22.01.2018

Wissen; und eine Nullübersetzung

Der Anspruch an den eigenen Fleiß und der Anspruch, dadurch zu einem halbwegs endgültigen Ergebnis zu kommen, klafft gelegentlich weit auseinander. Es war wohl Schicksal, dass die Fluten der Publikationen mir zunächst das letzte Buch von Sybille Krämer (Figuration, Anschauung, Erkenntnis) in den Bücherschrank gespült haben; und nicht mehr ganz so Schicksal war es, dass ich daraufhin Goodman und Quine herausgesucht habe. Zu Ende gelesen habe ich noch nichts, nicht jedenfalls in dem Sinne, dass mich diese Bücher nun kalt lassen und dermaßen erkaltet in meinem Bücherschrank herumstehen.

Wie man nicht zu Ende kommt

Im Moment achte ich sehr darauf, Modelle und semantische Gefüge auf andere Bereiche zu übertragen. Ich lese Texte also so gründlich, dass ich daraus ein oder mehrere Modelle gewinne, manchmal auch nur eine Liste von semantischen Oppositionen (zum Beispiel Repräsentation/Ähnlichkeit) oder semantischen Gruppierungen (zum Beispiel sprachliche Repräsentation – Regeln (Lexikon und Grammatik) – Sprachkompetenz).
Ob sich nun ein solches Modell auf einen bestimmten Weltausschnitt anwenden lässt, kann man im vornherein nur abschätzen. Es gibt natürlich ein gewisses sinnvolles Gefühl, was funktionieren könnte und was nicht. Aber vollständig verlassen sollte man sich darauf nicht. Kultur bedeutet Reduktion und allzu oft unbegründete Reduktion. Wer sich darauf nicht einlassen möchte, sollte auch gelegentlich an unwahrscheinlichen Fällen arbeiten. Bei Texten ist dies besonders praktisch, da sich niemand darüber aufregt, wenn man es tut. Notfalls landen sie eben unveröffentlicht und unberichtet im Papierkorb. Oder, wie bei mir, in irgend einer Datei.
Weltausschnitte gibt es nun viele. Modelle habe ich bereits auch einige angesammelt. Und so haben sich diese Woche einmal satzübergreifende Relationen, geometrische Aspekte (insbesondere aber entwicklungspsychologische Bedingungen dazu) und – endlich mal wieder – Diagramme der Objektmodellierung über meinen Schreibtisch „bewegt“, daneben aber alle möglichen anderen Sachen, von politischen Betrachtungen, einigen Cartoons, mit denen ich immer wieder mal arbeite, Häkeln (jawohl, auch das kann man mit Mitteln der Semiologie und des Pragmatismus betrachten), und so weiter.
Dass dabei gelegentlich ein erster Kommentar durch viele weitere ergänzt wird; dass ich mir dabei auch mal ein assoziatives Weitergleiten erlaube: ihr könnt es euch wohl vorstellen.

Fruchtbare semantische Oppositionen

Man trifft in unserer Kultur auf zahlreiche semantische Oppositionen, die mal sinnlicher Art sind und die ich dann Kontrast nenne, zum Beispiel hell/dunkel, schwarz/weiß; andere wiederum binden sich an Tätigkeiten (aufsteigen/absinken), weitere an Ideen (Höflichkeit/Ehrlichkeit) und einige an einen Mischmasch ohne festen Kern (Mann/Frau ist dafür ein recht gewichtiges Beispiel; oder – weil es sich auf den ersten und zweiten und dritten Blick nicht klar voneinander scheiden lässt – Einheimischer/Bürger).
Catherine Elgin untersucht in Im Blick: Neuheit (Goodman/Elgin: Revisionen) die Repräsentation in sprachlichen und in pikturalen Werken. Dabei stellt sie fest, dass die oberflächliche Trennung eher eine gewohnheitsmäßige als eine begründete und schon gar nicht eine interessante ist. Tatsächlich verschiebt sie eine vorrangig als Kontrast empfundene semantische Opposition in Richtung einer gemischten und damit durchaus unklaren.

