31.08.2014

Wir postmodernen Philosophen

Michael konnte gestern Abend nicht kommen. Er musste zu einem Kunden.

Ich habe in einer Kneipe gesessen. Seine Ausrede war, dass ich so mehr schreiben könnte.

Damit Michael weiß, dass es sich gelohnt hat, hier einige meiner Notizen:
Für meine Außenaktivitäten müsste ich mir dringend einen Gürtelbeutel kaufen. Damit ich nicht immer eine Tasche mit mir herumschleppen muss.

Männer mit Bärten … Franzosen im Exil (immer noch im Clichy)

Aber irgendwie bin ich auch zu doof für diese Welt.
Ich stehe also kurz vor der Revolution der Philosophie.

29.08.2014

Bücher, die ich (zunächst) nicht lesen werde

Wittgenstein, immer wieder Wittgenstein — zumindest zur Zeit.
Obwohl ich zum Lesen gerade im Moment gar nicht komme. Diese Woche war echt die Hölle. Einige meiner wichtigsten Notizen sind gar nicht am Computer entstanden, sondern während einer der Fahrten in U- oder S-Bahn.

Wittgensteins Philosophische Grammatik hatte ich vor über einem Jahr begonnen durchzukommentieren. Diesen Winter habe ich dann tatsächlich auch das Kapitel zum Spätwerk von Wittgenstein aus dem Stegmüller gelesen und mir Notizen dazu gemacht. Zudem die Einführung von Joachim Schulte (im Reclam Verlag). Wobei diese Einführung mich so fasziniert hat, dass ich zunächst in ganz vielen Eintragungen zwischen dieser und dem Tractatus hin und her gesprungen bin, dann aber den Rest des Büchleins in einer Art Marathonsitzung zu Ende gebracht habe.
Ungelesen liegt neben mir die Einführung von Richard Raatzsch (Junius). Außerdem aus dem Suhrkamp-Verlag Wittgenstein und die Literatur, herausgegeben von John Gibson und Wolfgang Huemer.

Und ich habe es getan. Ich wollte schauen, wie resistent ich bin. Und ein abschließendes Fazit ist: ich bin verführbar. Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen befindet sich jetzt in meinem Besitz.

Irgendwann werden auch die anderen Bücher von Blumenberg folgen. Bisher habe ich mir Höhlenausgänge und Paradigmen einer Metaphorologie neu gekauft. Höhlenausgänge war ein Buch, was mich einen ganzen Sommer lang (ich meine 1996) sehr fasziniert hat. Damals war ich mitten in einer sehr experimentellen Schreibphase: ich hatte gerade die Möglichkeit entdeckt, Texte so zu gestalten, dass die Textfelder sehr unterschiedliche, variable Formen aufweisen, und eine längere Arbeit über das Käthchen von Heilbronn entworfen. Seitdem habe ich nie wieder so grafisch mit Texten gespielt. Ich bin insgesamt auch sehr viel nüchterner geworden; meine Texte sind nicht mehr so theatralisch wie früher.

Und was mein Schreiben angeht: im Moment explodieren bei mir die Ideen. Ich bewege mich in zahlreiche Richtungen vorwärts, greife wieder auf, was ich früher geschrieben habe, gestalte es neu, formuliere es um, erweitere es, oder verfeinere es an der einen oder anderen Stelle.
Glücklicherweise habe ich im Moment auch einen roten Faden, der mich ganz gut strukturiert, auch wenn es von außen erscheinen mag, dass ich diesem nur halbherzig und nachlässig folge.

Während einer längeren Wartezeit in einer Behörde habe ich Clifford Geertz gelesen, den Aufsatz Blurred Genres aus Local Knowledge, dessen Ideen ich seitdem mit mir herumtrage.
Ich habe mich früher wesentlich mehr mit ethnologischen Schriften beschäftigt. Es ist sehr bedauerlich, dass ich das in den letzten Jahren kaum noch weiter verfolgen konnte. Als ich für meine Exfrau vor sieben Jahren einen Artikel verfasst habe, musste ich noch mal in meinen alten Aufzeichnungen aus meiner Studienzeit herumstöbern (die, sofern ich sie noch besessen habe, mittlerweile alle elektronisch abgespeichert sind). Und soweit ich das übersehen konnte, hat die Kriminologie ein ähnliches Problem wie die Völkerkunde. Geertz schreibt zum Beispiel, dass die Ethnologie, um sich den Anschein einer exakten Wissenschaft zu geben, sich teilweise auf sehr umfassende qualitative Sozialforschungen eingelassen hat und damit genau das weitergeführt hat, was sie eigentlich abschaffen wollten.
Gelegentlich werde ich mir noch mal Schriften der Kriminologie zu Gemüte führen und schauen, ob dieses Problem immer noch besteht. Dann sollte ich vielleicht den Kriminologen ernsthaft vorschlagen, sich Autoren wie Karl-Heinz Kohl, Martin Fuchs oder eben Clifford Geertz anzuschauen und wie diese mit den methodischen Problemen ihrer Wissenschaft umgehen.

Aber es geht mir gut. Ich bin nicht unkoordiniert (was gelegentlich auch vorkommt). Doch diesmal strömen ganz viele kleine Fragmente aus mir heraus, die meine üblichen Problembegriffe immer wieder neu aufgreifen, so zum Beispiel die Perspektive, derzeit auch ganz stark den Dialog, und, eine Sache, zu der ich bisher noch ganz wenig veröffentlicht habe, die Nachahmung in Bezug auf die Kreativität.

Ganz lose habe ich mich jetzt mit jemandem verabredet. Und da ich heute Nachmittag wirklich gut geschrieben habe, gönne ich mir jetzt mein Feierabendbier.

28.08.2014

Dragon NaturallySpeaking 13

Seit drei Tagen habe ich die neue Version von Dragon NaturallySpeaking, die Version 13, auf meinem Computer. Es wird Zeit für einen ersten Bericht.

Die Spracherkennung

Gehen wir gleich auf die Hauptfunktion, die Spracherkennung ein. Diese hatte sich von der Version 11 auf die Version 12 kolossal verbessert. Man hätte sich eine Steigerung kaum vorstellen können. Tatsächlich hat aber Nuance mit ihrer neuesten Version einige lästige Unsicherheiten beseitigt, die manchmal viel Zeit gefressen haben (relativ gesehen natürlich, denn es war immer noch schneller einzudiktieren als einzutippen). Doch auch in der Version 12 war die Unterscheidung zwischen einer Dativ- und Akkusativendung schwierig. Ebenso wurden gleiche Buchstaben über eine Wortlücke hinweg gelegentlich falsch interpretiert, zum Beispiel ›als sich‹ als ›als ich‹ interpretiert. Und schließlich gab es die üblichen Verwechslungen von langen und kurzen Vokalen, besonders in den einsilbigen Wörter, also zum Beispiel ›in‹/›ihn‹.
All diese Unsicherheiten der Version 12 sind weitestgehend behoben. Tatsächlich konnte ich am Montag, nachdem ich das Programm installiert habe, sofort mit dem Diktieren beginnen. Und sogar komplexere Wörter wurden gut erkannt. Besonders erfreulich ist das für die Zeitersparnis. In jedes Wort, das man korrigieren musste, hat doch Zeit verbraucht. Und da diese kleinen, leicht zu verwechselnden Wörter besonders häufig vorkommen, war das gelegentlich lästig.

Die Geschwindigkeit

Unglaublich, möchte man sagen. Auf meinem wesentlich leistungsfähigeren Computer, der im Frühling kaputtgegangen ist, habe ich das nicht so gemerkt. Für die Übergangszeit habe ich mir jetzt einen recht billigen und langsamen Computer gekauft. Und dort hat die Version 12 öfter viel Zeit gebraucht, manchmal bis zu 1 Sekunde, um etwa 20-30 gesprochene Wörter in ein Textverarbeitungsprogramm zu übertragen.
Solche Wartezeiten sind wohl vorbei. Tatsächlich überträgt das Programm die Wörter so rasch, dass ich meistens das Wort in dem Moment stehen habe, indem ich fertig gesprochen habe. Man kann also in Echtzeit diktieren.

