wird verschwinden und die deutsche Kultur nur noch als historisches, irgendwann nur noch als archäologisches Phänomen interessant sein.

03.01.2018

Politisierte Fehllektüre

Eigentlich ist es ein ganz trauriges, geradezu ein dekadentes Zeichen, dass eine so alberne und unsinnige Fehllektüre ein Politikum darstellt. Dass Beatrix von Storch sich aus den zahlreichen, in anderen Sprachen geschriebenen Neujahrswünschen gerade die arabische heraussucht; dass sie dann davon faselt, dass die Polizei die Amtssprache bereits aufgeben würde, – all das sollte eigentlich keines müden Lächelns wert sein. Und doch ist es nun viel mehr als das.
Aber Empörung ist eben noch keine Politik. Und wer durch Empörung den öffentlichen Raum besetzt, möchte vielleicht auch von den dringlichen Problemen der Politik ablenken. Zumindest aber eine Sache kann man hier fest behaupten: schlechte Rhetorik, üble Logik, das ist kein Zeichen von Patriotismus sondern von Ideologie und Idiotie. Dass die von Storch, die Weidel, all die anderen AfDler-Politiker sich wieder einmal so aufblähen, ist dekadent. Es ist ein Zeichen des Niedergangs und Verfalls und nichts anderes.
Wer patriotisch ist, wird solchen Auswüchsen entgegentreten müssen. Wer vor Werten wie Wissenschaftlichkeit und Sachlichkeit, Nächstenliebe und gemeinschaftlicher Verantwortung noch Respekt hat, wer also konservativ denkt, wird solchen Auswüchsen entgegentreten müssen. Wer Deutschland modernisieren und erhalten möchte, wird solchen Auswüchsen entgegentreten müssen. Wer eine echte, gestaltende Politik statt einer schreckhaft-aktionistischen Hysterie möchte, wird solchen Auswüchsen entgegentreten müssen.
Treten wir der AfD entgegen. Ganz entschieden.

02.01.2018

Intelligenz ist die beste Zensur

Erfreulich ist doch immer wieder, wie lächerlich die neuen Rechten daherkommen; vermutlich so lächerlich, wie die alten Rechten, würde man deren Folgen nicht kennen. Unbestritten und unvergessen bleibt Hannah Arendts Wort von Eichmanns „empörender Dummheit“. Man kann es sehen, wie man will. Ich glaube nicht daran, dass Storch ihren letzten tweet unwissend abgesetzt hat. Der ganze Sermon, der diesem tweet und der Sperrung des Twitter-Accounts gefolgt ist, gleicht einer wohlüberlegten Inszenierung, einer Art Ballettübung auf dem Meinungsmarkt.

Ein arabischer tweet

Die Storch hat sich darüber empört, dass die Kölner Polizei Neujahrsgrüße auf Arabisch getwittert hat. Nein, empört ist hier das falsche Wort. Sie hat sich darüber lustig gemacht, wie man sich über einen Trottel lustig macht. Aber was zur Hölle ist in dieser Frau los? Denn es war nur ein tweet, einer von vielen übrigens, die auch auf Italienisch, Dänisch, Koreanisch in die Welt gesetzt wurden. Eine Höflichkeit, nichts weiter. So wie ich gelegentlich meinen arabischen Schülern das eine oder andere Wort auf Arabisch daneben schreibe. Ich kann kein Arabisch, aber ich besitze ein arabisches Wörterbuch. Die Schüler freuen sich darüber und lernen ein wenig eifriger die Malfolgen oder die Benennung der Satzteile (in deutschen Sätzen).

Polizeipräsenz

Wie die Besänftigung dann tatsächlich ausgesehen hat, kann man übrigens auch in den „linken“ Zeitungen nachlesen: eine massive Polizeipräsenz in der Silvesternacht.
Das Absurde an der ganzen Situation ist aber, dass die AfD auf der einen Seite so etwas wie einen Polizeistaat fordert, auf der anderen Seite aber die Polizei beständig denunziert und sie in einen schlechten Ruf zu bringen versucht.