Wissen

Der Weg, den Elgin nimmt, ist trickreich. Und bevor man ihn nun als reinen Trick und damit als eine Art Beschäftigungstherapie ansieht, sollte man sich auf ihn lange und gründlich einlassen.
Denn zunächst geht Elgin davon aus, dass die Wahrnehmung eine konstruktive ist und dass in dieser ein zwar unbewusstes, aber selbstverständlich genutztes Wissen existiert, wie man Repräsentationen und Ähnlichkeiten „herstellt“.
Elgin fragt sich also nicht, was eine Repräsentation oder eine Ähnlichkeit ist. Sie fragt allerdings auch nicht, warum ein Mensch etwas als Repräsentation oder als Ähnlichkeit auffasst. Und sie will auch nichts von den psychologischen Bedingungen wissen. Stattdessen erstellt sie einige Regeln, wie Repräsentationen und Ähnlichkeiten erzeugt werden können. Ihr Vorgehen ist damit „pragmatisch“, und zwar pragmatisch in dem Sinne, wie dies vom Pragmatismus (einer zunächst amerikanischen philosophischen Schule) verstanden wird.
In gewisser Weise läuft dies dann darauf hinaus, einen Arbeitsablauf oder ein Rezept zu entwickeln, wie man eine Sache in eine andere verwandeln kann. Das ist nun etwas schlicht gesagt, wird auch den hohen argumentativen Standards und den feinsinnigen Unterscheidungen der Autorin nicht gerecht, bietet aber eine ganz gute erste Orientierung. (Und ehrlich gesagt: sowohl Goodman wie Elgin schreiben so dicht, dass man gelegentlich an einem einzelnen Absatz, an einer halben Seite ein, zwei, drei Stunden verbringen kann; wenn man denn genügend Arbeitsmaterial hat, in das man das Gelesene hineintragen kann.)
Tatsächlich ist der Aufwand in gewisser Weise enorm: zunächst schaut man nach stillgestellten Bewegungen in einem Modell, einem Diagramm oder einem Text. Stillgestellt soll auf der einen Seite heißen, dass es so etwas wie Transformationen in einem Modell gibt, die zwar vom Modell nicht ausgeführt werden, zu denen es aber – explizit oder implizit – auffordert. Und wenn ich hier implizit sage, verbirgt sich darin die zweite Schwierigkeit: oftmals sind diese stillgestellten Bewegungen nicht ersichtlich und müssen ausprobiert werden.
Wenn man sich zum Beispiel ein Klassendiagramm für ein Java-Programm erstellt, muss man ein Stück Wirklichkeit nach bestimmten Regeln in ein solches Diagramm überführen und danach dieses Diagramm in ein Programm umsetzen. Dabei sind aber die einzelnen Arbeitsschritte und die Bedingungen, unter denen dies geschieht, keineswegs aufgelistet. Man muss sie immer wieder ausprobieren und auch immer wieder darüber nachdenken, ob man mit den geeigneten Methoden arbeitet. Gerade bei der Objektmodellierung wird so schnell die Erfahrung zu einem wichtigen Bestandteil des Programmierens. Sie wird so wichtig, dass die einzelnen Diagramme lediglich formale Dokumentationen bieten.
Beim Programmieren zeigt eine semiotische Betrachtung zum Teil recht deutlich geradezu hinterlistige Phänomene.
Es ist zwar richtig, dass sich sprachliche Systeme durch Repräsentationswissen gut ausdrücken lassen, während pikturale Systeme durch ein Ähnlichkeitswissen entstehen. Aber in komplexeren pikturalen Systemen gibt es notwendig auch ein Repräsentationswissen (und das schon bei Piktogrammen, die einen durch eine Behörde schleusen), während sprachliche Systeme immer auch pikturale Systeme sind: nur sind die pikturalen Systeme innerhalb der Sprache durch ihre unendliche Reproduzierbarkeit von ihrer Originalität komplett befreit. Dies wird bei Buchstaben besonders deutlich: ihnen ist wesentlich, wiederholbar zu sein. Ursprünglichkeit oder gar Gefälligkeit sind dagegen wenig oder überhaupt nicht wichtig. Dagegen gewinnen Buchstaben, sobald sie in ein anderes System eingebunden sind, gelegentlich eine geradezu mystische Bedeutung. Man sehe sich nur das kunstvolle (und möglicherweise gekünstelte) Spiel von Binnen- und Endreimen im Spätwerk von Rilke an.
Beim Programmieren treten hier gelegentlich seltsame Schleifen auf. Man kann sich relativ sicher sein, dass eine Augenfarbe durch eine entsprechende Farbkarte vertreten werden kann: die Farbe auf der Farbkarte und die Augenfarbe müssen hinreichend ähnlich sein. Wird diese Farbe dagegen vom Computer quantifiziert, dann geschieht dies in eine der üblichen Farbkodierungen und in Form von Zahlen. Dass diese Zahlen in Computern natürlich auch irgendwie nicht existieren, sondern letzten Endes nur noch auf elektronischen Zuständen aus Nullen und Einsen bestehen, macht die Sache nicht leichter. Die Zahlenkombination repräsentiert eine Farbe, ist ihr aber nicht ähnlich.
Und trotzdem kann ich aus dieser Repräsentation nun auf dem Bildschirm eine Farbe darstellen, die wiederum eine hinreichende Ähnlichkeit mit der tatsächlichen Augenfarbe besitzt. Das mag im ersten Moment dann tatsächlich verwundern, da man zum Beispiel eine Repräsentation eines Hundes durch das Wort Hund drehen und wenden kann, wie man will: man wird aus dem Wort keinen echten Hund herausgequetscht bekommen. Und im Computer selbst müsste eine eindeutige Zuordnung zum Beispiel zwischen Wort und Bild bestehen. Dass dies bei Farben anders ist, liegt dann daran, dass sich die Analyse der Farbe und ihre Quantifizierung in einer Struktur niederschlägt, von der man sagen kann, dass sie außerhalb des Computers und innerhalb (zumindest des Monitors) so ähnlich ist, dass daraus eine Art „Nullübersetzung“ entsteht.