Das Wörtertraining

Auch hier hat sich wohl einiges getan. Anscheinend erkennt Dragon NaturallySpeaking anhand bestimmter Silbenformen die Herkunftssprache. Das Wort ›écriture‹, das ich probehalber ohne entsprechendes Training in das Vokabular aufgenommen habe, wurde prompt erkannt. In der alten Version hatte ich dasselbe probiert und dort wurde mir ›Egri Tür‹ ausgegeben. Das Programm konnte also das Wortbild nicht mit dem Lautbild verknüpfen. Ich weiß nicht, inwiefern die Fähigkeiten der neuen Version reichen. Aber das hat mich ganz angenehm überrascht.

Die Zusammenarbeit mit anderen Programmen

Noch eine Sache, die unglaublich ist. Bisher hatte ich für meinen Blog meine Texte immer auf OneNote vorgeschrieben, da Dragon NaturallySpeaking mit dem Editor von Blogger nicht zurecht gekommen ist. Das hat sich komplett verändert. Auch andere Programme, wie der Zettelkasten von Niklas Luhmann/Daniel Lüdecke, OneNote selbst oder das beliebte Schreibprogramm für Autorinnen, Papyrus, sind jetzt wesentlich rascher und fehlerfreier. Das ist super angenehm!

Die Optik

Mit Sicherheit nicht das wichtigste an einem Programm, das im Hintergrund funktionieren soll. Und trotzdem! Bis zur Version 12 hatte man ein hübsches Fensterchen, das entweder frei beweglich als typischer Windows-Kasten oder als Leiste am Rande des Monitors zu finden war. Die neue Version besitzt auch diese Optik. Doch hier findet man, wenn man das Programm installiert, zunächst die neue Optik, und die ist ganz anders. Ich habe jetzt oben am Bildschirm einen winzigen Kasten, in dem im Prinzip nur ein Mikrofon zu sehen ist, wahlweise vor einem grünen, blauen oder roten Hintergrund, je nachdem, ob man das Mikrofon angeschaltet hat, ob es schläft, oder ob man es ganz ausgestellt hat. Fährt man mit der Maus über diesen kleinen Kasten, erweitert sich dieser zu einem optisch hübschen Menü.
Von den Bedienelemente allerdings ist das Programm weitestgehend gleich. Man findet also alle üblichen Funktionen wie gehabt, nur mit einem anderen Design.

Das Lerncenter

Das ist der letzte Pluspunkt der neuen Version. Das bisherige Lerncenter hat sich etwas behäbig an die jeweilige Anwendung angepasst, auf die man gerade durch die Spracherkennung zugegriffen hat. Das neue Lerncenter passt sich rascher und präziser an und kann gerade dadurch Anfängern eine große Hilfe sein. Wenn man bereits eine längere Zeit mit Dragon NaturallySpeaking gearbeitet hat, findet man noch die eine oder andere Neuerung, braucht es allerdings insgesamt nicht.

Damenlutschen

Die gesamte Integration erfolgt vorwiegend auf der Ebene des Hirnstammes, doch liegen schon erste komplette Bewegungsmuster vor wie Babinski-Reflex, Damenlutschen, Schlucken von Fruchtwasser usw.,
Jantzen, Wolfgang: Allgemeine Behindertenpädagogik I, S. 184
Mir fehlen gerade die Worte.

25.08.2014

Dragon NaturallySpeaking 13; Schulwechsel

Eigentlich bin ich in einer ganz anderen Arbeit (es geht um verrückte Ethnologen und dergleichen). Da ich aber gerade beschlossen habe, mir die neue Version von Dragon NaturallySpeaking zu kaufen und der download etwas länger braucht, habe ich doch für eine kurze Notiz Zeit.

Zu Beginn des kommenden Monats werde ich meine Schule wechseln. Von meiner letzten Schule war ich schon so begeistert, weil sie gegenüber eine größere Grünfläche mit wenig gestutzten Hecken und einen Blick zum Horizont bot; an der nächsten liegen die nächsten Häuser einen halben Kilometer entfernt, zum Grundstück gehört ein Wald.

Ich hoffe ja, dass der Wald einen Bestand an Blaubeeren besitzt. Wenn nicht, werde ich wohl zu meinen ersten eigenwilligen Amtshandlungen des Bepflanzen mit Blaubeeren machen. Von Nico bekomme ich Brombeerableger und Bärlauch-Samen. Irgendwoher werden sich wohl auch Himbeer-Stecklinge organisieren lassen.

Vielleicht bekomme ich jetzt auch meine Streuobst-Wiese. Nebenan liegt ein altes Militärgelände mit einem stadiongroßen, begrünten Exerzierplatz. Das dazugehörige Gebäude ist komplett verfallen. Dort könnte man eventuell einheimische Obstbäume pflanzen, Äpfel-, Birnen- und Zwetschgenarten, die es nur in Brandenburg gab und die durch die hochgezüchteten Obstbäume mehr und mehr verdrängt werden. - Mal sehen, ob sich da mit der Gemeinde dealen lässt.

Jedenfalls freue ich mich, dass der Wechsel so schnell und reibungslos geklappt hat. Ich vermisse zwar die Schüler jetzt schon, lauter feine, quirlige Kerlchen, aber da muss ich wohl durch. An der neuen Schule werde ich mich wohl auch deshalb wohler fühlen, weil sie ein stark fächerübergreifendes Konzept bietet und schon früh individuelle Projekte von Schülern fördert. Das sind Zusätze, die eine normale Schule schon wegen der Räumlichkeiten nicht leisten kann. So gut meine bisherigen Kollegen waren (und so hervorragend die Schule ausgestattet ist): man darf nicht den vierten Pädagogen vergessen, den Raum. (Die beiden anderen, neben dem Lehrer selbst, sind das Material und die Zeit.)

20.08.2014

Figurenperspektive und Außenperspektive

Noch eine weitere Anmerkung zum Begriff der Perspektive: ein Anrufer fragte etwas verunsichert, wie dieser zu verwenden sei und verwies dabei auf meinen unterschiedlichen Gebrauch der Worte Figurenperspektive und Innen-/Außenperspektive.
Tatsächlich sind diese Begriffe verwirrend.

Figurenperspektive

Mit der Figurenperspektive ist die Sichtweise einer Figur in der fiktiven Welt gemeint. Dabei handelt es sich dann immer, laut Stanzel, um eine Ich- oder personale Erzählsituation. Allerdings muss man hier vorsichtig sein. Die personale Erzählsituation kann aber muss nicht von einer Figur aus geschildert werden. Zwar ist diese am allerdeutlichsten darauf bedacht, die fiktive Welt objektiv abzubilden, ist allerdings nicht immer mit einer Figur in dieser Welt verknüpft. Dann ist die personale Erzählsituation wie eine Kamera, die die Situationen und Handlungen filmt.

Innenperspektive

Die Innenperspektive verweist auf einen Erzähler innerhalb der Welt. In der Ich-Erzählsituation fällt die Innenperspektive mit der Figurenperspektive zusammen. In der personalen Erzählsituation muss dies, wie eben geschildert, nicht sein.