Störchliche Logik

Und ebenso absurd ist, dass die Storch ganz bewusst (so scheints) die Meinungsfreiheit (für sich) auf übelste Beleidigungen ausdehnt. Und nein: ich schätze nicht alles, was aus den etablierten Parteien so getönt wird, allen voran, und als Beispiel, die Nahles. Nein, das schätze ich gar nicht. Aber diese Bigotterie, dieses offene Sich-Erlauben, was man anderen schon in Ansätzen verbieten möchte, lässt auf ein völliges Versagen höherer kognitiver Fähigkeiten schließen oder auf eine bewusste Misshandlung jeglichen logischen Zusammenhangs.

La Luna, le lune - Geschlechtsversicherung mit David Berger

Dann kommt auch noch der Berger. David Berger lässt mittlerweile kein Taschentuch mehr aus, in das er hineinflennen könnte, und sei dieses noch so braun. Er erblickt die Storch als Opfer, in seiner philosophia perennis. Sie habe „schlicht auf die von der Kölner Polizei auf Arabisch getwitterten Neujahrsgrüße … geantwortet“. Von der höflichen Geste zu der Unterstellung, es gäbe einen weitreichenden Bedarf, „gruppenvergewaltigende Männerhorden“ zu besänftigen (auf Arabisch natürlich), das ist für die Menschheit ein großer Schritt; für den Mann im Mond nur ein kleiner.
Und nein: ich leugne nicht, dass da nichts gewesen sei. Ob dies allerdings ein arabischer Charakterzug ist, das wage ich zu bezweifeln. Gruppenvergewaltigungen hat es auch in anderen Kulturen immer wieder gegeben. Und im groben kann man als gemeinsamen Zug einen fragilen gesellschaftlichen Status (wie er Flüchtlingen, aber auch Arbeitslosen oder kulturell verunsicherten Menschen eigen ist) und einen Zusammenhalt durch substantielle und nicht-substantielle Drogen finden.
Beides ist weniger von einer nationalen als von einer bestimmten gender-Ideologie (nämlich, wie man so sagt, einer patriarchalen) geprägt. Auch der spielt die AfD in die Hände. Die Rückkehr zu offen patriarchalem Gedankengut ist in dieser Partei so greifbar, wie schon lange nicht mehr. Auch das wundert mich nicht. Die Rückkehr war schon um die Jahrtausendwende massiv zu spüren. Einmal sprach Jutta Ditfurth von einem Rollback des Feminismus. Nachdenklich geworden darüber scheint niemand zu sein. Zu sehr hat sich eine Gruppe etablierter Feministinnen in ihrem Erfolg eingeigelt (und Insider wissen, dass ich hier keineswegs von allen Frauen spreche, sondern einige ganz bestimmte im Blick habe).

Richtig zensieren

Nun, das Fazit von Berger spricht Bände: der erste Zensurfall unter dem NetzDG diene zur Zensur und Einschüchterung. Keinesfalls ginge es um die Richtigstellung. Keinesfalls darum, wie der geradezu banale rhetorische Kniff, die arabische Sprache mit den gruppenvergewaltigenden Männerhorden zusammenzubringen, auf so schlichte Gemüter wie den Herrn Berger wirken könnte. Hier blickt jemand mit von Weinerlichkeit verquollenen Augen doch nur ins eigene Boudoir; und geschärft ist der Blick der philosophia perennis keineswegs, sondern nur die Anmaßung.
Die Höflichkeit hat die Storch nicht zum Schweigen gebracht. Wie auch? Weiß sie doch nichts von ihr. Die Intelligenz, wahrlich die schärfste aller Zensuren, konnte es auch nicht. Und so stolpert die neue Rechte durch ständige Wiederholungen und durch immer weniger Reflexion in jenen Kulturverfall hinein, den sie angeblich abwenden will.
Bleibt zum Schluss zu sagen, dass dieser Kulturverfall so alt ist wie die Kultur selbst. Man findet diese Kultur nicht auf den Bühnen des politischen Theaters, schon gar nicht auf denen, auf denen solch ein rauer Ton und solch eine abwertende und missachtende Meinung vorherrschend ist. So wenig ist die französische Kultur auf der Guillotine verteidigt worden. Und wer nach der deutschen Kultur sucht, der tut gut daran, abseitige Wege und schmale und verschlungene Pfade aufzusuchen. Der darf sich auch nicht zu fein sein, mit langem Atem und noch längerem Magen jenen verborgenen Früchte nachzustellen, die den Kanzelrednern so unbekannt, so fremdartig, so ausländisch vorkommen.