18.03.2018

Konsumphilosophie

Die Zeit online beklagt, dass es zwar recht viele ausgebildete Philosophen in Deutschland gäbe, aber die durchschnittliche Leseranzahl für einen philosophischen Artikel bei 2-3 läge. Das ist nicht verwunderlich.
Verwunderlich dagegen ist die Reaktion all dieser gemeinen Leserinnen und Leser. Sie behaupten, die Philosophie würde im Elfenbeinturm sitzen. Man würde dort unverständlich schreiben. Usw.
Aber was erwarten die Menschen? Habe ich Kant beim ersten Lesen verstanden? Nein, habe ich nicht. Ich bezweifle, ob ich ihn heute in Grundzügen verstanden habe. Mir würde das etwas ausmachen, wenn ich nicht den Begriff des Verstehens ablehnen würde. Ich arbeite lieber mit Büchern.
Genau das aber ist das Problem all dieser Leser. Und vielleicht auch das Problem der modernen Philosophen. Ein Philosophiebuch ist nicht dazu da, dass es, auch bei reiflicher Kritik, ein für alle Mal überwunden wird. Tatsächlich gibt es natürlich viele Aspekte an Kant, die ihn altbacken und unmodern machen. Vieles hat er nicht bedacht. Vieles konnte er nicht bedenken. Und trotzdem ist es eben ein Werk, das zu lesen sich lohnt. An dem man Jahre herumsitzen kann. Über dessen Sätze man brüten darf.
Unverständlichkeit ist relativ. Und wer sich mit solch hanebüchenen Sätzen und Vorwürfen auf Facebook verbreitet, hat sich mit Sicherheit noch nicht intensiv mit einem der klassischen Philosophen auseinandergesetzt. Mitdenken und selbst denken wird einem durch ein philosophisches Buch nicht erspart. Genau das ist doch der Reiz daran.
Wie Michel Foucault einmal gesagt hat: Ich denke gerne.
Im Übrigen steht es mit der deutschen Philosophie längst nicht so schlecht. Ich erinnere an Sybille Krämer. Ich erinnere an Sigrid Weigel. Ich erinnere an Rahel Jaeggi. Unter anderem. Da hat man dann auch gleich Diskursanalyse, Medienanthropologie und politische Philosophie. Also ein ganzes Spektrum. Nein, ganz so schlecht steht es mit der deutschen Philosophie tatsächlich nicht, finde ich.

Disziplin und Kultur

Die Immanuel-Kant-Stiftung steht der AfD nahe. Es wäre vielleicht ganz hilfreich, wenn die AfD, statt sich mit Namen zu schmücken, unseren alten Königsberger Philosophen auch mal lesen würde (was allerdings nicht heißt, dass jetzt alle Menschen, die der AfD nicht nahe stehen, auf Kant verzichten dürfen).
Kant schreibt in seiner Kritik der reinen Vernunft:
Wo aber die Schranken unserer möglichen Erkenntnis sehr enge, der Anreiz zum Urteilen groß, der Schein, der sich darbietet, sehr betrüglich, und der Nachteil aus dem Irrtum erheblich ist, da hat das Negative der Unterweisung, welches bloß dazu dient, um uns vor Irrtümer zu verwahren, noch mehr Wichtigkeit, als manche positive Belehrung, dadurch unser Erkenntnis Zuwachs bekommen könnte. Man nennet den Zwang, wodurch der beständige Hang, von gewissen Regeln abzuweichen, eingeschränkt, und endlich vertilget wird, die Disziplin. Sie ist von der Kultur unterschieden, welche bloß eine Fertigkeit verschaffen soll, ohne eine andere, schon vorhandene, dagegen aufzuheben. Zu der Bildung eines Talents, welches schon vor sich selbst einen Antrieb zur Äußerung hat, wird also die Disziplin einen negativen, die Kultur aber und Doktrin einen positiven Beitrag leisten. (B 737 | A 709)

11.03.2018

Schwächen bei der Ausführung der Subtraktion

Ein Thema, das mich im Moment stark beschäftigt, sind die Unsicherheiten der Schüler bei der Subtraktion. Seit November sitze ich daran, lese und forsche. Ihr habt davon nicht sonderlich viel mitbekommen. Es ist ein weit gespanntes, der scheinbaren Einfachheit des Ergebnisses nicht offensichtliches Thema. Ich fühle mich an den Satz von Lacan erinnert, dass das Ärgerliche an einem Symptom sei, dass ein so dummes Ding einen solch intellektuellen Aufwand erfordert.

Zur Norm: Operationalisierung

Folgt man einer Einsicht der Kognitionspsychologie, dann ist ein intellektueller Sachverhalt dann besonders gut verstanden, wenn die darin enthaltene Transformation begriffen und in beide Richtungen ausgeführt werden kann. Für die Mathematik, bzw. das Rechnenlernen heißt das zum Beispiel, dass eine Menge einer Zahl und eine Zahl einer Menge zugeordnet werden kann, bzw. das zu einer Zahl eine Menge „konstruiert“ (also gelegt oder gemalt) werden kann, bzw. eine Menge benannt wird.
Beim Rechnen im Hunderterraum bedeutet das, dass sowohl die Addition wie die Subtraktion flüssig ausgeführt werden können und ineinander überführt werden. Der Zusammenhang muss begriffen sein. Deshalb sind sogenannte Umkehr- und Tauschaufgaben so wichtig.