Außenperspektive

Hier tritt ein Erzähler auf, der nicht in dieser erzählten Welt lebt. Er kommt von außen hinzu. Die Außenperspektive ist keinesfalls die Figurenperspektive. Das gilt auch dann, wenn der Erzähler zwar auch als Figur auftaucht, zwischen beiden aber eine lange zeitliche Distanz liegt, so etwa, wenn jemand am Ende seines Lebens die Geschichte seiner Jugend aufschreibt. Ein typischer Roman für eine solche zeitliche Distanz ist Der Name der Rose von Umberto Eco. Andere Sonderformen der Auktorialität entstehen durch eine streng durchgeformte Prosa, die den Willen zur erzählerischen Gestaltung deutlich hervorhebt, wie in Brochs Der Tod des Vergil. Dabei tritt die Sprache so deutlich in den Vordergrund, dass der Akt des Erzählens in einen regen Austausch mit dem Inhalt tritt und der Inhalt seine "Natürlichkeit" deutlich verliert. Schließlich findet man, selten, noch das Phänomen der Schein-Auktorialität, bei dem ein Erzähler nur behauptet, er spreche aus großer Distanz. In Wirklichkeit aber gehört diese große Distanz zu einer Art pathologischem System, das die Welt verkennt.

Perspektivwechsel

So gesehen gibt es zwei Arten von Perspektivwechsel. Einmal kann die Perspektive von einer Figur zur anderen wandern; das andere Mal kann zwischen Außen- und Innenperspektive gewechselt werden. Dieser zweite Wechsel war schon immer typisch für den Unterhaltungsroman, noch zu einer Zeit, als nicht so leichtfertig zwischen verschiedenen Figur und deren Perspektive gewandert wurde.

Die Markierung des Perspektivwechsels

Besonders begeistert war der Anrufer über meine Aussage, dass der Perspektivwechsel deutlich markiert werden müsse. An dieser Stelle musste ich dann zurückrudern. Dies ist eine Empfehlung für den modernen Unterhaltungsroman. Und ich sage gleich dazu, dass es gut ist, sich an diese Empfehlung zu halten, wenn man einen Unterhaltungsroman schreibt. Allerdings gibt es auch gute Gründe, dieser Empfehlung nicht nachzukommen. King zum Beispiel hat in dem von mir analysierten Beispiel (der Beschreibung des Unwetters) einen schleichenden Übergang gewählt, der deshalb besonders eindrücklich ist, weil er die Figurenperspektive objektiviert, die Grenze zwischen Innen- und Außensicht verwischt und damit die Welt zu einem Ausdruck der inneren Verfassung des Protagonisten macht.
Gerade in der so genannten seriösen Literatur findet man zahlreiche Belegstellen, dass ein Perspektivwechsel nicht gekennzeichnet werden muss und dass ein solches Vorgehen für den Ausdruck einer Geschichte wichtig werden kann. Man denke nur an Christa Wolfs Kassandra oder an Max Frischs Homo Faber.

19.08.2014

Die Erzählsituation als analytisches Instrument

Offensichtlich stößt das Thema Erzählperspektive und Erzählsituation auf ein großes Interesse. Es gibt auch Stimmen, die diese Beschäftigung in Fragen stellen oder sogar ablehnen. So schrieb mir jemand, warum die Erzählsituation denn so wichtig sein, und ob ich damit nicht den kreativen Keim ersticken würde, der für das Schreiben ein notwendiger Bestandteil sei. Als ich nichts zurückschrieb, kann eine zweite Mail hinterher, mit der Frage, ob mir die vorhergehende Frage unangenehm sei.

Der Erzählkreis für Schriftsteller

Tatsächlich ist die Frage (die erste) keineswegs unangenehm, sondern notwendig. Wir müssen uns darüber bewusst werden, was ein Modell wie der Erzählkreis von Stanzel dem Schriftsteller nutzt.
Für den Literaturkritiker ist der Nutzen klar. Ein solches Modell hilft dabei, die Kritik genauer auszuformulieren und verschiedene Erzählweisen zu vergleichen.
Der Schriftsteller kann hier natürlich nicht stehen bleiben. Er vergleicht ja nicht die Werke anderer Schriftsteller, sondern möchte ein eigenes schaffen. Hier aber hilft der Erzählkreis, besser zu bestimmen, welche Techniken für den Ausdruck eines bestimmten Romans günstig sind. Es lässt sich also zum Beispiel genauer bestimmen, welche Erzählformen man nutzen sollte, wenn man einen Thriller schreibt.

Kreatives Schreiben

Wie dann diese Erkenntnis beim konkreten Schreibprozess eingebunden wird, ist vermutlich sehr individuell. Dies kann beim Schreiben selbst oder in verschiedenen Überarbeitungen geschehen. Wenn man etwa mit einer bestimmten Szene nicht wirklich glücklich ist, kann man auf diese anderen Formen zurückgreifen und die Szene entlang dieser anderen Form umschreiben.
So ist zum Beispiel eine typische Technik beim kreativen Schreiben, dass man bestimmte Erlebnisse einer Figur in Briefform verfasst; hier wird also aus der Sicht der Figur ein Stück der eigenen Autobiografie geschildert. Die Briefform ist typisch für die Ich-Erzählung, vielleicht sogar die typischste literarische Gattung für diese Erzählsituation.

Textmuster einüben

Das Schreiben von Briefen ist natürlich beim kreativen Schreiben mit einer ganz anderen Bedeutung verbunden, mit einer anderen Funktion. Dort soll sich der Schreibende über die Innenwelt seiner Figur klar werden. Das ist genau dann wichtig, wenn der Roman eine Ich-Erzählsituation realisiert, also meist für den Unterhaltungsschriftsteller, da Unterhaltungsromanen meist in dieser Erzählsituation verfasst sind.
Trotzdem werden hier, wenn auch wenig formell, die Textmuster der Ich-Erzählsituation eingeübt.

17.08.2014

Erzählsituation und Grundformen des Erzählens bei Stephen King

Einer der (mir) wichtigsten Romane von Stephen King ist ›Es‹. Er erzählt die Geschichte von sieben Kindern, die einer Serie von Morden auf den Grund gehen. Natürlich steckt dahinter eine Art Monster.
Das allerdings soll uns nur nebensächlich interessieren. Ich hatte Anfang des Jahres versprochen, zu der Erzählperspektive und der Erzählsituation mehr zu schreiben. Teilweise konnte ich einige wichtige Grundlagen bereits ausführen. Aber eine Sache, die ich auch besonders wichtig finde, fehlte bislang. Dies soll hier zumindest in Ansätzen nachgeholt werden.

Polyvozität

Unter diesem ungewöhnlichen Wort verbirgt sich das Phänomen, dass manche Romane vielstimmig gearbeitet sind. In ihnen tauchen sehr unterschiedliche Stimmen auf. Besonders wichtig dabei sind die verschiedenen Perspektiven, die durch den Autor dargelegt werden. Die Perspektive ist in der Erzähltheorie allerdings ein recht schillernder Begriff. Der Einfachheit halber soll damit zunächst nur die Perspektive einer Figur in einem Roman bezeichnet werden.
Stephen Kings Roman ist in diesem Sinne vielstimmig. So besteht das dritte Kapitel aus sechs kleinen Geschichten, die jede für sich eine rätselhafte Kurzgeschichte sein könnte, wenn sie nicht in einen größeren Zusammenhang eingeordnet wäre. Jede dieser kurzen Geschichten wird aus einer anderen Perspektive erzählt, von einer anderen Figur aus. So entsteht nach und nach ein Panorama, und das ist auch eine der möglichen Funktionen der Vielstimmigkeit: ein Panorama zu erschaffen und so die vielfältigen Sichtweisen und Konflikte den Leser erlebbar zu machen.