Es wäre Nacht

Zunächst sind all diese kleinen Untersuchungen wohl nichts anderes als Gedankenspielereien. Auf die eine oder andere Weise beschäftige ich mich aber intensiv mit dem Stoff, sei es mit der Möglichkeit, die komplexe Tätigkeit des Programmierens in einfachere und damit vermittelbare Sequenzen herunterzubrechen, sei es mit der günstigen Aufteilung eines Arbeitsblattes (obwohl ich dies schon tausend Mal in meinem Leben überdacht habe), sei es mit den Anforderungen, die in einer Faltarbeit oder einer geometrischen Zeichnung verborgen sind.
Erbsenzählerei, so hatte ich das gelegentlich genannt, und so wird es wahrscheinlich auch manchen Menschen vorkommen. Es bedeutet, anhand eines Modells systematisch ein Stück Wirklichkeit abzuklopfen. Es bedeutet, den ersten Eindruck durch eine Analyse aufzubrechen, auch wenn diese Analyse, da sie sich immer auf ein begrenztes Modell stützt, nur eine begrenzte Reichweite liefern kann.
Gelegentlich entdeckt man dadurch ein Stück neues Wissen, gelegentlich entdeckt man an sich etwas mehr Empathie und guter Einschätzung von dem, was vor einem liegt. Das sind vielleicht Marginalien. Aber geduldiges Zusammentragen, winzige Schritte, der Besuch tausender, oftmals unscheinbarer Blüten, all das wird dann vielleicht doch zu dem einen Tröpfchen Honig führen, den man als Bienchen unter vielen anderen Bienchen dazu tun kann.
Nun ist es Nacht. Ich habe vier Arbeitsblätter entworfen, dazu zwei Mathespiele (zum Rechnen mit Geld; wer will, darf sie anfordern), zwei Blätter für den Sachkundeunterricht. Aus dem Buch Im Krebsgang voran (Umberto Eco) drei Glossen, besagten Artikel von Elgin um zahlreiche Kommentare erweitert, zwei Dokumentationen für die Schule, mehrere Gedanken zu Schülern und Schülerinnen, eine Zusendung eines Kollegen zum Informatikunterricht begutachtet, aber, wie ich befürchte, noch lange nicht zu Ende gedacht. Im Zimmer etwas umgeräumt, den Rucksack gepackt. Ich kann, eigentlich, zufrieden sein.

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