Vielstimmigkeit und Erzählsituation

Häufig wird die Erzählperspektive mit der Erzählsituation verwechselt und dadurch gleichgesetzt. Dass man beides trennen muss, hatte ich schon öfter erläutert. So steht es auch bei Franz Stanzel (Theorie des Erzählens).
Einer der Gründe, warum diese beiden Sachen verwechselt werden, liegt in der unklaren historischen Begrifflichkeit. Dort gibt es tatsächlich auch Definitionen der Erzählperspektiven, die mit Stanzel als Erzählsituation zu benennen sind. Ein anderer Grund ist die unvollständige Darstellung dieser Theorie in den Schulbüchern. Ein dritter Grund findet sich in der Trennung von Figur und Erzähler. Tatsächlich kann man in bestimmten Romanen den fortlaufenden Wechsel zwischen einer erlebenden Figur und einem erläuternden Erzähler finden. Die erlebende Figur weiß nicht, dass sie in einem Roman vorkommt, und der Text tut so, als würde er einfach die Erlebnisse der Figuren abbilden (und zwar die äußeren und inneren Erlebnisse, die Wahrnehmungen und die Gefühle/Gedanken). Der erläuternde Erzähler schaltet sich in den Momenten ein, in dem die Figur etwas weiß oder sich auf ein Wissen verlässt, das der Leser nicht wissen kann, aber wissen sollte.
So ist auch der Roman ›Es‹ dort vielstimmig, wo er nicht innerhalb der Figuren der Welt die Perspektive wechselt, sondern auch dort, wo er den Erzähler als explizit eigenständige, außerhalb der Welt stehende Figur auftreten lässt. Bei King finden sich dann gleich mehrere Erzähler, wie ich unten erläutern werde.

Monolog und Vielstimmigkeit

Wer sich den Roman gründlicher anschaut, wird feststellen, dass zahlreiche Konflikte aus dem fehlenden Dialog zwischen den Menschen entstehen. Das steht im krassen Widerspruch zu der Vielstimmigkeit, die auf Dialog angelegt zu sein scheint. Es gibt allerdings, wenn man genauer hinsieht, zahlreiche Möglichkeiten, die Vielstimmigkeit anzulegen. So schreibt Henning Ritter über Canettis Aufzeichnungen, diese seien vielstimmig monologisch. Canetti schreibt, so scheint Ritter das zu empfinden, aus vielen verschiedenen Perspektiven, aber immer von einem bewussten Akt aus, der sich für einen anderen Blickwinkel entscheidet.
Anders Stephen King. Auch bei ihm sind die Geschichten vielstimmig monologisch. Hier allerdings trennen sich die Figuren. Sie kommen nicht aus ihren Köpfen heraus, können sich nicht adäquat artikulieren, nicht sich selbst vermitteln. Anders als bei Canetti scheint diese Vielstimmigkeit nicht vorrangig experimentell sondern konflikthaft angelegt. Natürlich "experimentiert" auch King mit seinen Figuren. Natürlich entstehen auch bei Canetti aus den vielen Stimmen Konflikte. Aber Canetti legt diese eher dazu an, eine Erkenntnis zu provozieren, während sie bei King gleichzeitig einer Spannung dienen, die vor allem den Leser in der Geschichte hält. Manche von Kings Darstellungen fand ich immer äußerst lehrreich. Er hat eine Art, einen Konflikt so darzustellen, dass man seine vielfältigen psychologischen Ursachen verstehen lernt. Dadurch wird der Konflikt aufgebrochen und kleiner.

Die Leserorientierung und der erläuternde Erzähler

Stephen King schreibt sehr stark aus der Innenperspektive seiner Figuren. Das werden wir uns gleich noch genauer ansehen. Der häufige Wechsel der Perspektive kann dabei den Leser verwirren. Er weiß dann buchstäblich nicht mehr, in welchem Kopf er drin steckt. Um einer solchen Verwirrung vorzubeugen ist eine Orientierung des Lesers zu Beginn eines Perspektivwechsels sinnvoll. Und da Leser zwar keine dummen Menschen sind, aber meist ein bisschen bequem (vor allem die Leser von Unterhaltungsromanen), ist es günstig, zwischendurch den Leser immer wieder daran zu erinnern, aus welcher Sichtweise gerade erzählt wird.
Das allerdings sind zwei unterschiedliche Anforderungen, die wir getrennt behandeln müssen.
Szenen mit einer neuen Erzählperspektive leitet King mit einer Orientierung ein. Diese Orientierung kann distanziert, auktorial erfolgen, wie zum Beispiel im folgenden Zitat:
Um Viertel vor fünf Uhr morgens gleicht Boston einer riesigen Totenstadt, einer antiken Stadt, die über irgend eine schreckliche Tragödie in ihrer Vergangenheit brütet — eine Seuche oder einen Fluch. Der intensive, unangenehme Salzgeruch dringt vom Meer her in die Stadt hinein, und dichter Bodennebel füllt die engen Straßen.
(295)
So gesehen ist dieses Zitat fast schon ohne Perspektive. Nur die starken, emotionalen Bilder zeigen auf einen distanziert agierenden Erzähler. Folgende Orientierung ist viel perspektivischer und an eine Figur gebunden:
»Wegfahren?« sagte Audra und warf ihm vom anderen Ende des Wohnzimmers aus einen verwunderten Blick zu. In den Räumen war es schon wieder empfindlich kühl. Der Frühling in Südengland war dieses Jahr ungewöhnlich nasskalt gewesen, und bei seinen regelmäßigen Morgen- und Abendspaziergängen hatte Bill Denbrough unwillkürlich mehr als einmal an Maine gedacht … und an Derry.
(132)

Emotionalität und personale Erzählsituation

Die personale Erzählsituation ist an eine Perspektive gebunden, die die Wirklichkeit ablichtet, diese aber nicht interpretiert. Sie ist in Unterhaltungsromanen relativ selten. Die Interpretation des Wahrgenommenen ist ein wichtiges Mittel, um den Leser zu führen, und damit entweder eine Ich- oder eine auktoriale Erzählsituation. Darauf kann der Schriftsteller der Unterhaltungsliteratur nicht verzichten.
Trotzdem finden sich natürlich immer wieder winzige Passagen, die nur beschreiben. Ein typisches Beispiel dafür ist folgender Satz:
Er holte eine Flasche Glennfiddich heraus und schenkte sich ein Glas ein, wobei er etwas verschüttete.
(132)
Meist aber gibt es Wörter, die auf eine Bewertung durch eine Person hinweisen. Ist diese Bewertung an eine Figur im Roman gebunden, geraten wir in das Gebiet der Ich-Erzählsituation. Dies finden wir im zweiten Zitat in den Wörtern ›verwunderten [Blick]‹, ›empfindlich [kühl]‹ und ›ungewöhnlich [nasskalt]‹.
Das andere, erste Zitat ist an keine Figurenperspektive gebunden. Trotzdem ist das Bild stark wertend. Dies geschieht durch die (metaphorischen) Vergleiche. Dadurch erscheint der Erzähler wesentlich deutlicher. Er ist aber keiner Figur zugeordnet, steht also außerhalb des Geschehens und gehört damit zur auktorialen Erzählsituation.

Gleitende Erzählsituationen

Wir können hier feststellen, dass es nicht die eine Erzählsituation in einem Roman gibt. King gleitet hin und her und wenn man es ganz genau nehmen wollte, so könnte man in manchen Absätzen einen mehrfachen Wechsel der Erzählsituation feststellen.
Ein solches Vorgehen lässt sich natürlich wissenschaftlich rechtfertigen. Da es mir hier aber nicht um eine streng wissenschaftliche Untersuchung geht, sondern nur darum, bestimmte Effekte des Erzählens so zu erläutern, dass sie von Autoren bewusster gestaltet werden können, ersparen wir uns diese Feinarbeit, die auch häufig eine rein statistische Arbeit ist.
Stanzel selbst wehrt sich auch gegen einen dogmatischen Gebrauch seines Erzählkreises (und das widerspricht genau dem, was manche Autoren und Schreiblehrer behaupten):
Es sei hier noch einmal nachdrücklich klargestellt, dass die typischen Erzählsituationen als Idealtypen konzipiert sind und als solche keinerlei vorschreibenden Charakter haben.
(Stanzel, 20)

Grundformen des Erzählens

An dieser Stelle darf der Leser rätselnd stehen bleiben und sich fragen, was bei einer solchen unklaren Unterscheidung nun als Erkenntnisgewinn und Technik für den Autor übrig bleibt. Ich hatte bereits gelegentlich darauf hingewiesen, dass es unterhalb der Erzählsituationen bestimmte Grundformen der Textgestaltung gibt, die jeweils auf eine bestimmte Erzählsituation hinweisen. Genannt hatte ich dabei schon den erzählenden und erlebenden Ich-Erzähler. Dieser taucht häufig (eigentlich immer!) in Spannungsromanen auf. Er existiert allerdings selten in Reinform.
Diese beiden Grundformen sind auch bei Stephen King zu finden. Hier sollen noch einige weitere Grundformen anhand eines kurzen Textabschnittes aus ›Es‹ erläutert werden. Dieser Abschnitt findet sich zu Beginn des vierten Kapitels (›Ben Hanscoms Sturz‹), in meiner Ausgabe ab Seite 172.
Inhaltlich wird der Flug einer der Protagonisten von Omaha nach Chicago geschildert. Dieser Protagonist, Ben Hanscom, wird von einem Freund angerufen, weil sich die Morde, deren Zeuge er als Junge geworden ist, wiederholen. Daraufhin betrinkt sich Hanscom und beschließt, in seine Heimatstadt Derry zurückzukehren, um ein zweites Mal dem Monster entgegenzutreten und es diesmal endgültig zu töten.

Personale Bewusstseinsdarstellung

Eines der wichtigsten Mittel von King ist die personale Bewusstseinsdarstellung. Sie ist an das erzählende und erlebende Ich gebunden und gehört zur Ich-Erzählsituation:
Als er in Omaha an Bord ging, dachte sie insgeheim: Mit dem wird's Ärger geben. Der ist ja stockbesoffen. Seine Whiskyfahne erinnerte sie an die Staubwolke, die immer den schmutzigen kleinen Jungen in ›Peanuts‹ umgibt — Pig Pen heißt er. Nervös dachte sie an den Getränkeservice kurz nach dem Start — sie war sicher, dass der Mann einen Drink bestellen würde, vermutlich sogar einen doppelten, und dann würde sie sich entscheiden müssen, ob sie seinem Wunsch nachkommen sollte oder nicht. Für diese Route waren Gewitterstürme vorhergesagt worden, und sie war ganz sicher, dass sich der große Mann in Jeans und kariertem Hemd übergeben würde.
(172)
Zunächst finden wir in der Gestalt einer Stewardess eine Figurenperspektive, die ein einziges Mal im gesamten Roman auftaucht. Die Frau ist namenlos und ohne Geschichte. Wir erfahren nicht, wie sie aussieht. Lediglich aus einigen Anmerkungen kann man erschließen, dass sie in ihrem Beruf recht erfahren ist.
Stellenweise nähert sich diese Passage dem inneren Monolog an. Es gibt zwei Gründe, warum dies trotzdem kein reiner innerer Monolog ist. Immer wieder schiebt sich ein Erzähler dazwischen, der nicht aus der Figurenperspektive erzählt, so zum Beispiel, wenn „unwichtige“ Zeiträume übersprungen werden:
Sein Bedienungslicht leuchtete nicht auf, und nach kurzer Zeit vergaß ihn die Stewardess völlig, denn sie hatte bei diesem Flug alle Hände voll zu tun …
(172)
Dies ist kein innerer Monolog und die reine Form des inneren Monologs benutzt King auch nicht. Es gibt allerdings starke Überschneidungen. Ein reiner Monolog wäre nicht so scharf ausgewählt und mehr auf die Darstellung eines Charakters gerichtet, als wir dies hier finden. King dagegen greift auf den inneren Monolog oft nur in der Weise zurück, um einen „objektiven“ Konflikt zu psychologisieren. Er ist also sehr viel stärker an einer spannenden Geschichte orientiert. So kann man dann auch feststellen, dass an der Oberfläche aus der Perspektive einer Figur erzählt wird, dahinter aber ein anderer Erzähler auftaucht, der eben nicht alles schildert, was die Figur wahrnimmt, sondern scharf nach dem auswählt, was für die Geschichte sinnvoll ist, was Atmosphäre, Spannung oder Handlung erzeugt.
Dies habe ich, vielleicht etwas unglücklich, personale Bewusstseinsdarstellung genannt.

Der journalistische Einstieg

Der Abschnitt beginnt mit einem Einstieg, der an den einleitenden Satz einer erzählenden Reportage erinnert:
Um 23:45 Uhr bekommt eine der Stewardessen, die auf dem Flug 41 der United Airlines von Omaha nach Chicago in der 1. Klasse Dienst hat, einen furchtbaren Schreck.
(172)
Dieser Satz hat alles, was ein spannender Einstieg zu einer Reportage braucht. Er informiert präzise über Ort und Zeit des Geschehens; gleichzeitig deutet er aber auch ein wichtiges Ereignis an. Dieses wichtige Ereignis ist ein Konflikt. Die Andeutung geschieht hier über eine Interpretation einer Wahrnehmung, wobei diese Interpretation durch ein unangenehmes Gefühl ausgedrückt wird. Natürlich fragt sich der Leser sofort, warum diese Frau einen Schreck bekommen, warum sie eine Wahrnehmung so interpretiert. Er liest also weiter, um diese Frage beantwortet zu bekommen.

Die erlebte Rede

Eine weitere typische Form ist die erlebte Rede. Diese gehört seltsamerweise laut Stanzel in den Übergang von der personalen zur auktorialen Erzählsituation, eine Zuordnung, die ich mehr als fragwürdig finde. Dieser Übergang ist der Ich-Erzählsituation genau entgegen gesetzt und passt nicht in den stark perspektivischen und psychologischen Erzählstil Stephen Kings. Aber das sind eher theoretische Überlegungen. Schauen wir uns eine konkrete Stelle an:
»Mir geht es ausgezeichnet.« [das sagt Ben Hanscom]
»Sie sahen …« [das sagt die Stewardess]
(tot)
»… ein wenig wettergeschädigt aus.«
»Ich dachte über die Vergangenheit nach«, sagte er. »Mir ist erst heute abend klar geworden, dass ich mich mit diesem Thema nie beschäftigt habe.«
Weitere Rufsignale der Passagiere. »Stewardess!« ruft jemand nervös.
»Nun, wenn alles in Ordnung ist …«
»Ich dachte an einen Damm, den ich einmal mit Freunden gebaut habe«, sagt Ben Hanscom.
(174)
Die erlebte Rede ist durch einen streng durchgehaltenen Dialog gekennzeichnet. Die Einschübe, wie etwa »ruft jemand nervös«, sind bereits Zugeständnisse an den Leser. Solche Zugeständnisse sind für den Unterhaltungsroman typisch. Erinnern wir uns daran, dass viele der Definitionen von Stanzel Idealtypen darstellen, die in ihrer reinen Form nur selten im Roman auftauchen.

Perspektivwechsel

In dem Unterkapitel wird zweimal die Perspektive gewechselt. Das ist für Stephen King eher ungewöhnlich, da er den Perspektivwechsel oft durch ein neues Kapitel oder ein neues Unterkapitel markiert. Beim ersten wird die Perspektive zwischen zwei Figuren gewechselt, von der Nebenfigur zu einer der Hauptfiguren:
Sie eilt zu den anderen Passagieren und ist heilfroh, diesem starren, leblosen, fast hypnotischen Blick zu entkommen. Ben Hanscom schaut aus dem Fenster. Etwa neun Meilen unter dem Flugzeug zucken Blitze in den Gewitterwolken, …
(174)
Kurz darauf gleitet die Erzählung aus der Innenperspektive in die auktoriale Erzählsituation:
Er schließt die Augen. Die Luft ist vom Klingeln der Rufsignale erfüllt. Das Flugzeug schwankt und schlingert, und die Luft schwirrt von den vielen Rufsignalen. Rufsignale? … Nein, Glocken. Es sind Glocken, es ist die Glocke, auf die man das ganze Jahr hindurch wartet, sobald das Neue eines angebrochenen Schuljahres seinen Reiz verloren hat, was gewöhnlich schon nach einer Woche der Fall ist. Die Glocke, die für eine Weile Freiheit verheißt.
Ben Hanscom sitzt in der 1. Klasse, den Kopf dem Fenster zugewandt, mit geschlossenen Augen; über dem Mittelwesten ist soeben ein neuer Tag angebrochen, der 28. Mai 1985 ist soeben vom 29. Mai abgelöst worden, über dem in dieser Nacht so stürmischen Illinois; …
(174 f.)
Der Wechsel in die auktoriale Erzählsituation scheint dadurch motiviert, dass King damit den zeitlichen Wechsel am Ende dieses Unterkapitels einleitet. Sämtliche Kapitel des zweiten Teils beginnen 1985, wechseln aber mit dem zweiten Unterkapitel ins Jahr 1958.

Zusammenfassung

King nutzt in vielen seiner Romane mehrere Figurenperspektiven. Erst in seinem Spätwerk reduziert er diese Vielstimmigkeit (z.B. in Das Mädchen). Zu Beginn eines Perspektivwechsels wird der Leser über den Wechsel orientiert. Dazu gleitet der Erzählsituation entweder in die Auktorialität, den journalistischen Einstieg oder den direkten Bruch durch eine ganz andere Situation und ganz andere anwesende Personen. Oftmals wird dieser Perspektivwechsel zusätzlich durch ein neues Unterkapitel markiert (siehe allerdings den Perspektivwechsel auf Seite 174 mitten in einem Unterkapitel).
Häufige Grundformen sind die personale Bewusstseinsdarstellung und die erlebte Rede. Daneben findet sich, allerdings weitaus seltener, der auktoriale Erzähler. Dieser taucht öfter in einzelnen Sätzen auf, seltener übernimmt er über einen oder mehrere Absätze die Erzählsituation.
Kings Schreibweise ist panoramaartig angelegt. Die Menschen sind aus vielfältigen Gründen in ihrer Lebenssituation gefangen. In gewisser Weise ist die Situation also für sie schon klaustrophobisch, bevor das Monster eintrifft, und in gewisser Weise ist es die Ausnahmesituation durch den übernatürlichen Schrecken, der die Menschen aus ihren sozialen Käfigen ausbrechen lässt. Dadurch bekommt der Horror einen zweideutigen Effekt: auf der einen Seite ist er lebensbedrohend, aber auf der anderen Seite ermöglicht er auch die Befreiung und Selbstverwirklichung.

09.08.2014

Freiheit alleine genügt nicht. oder: Sauhatz mit Reinhard Mohr

Es ist ein altes Spiel. Man sagt das eine (zum Beispiel Kinderarmut oder Chlorhühnchen) und sofort kommt jemand an und schreit: Damit lenkt ihr nur von dem anderen (Menschenrechtsverletzungen in China, Macho-Putin) ab.

Narzissmus und Themenlosigkeit

Zwei Effekte hat diese Strategie. Als allererstes kann man sich sofort besser fühlen und daraufhin, ganz demokratisch und natürlich ohne jegliche Wut, die den Wutbürger so auszeichnet, alles und jeden herunterputzen, der nur jemals nicht begeistert zu einem hinübergeschaut hat. „Putinversteher, Freiheitsverächter, Kabarettprediger, Montagsdemonstranten, Hassblogger, Meinungsagenten und Verschwörungstheoretiker“ — so lärmt Reinhard Mohr daher: HIER.
Der andere Effekt ist ein allgemeiner Schaden. Dadurch, dass jedem Thema ständig ausgewichen wird, indem sofort ein anderes Thema aufgeklappt wird, kommt es zu keiner thematischen Diskussion. Darin ist Mohr tatsächlich so links und zugleich so spießbürgerlich, wie ich es aus so genannten marxistischen Lesegruppen kenne.

Die Verwirrung der Begriffe

Mittlerweile haben sich tatsächlich viele Begriffe so unerträglich verworren, dass man sie nur noch als Reizworte benutzen kann, als Worte, um sich selbst zu einer Gruppe zugehörig zu machen oder von einer Gruppe zu distanzieren. Das ist weder Inklusion, noch politische Diskussion, geschweige denn Aufklärung. Und nehmen wir Aufklärung in ungefähr dem Sinne, den Kant gemeint hat: als die Diskussion von Begriffen, als deren Kritik, wobei Kritik die Reichweite eines Begriffes betrifft und sein Zusammenspiel mit anderen Begriffen.

Autokratie

Was Reinhard Mohr so widerlich macht, zu einem Anti-Demokraten, ist nicht seine Meinung als solche, sondern dass er rhetorisch das macht, was er inhaltlich an den Pranger stellt, so als würde er überhaupt nicht verstehen, was er dort tut. Glückseligkeit, so hatte Aristoteles das einmal formuliert, sei das höchste Gut der Tugend. Es bestünde in der Einheit oder Parallelität von Wort und Tat, womit wohl gemeint ist, dass der Inhalt und die Praxis (des Sprechens) nicht auseinanderklaffen und schon gar nicht, dass sie sich konträr gegenüberstehen. In diesem Sinne ist Mohr ein Mensch der Untugend.
Und so liest sich auch sein ganzer Artikel: was er als Schweinshatz inszeniert, entpuppt sich als Schweinsgalopp durch sämtliche Reizworte des ungebildeten Spießbürgers. Will sagen: Mohr jagt seinem eigenen Schwanz hinterher.

Gender-Politik und Gender-Ethik

Aber bleiben wir konstruktiv. Und nehmen wir ein Beispiel, an dem sich deutlich machen lässt, warum bestimmte Begriffe auf der einen Ebene wunderbar funktionieren und auf der anderen Ebene nicht. Nehmen wir den Begriff des Gender.
Dieser Begriff stammt aus der politischen Philosophie. Die politische Philosophie ist nicht die praktische Politik. Die politische Philosophie zum Beispiel erörtert, was mit Religionsfreiheit gemeint ist. Eine Regierung dagegen hat Gesetze zu erlassen und aufrechtzuerhalten, die diese Religionsfreiheit gewähren. Und eben dort sind wir dann auch bei dem Begriff des Gender. Die politische Philosophie schätzt die Reichweite dieses Begriffes ab. Doch genauso, wie der Begriff der Religionsfreiheit noch nicht dem einzelnen vorschreibt (das wäre ja auch ganz widersinnig), welche Religion er zu wählen hat, so kann der Gender-Begriff nicht normativ in dem Sinne gemeint sein, dass er den einzelnen Menschen vorschreibt, welche Art des Genders sie zu wählen hätten.
Hier handelt es sich eher um eine Grenze, innerhalb derer sich der einzelne Mensch verwirklichen darf. Wie diese Verwirklichung auszusehen hat, wird dann aber nicht von der Politik bestimmt, sondern von der Ethik. Nehmen wir die Ethik in einer ganz klassischen Definition als die Sorge um die eigene Tugend. Niemand wird jede Tugend, die in einer Demokratie möglich ist, verfolgen und verwirklichen können. Der einzelne Mensch muss also auswählen. Die politische Begrenzung von Tugenden und die individuelle Auswahl derselben, die Durchsetzung dieser Begrenzung und die Verwirklichung der Auswahl, das sind alles verschiedene Sachen.
In der Diskussion von Gender finden wir nun diese ganzen unglücksseligen Vermischungen. Mal ist es nur die Gleichberechtigung, mal weitere statistische Nivellierung von Karrieremöglichkeiten, mal ist es die Biologieversessenheit und mal die unendliche Formbarkeit der Frau, weil diese auf ihre Biologie nicht festgelegt sei.

Die Biologie und die Aussagen

Was aber nun bedeutet Gender?
Es bezeichnet das kulturelle Geschlecht. Und dieses wird eben nicht aus der Biologie gebildet, sondern aus Aussagen. Damit wird das biologische Geschlecht nicht abgeschafft. Aber hin und wieder zweifeln eben die Gender-Theoretiker daran, ob eine Aussage sich alleine auf biologische Fakten gründet oder aber gerade der Biologie nicht gehorcht, auch wenn sie es behauptet. Es besteht also ein Misstrauen gegenüber biologischen Aussagen, keineswegs aber die Abschaffung der Biologie oder des biologischen Geschlechts.
Der andere Grund, warum das kulturelle Geschlecht keineswegs das biologische ist, liegt daran, dass die Biologie selbst den Menschen eine Offenheit einschreibt, deren spezifische Festlegung nicht rein aus den grundlegenden biologischen Tatsachen abgeleitet werden kann. Kurz gesagt: das Gehirn ist ein reizverarbeitendes Organ. Reize haben kein Geschlecht und insofern ist das, was das Gehirn macht, geschlechtslos.
Moment! Ganz so einfach ist nicht. Gibt es da nicht die kleinen Unterschiede? Die gibt es. Allerdings ist immer noch nicht so ganz klar, wie die neuronale Struktur uns ermöglicht, Gedanken zu formulieren, die wahlweise vernünftig oder unvernünftig, erhellend oder langweilig sind. Und auch wenn man hier bereits vieles präziser sagen kann, ist der Inhalt eines Gedankens in Bezug auf die Struktur und Arbeitsweise des Gehirns noch lange nicht geklärt. Es mag sein, dass Frauen anders als Männer denken, ganz grundsätzlich und strukturell. Doch lässt sich das nicht deduzieren. Wir müssen einfach mit dieser Unsicherheit leben.
Der andere Grund, warum zum Beispiel eine Trennung des Denkens von Mann und Frau hinterfragt werden kann, liegt schlichtweg in der augenfälligen Tatsache, dass das Denken unterschiedlicher Menschen so unterschiedlich ausfallen kann, dass dahinter eine Geschlechterdifferenz kaum auszumachen ist, wenn überhaupt.
Es ist aber dieses Denken, was den Menschen zu einem politischen Wesen macht, zu einem Wesen, das in Gemeinschaft lebt. Dies kann nicht alleine auf die Biologie zurückgeführt werden. Natürlich kann man vermuten, dass es eine grundsätzliche Anlage des Menschen gibt, sich in Gemeinschaften aufzuhalten. Aber dass es eine Notwendigkeit zu einer bestimmten Gemeinschaft gäbe, lässt sich wiederum nicht genau beweisen. Damit lassen sich solche Bevorzugungen der heterosexuellen Ehe vor der homosexuellen nicht begründen. Wer hier hoffnungsvoll ist, darf durchaus sagen: noch nicht! Und er darf dabei hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Jetzt allerdings ist Jetzt und derzeit ist eine streng wissenschaftliche Ableitung nicht möglich. Aus der statistischen Verteilung umgekehrt, also dem Überwiegen der heterosexuellen Ehe, kann man auf eine Normalität der Heterosexualität schließen, aber keineswegs auf eine Normativität.
Die philosophische Ausprägung der Gender-Theorie fragt also einerseits nach der Konstitution von festen Geschlechts-Identitäten, zum zweiten nach den politischen Grenzen sexueller Wahlfreiheit (und es ist klar, dass es natürlich Grenzen gibt, wie zum Beispiel beim sexuellen Missbrauch) und zum dritten nach dem Zusammenhang des kulturellen Geschlechts und anderen politischen Begriffen.

Normalität und Normativität

Gender Mainstreaming versucht, die Normalität der Heterosexualität zu erweitern um die Normalität anderer sexueller Lebensformen. Es gibt einen guten Grund dafür: Homosexuelle sollten keine Angst haben, homosexuell zu sein. Angstfreiheit und gegenseitiger Respekt, darum geht es!
Die Normativität steht bei der Homosexualität in einer ganz anderen Form infrage. Rein rechtlich gesehen ist (mittlerweile) die Ausübung homosexueller Bedürfnisse (im Privatbereich) zugelassen und unterliegt nicht mehr der staatlichen Regelung. Anders sieht es mit homosexuellen Lebensgemeinschaften aus. Diese sind den heterosexuellen Lebensgemeinschaften nachgestellt. Es ist strittig, ob das Argument, dass Homosexuelle keine Kinder bekommen können, bereits ausreicht, um eine solche rechtliche Ungleichheit zu begründen. Meiner Ansicht nach reicht es nicht aus, da unser Recht ganz deutlich ein Individualrecht ist, während die Begründung mit dem Kinder-bekommen-können den Beigeschmack des mittelalterlichen Lehenrechts bekommt. Dort wurden bestimmte Rechte zweckgebunden vergeben, während das Individualrecht bestimmte Vertragsrechte nur formal regelt (und eventuell steuerlich begünstigt), aber keineswegs inhaltlich an Zwecke bindet, vor allem nicht an Zwecke, neue Individuen herbeizuschaffen.
Wir spielen nicht kollektives Rumpelstilzchen!

Freiheit

Dasselbe geschieht doch Gauck mit seinem Begriff von Freiheit. So einsam, wie der in seinen Aussagen dasteht, wundert es nicht, dass er keinen Halt findet. Gauck präsentiert uns kein Gedankengebäude, schon gar nicht ein argumentativ gut verfugtes, sondern ein Radikal, das nicht auf seinem Energieniveau bestückt ist.

Abwägen

Jetzt bin ich leider selber ein wenig im Schweinsgalopp durch verschiedene Argumentationen und Begriffe galoppiert. Aber zumindest die Vorgehensweise sollte tendenziell klar geworden sein. Statt zu beleidigen sollte man Begriffe abwägen.
Reinhard Mohr wägt keineswegs einzelne Aussagen ab, prüft ihre Berechtigung und argumentiert eventuell, womöglich sogar inhaltlich präzise, dagegen. Meiner Ansicht nach kann er das auch gar nicht. Jenen „zynischen Relativismus, der die Prinzipien der europäischen Aufklärung an den denkbar dümmsten Obskurantismus verrät“, überbietet er mit einem „zynischen Nominalismus, der den denkbar dümmsten Obskurantismus noch überbietet“.

Noch einer für die Liste

Ich habe mir einige weitere Artikel von Reinhard Mohr angesehen und finde nichts, was die Schreibweise dieses Menschen attraktiv macht. Das sind keine scharf geschliffene Argumentationen, keine punktgenauen Angriffe, keine überraschend neuen Tatsachen; nichts an dem, was Reinhard Mohr zu bieten hat, lässt auf Bildung schließen. Es ist ein wirres Geplapper, das sich an dem pejorativen Geist seiner Vokabeln berauscht. Immerhin: Mohr heuchelt gar nichts. Der ist wohl so doof, wie er daher kommt!
Würde er den Kommunismus durch eine gute Argumentation ablehnen, durch eine, die zumindest zum Widerspruch herausfordert, besser aber noch, die Welt neu zu überdenken, vielleicht auch nur ein Stück der Welt, dann würde ich mir einen Widerspruch gegen meine eigene Meinung durchaus gefallen lassen. Schlimmer als die Desinformiertheit ist aber, dass sein Artikel von bohrender Langeweile ist.
Mohr wird also der zweifelhafte Ruhm zuteil, neben Matussek, Joerges oder auch Martenstein auf meiner Liste mit inkompetenten Journalisten seinen Platz zu bekommen.

07.08.2014

Bewusstsein und Sozialisation

Diese Begriffe muss ich, glaube ich, erstmal nicht erklären. Jeder Mensch hat ungefähr eine Vorstellung davon, was Bewusstsein und was Sozialisation ist. Trotzdem ist man immer wieder überrascht, wie anders und neu man diese beiden Begriffe definieren kann. Zum Beispiel:
Wir wollen sagen, dass diese besondere Verzettelung, dieses sich unaufhörlich ereignende Verzetteln exakt das ist, was die Tradition Bewusstsein genannt hat.

Sozialisation … ist … das zettel(zeichen)förmige Erlernen von Lärmausnutzungsmöglichkeiten.
Fuchs, Peter: Die Psyche. Weilerswist 2005, 70 f.

Willkommen bei Scientology

Dass der Mensch nur 10 % seines geistigen Potentials benutzt, dieser Spruch lacht mich zur Zeit von vielen Litfasssäulen an. Angeblich von Albert Einstein einmal in die Welt gesetzt, ist er längst von ominösen Sekten und Weltverbesserern usurpiert worden.
Gewonnen wurde dieser Spruch an den Querschnitten, die punktuell vom Gehirn angefertigt werden und die immer bestimmte Zonen in großer Aktivität zeigen, während andere „passiv“ bleiben. Doch diese Schlussfolgerung ist aus mehreren Gründen falsch.
(1) Was als Aktivität des Gehirns gemessen wird, ist der Energieverbrauch. Das geistige Potential bezieht sich aber auf den Inhalt des Denkens. Ob und wie dieser Inhalt kraftvoll ist, lässt sich vom Energieverbrauch überhaupt nicht deduzieren. Beim Betrachten eines Picasso wird der kleinbürgerliche Stümper dem klugen Kunstliebhaber wohl kaum ein anderes Energieniveau entgegensetzen. Für den Neurophysiologen nivelliert sich das Expertentum auf die gleichen farbigen Flecken.
(2) Die erste Aufgabe des Gehirns ist es, die Wachheit zu regulieren. Wachheit wird verstanden als die Auswahl bestimmter Hirnfunktionen. Sie ist damit ein Differenzbegriff. Wachheit besteht nicht aus Feldern mit hoher Aktivität, sondern aus der Differenz zu jenen, die eine niedrige Aktivität zeigen. Würden alle mit dem gleichen Verbrauch zusammenarbeiten, würde das Gehirn wohl zu viele konkurrierende Reize produzieren und damit das, worauf sich esoterische Sekten so gut verstehen: dem Brei des Denkens.
(3) Schließlich aber ist es das Gehirn, dass das Bewusstsein produziert, nicht umgekehrt. Nicht wir benutzen nur 10 % unseres geistigen Potentials, sondern unser geistiges Potential benutzt nur 10 % von uns. Darüber sollte man nachdenken.

Die Plakate bewerben den neuen Film von Luc Besson, Lucy, ein Riesen-Actionspaß ohne Sinn und Verstand (so die etwas freie Übersetzung einer amerikanischen Rezension), also die perfekte Werbung für Scientology.

04.08.2014

Minima Moralia — ein Theater der Imperative

Sollte ich heute erzählen, was ich alles gelesen haben, würde ich wohl den einen oder anderen neidisch machen.

Provokation auf hohem Niveau

Ein paar der schmalen Bändchen von Sloterdijk waren darunter. Dazu hat mich neulich eine nette Zuschrift bewogen, die ich allerdings inhaltlich ablehnen musste. Betreffender Mensch fand sich geistreich, als er den Vortrag Menschenpark schmähte, dabei hatte dort Sloterdijk vor allem darauf hingewiesen, dass der Züchtungsgedanke, auch der der Selbstzüchtung, keineswegs neu ist. Nicht bei der damaligen Debatte keineswegs verwundert, dass die lautesten Gegenstimmen aus dem Lager kamen, die im Zweifelsfall zum Wohle der Menschen die normativsten Ideen auspacken. Und auch jetzt gefallen mir diese kleinen Schriften wieder ausgesprochen gut. Ich finde sie anregend. Sloterdijk provoziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich gefügige Leser wünscht. Aber er provoziert auf hohem Niveau. Mir gefällt auch, dass seine Bücher Kabinette von Raritäten und Bizarrerien sind, zu Autoren und Zitaten, die einem noch nie untergekommen sind.

Andere Themen

Vor anderthalb Jahren wollte ich mir Judith Butler zur Einführung kaufen. Es war vergriffen. Gestern habe ich es dann zufällig in einer Buchhandlung entdeckt. Jetzt habe ich es gelesen.

Und zwischendurch etwas ganz anderes: Mathematischer Anfangsunterricht in der Grundschule. Dieses Werk lese ich seit mehreren Jahren immer wieder und mache mir zu einzelnen Passagen meine Gedanken. Solche Abschnitte, die mich immer und immer wieder zum Neu-lesen reizen, nenne ich Nester.

Exerzierplatz: Minima Moralia

Adorno. Auch den lese ich, seit einigen Jahren, immer wieder. Unter anderem die Minima Moralia. Was ich bisher noch nicht geschafft habe, aber das ändere ich gerade, ist eine Analyse der Methoden Adornos. So fern sich diese beiden Denker auch sind, so fruchtbar finde ich im Moment, sie zusammenzubringen. Ich lese Adorno durch die Augen Wittgensteins, also in Form von Sprachspielen.
Adornos Duktus ist streng, fast befehlend. Manchmal fühlt man sich an Schiller erinnert. Von Schiller sagte Novalis, dass man ihn, bzw. eins seiner Theaterstücke, in einzelne Zeile zerschneiden können und habe dann 2000 Sprüche für den Stammtisch. Genau so ergeht es mir mit Adorno. Er formuliert Sätze, die in sich geschlossen sind, so als müssten sie alleine stehen. Und weniger sind seine Sätze Beschreibungen, als Aufforderungen, den konstruierten Zusammenhang genau so zu sehen, wie Adorno das haben möchte. Schon vor Tagen habe ich das als Theater der Imperative bezeichnet. Es ist allerdings eher ein Exerzierplatz der Imperative. Die Imperative werden aufgerufen, ihre kleinen Gymnastiken vorzuführen.

Gefüge der Hoffnungslosigkeit

Nehmen wir gleich den ersten Satz, und jenes Fragment, das mit ›Für Marcel Proust.‹ betitelt ist:
Der Sohn wohlhabender Eltern, der, gleichgültig ob aus Talent oder Schwäche, einen sogenannten intellektuellen Beruf, als Künstler oder Gelehrter, ergreift, hat es unter denen, die den degoutanten Namen des Kollegen tragen, besonders schwer.
Der Hauptsatz: eine Passiv-Konstruktion. Zudem ein Zustand. Die beiden Nebensätze, beides Spezifizierungen, sind indirekt. Der Beruf wird nur so genannt, die Intellektualität ist scheinbar, nicht wirklich. Und die Kollegen sind keine Kollegen, sondern sie tragen nur den Namen.
Alles wird auf Distanz gehalten, bleibt undeutlich. Dazu gehört auch, dass Adornos Text keine sinnlichen Eindrücke kennt, nicht rot und blau, nicht heiß und kalt, nicht feucht oder trocken, es sei denn als Metapher. Und doch kommen die Sätze despotisch daher. Schlag auf Schlag und Satz um Satz wird in jedem Fragment ein Gefüge der Hoffnungslosigkeit umrissen. So schreibt Adorno auch in der Zueignung:
Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muss dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins verborgenste bestimmen. Redet man unmittelbar vom Unmittelbaren, so verhält man kaum sich anders als jene Romanschreiber, die ihre Marionetten wie mit billigem Schmuck mit den Indikationen der Leidenschaft von ehedem behängen, und Personen, die nichts mehr sind als Bestandstücke der Maschinerie, handeln lassen, als ob sie überhaupt noch als Subjekte handeln könnten, und als ob von ihrem Handeln etwas abhinge. Der Blick aufs Leben ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, dass es keines mehr gibt.