Umkehr- und Tauschaufgaben

Zur Erklärung: nehmen wir die einfache Aufgabe 5 + 7 = 12. Die Tauschaufgabe dazu ist 7 + 5 = 12. Sie beruht auf dem Kommutativgesetz. Die erste Umkehraufgabe lautet 12 - 5 = 7, die zweite 12 - 7 = 5.
Für die Schüler ist das nicht immer so einfach zu begreifen. Es gibt zum Beispiel Kinder, die die Handlung des Dazulegens und Wegnehmens wie selbstverständlich ausführen, aber die Verbindung zu den symbolischen Anordnungen (also den einzelnen Rechnungen in symbolischer Form) nicht mit derselben Austauschbarkeit in Bezug bringen. Die handlungspraktische Analogie wird im Einzelfall, aber nicht verallgemeinert übertragen. Und in dem Moment, in dem ich mit dem Schüler die Rechnung anhand von Klötzchen nachvollziehe, ist die Verbindung da, aber sobald die Klötzchen weggelassen werden, verschwindet auch die Verbindung.
Ein Stolperstein bei den Tauschaufgaben ist auch, dass die Austauschbarkeit bei der Addition über das Rechenzeichen hinweg geschieht, bei der Subtraktion über das Gleichheitszeichen. Ich habe aber immer noch Kinder in der Klasse, die Umkehraufgabe (trotz farbliche Markierung, trotz ritueller Wiederholung, dass die größte Zahl bei der Subtraktion zuerst stehen muss) mit 5 - 7 = 12 zu lösen versuchen.
Soweit also das Vorgeplänkel.

Regeln

Eine Zeit lang habe ich dieses Problem durch Ritualisierung der Aufgaben zu lösen versucht. Dies hat aber nur halbherzig gefruchtet. Bei der Subtraktion im Tausenderbereich stehe ich wieder vor dem selben Problem. Vermehrt durch Unsicherheiten beim Stellenwert (so hat mir ein Schüler eine Hunderterzahl trotz wiederholter Übung rückwärts zergliedert, also die Einer zum Beginn und den Hunderter zum Ende gesetzt).
Parallel dazu beobachte ich die Leistungen der Kinder beim freien Schreiben. Hier finden sich - zum Teil - große Unsicherheiten bei der Gliederung in Sätze. Und auch wenn es hier keinen eindeutigen Zusammenhang gibt, so doch ein deutliches Zusammentreffen mit den Problemen bei der Subtraktion.
Scheinbar ist die Gliederung von Sätzen und die Einhaltung von (relativ abstrakten) Regeln eng miteinander verbunden.

Kategorisieren

Ein anderer Bereich, den ich verstärkt beobachte, ist die Bildung von Kategorien. Hier gibt es zwei Arten von Kategorien, einmal die handlungspraktischen, die sich über situative Zusammenhänge bildet. Dazu gehören dann solche Wortfelder wie „Bauernhof“, „Feuerwehr“ oder „Schmetterlingsfarm“. Die aspektiven Kategorien gliedern sich nach Merkmalen von mehr oder weniger großer Abstraktheit. Dies sind dann zum Beispiel alle Tiere, deren junges Stadium eine Raupenform beinhalten, alle Pflanzen mit Zwiebeln, oder alle Stoffe, bei denen wir ein flüssiges und ein festes Stadium kennen. Die Abstraktion kann hintergründige und hochwissenschaftliche Formen annehmen, wie etwa alle Stoffe mit einer Ketongruppe oder alle Texte mit einer dialogischen Form des Perspektivwechsels (wie zum Beispiel Hemingways Der alte Mann und das Meer).
Das Verstehen des Zahlenraums ist nun nur teilweise handlungspraktisch möglich, und insofern man über den Tausenderraum deutlich hinausgeht, oft auch nur noch unter erheblichem Materialaufwand möglich. Man muss sich als Lehrer also darauf verlassen, dass die Kategorisierung nach und nach von der handlungspraktischen Situation in die abstrahierende Vorstellung hinübergleitet.

Der verbundene Text

Auch hier gibt es beim freien Schreiben eine Analogie. Manche Kinder schreiben Texte, die einfach Satz für Satz aneinanderreihen, ohne eine richtige Verbindung herzustellen. Man könnte die einzelnen Sätze gut auch einzeln stehen lassen. Der Text ist dann nur materiell verbunden, weil die Sätze eher zufällig nebeneinanderstehen. Da ich in den Wochenfragen immer ein Thema vorgeben, gibt es natürlich auch das Thema als verbindendes Moment. Doch auch hier wären die Sätze in ihrer Reihenfolge eher beliebig.
Bei „kompetenteren“ Schreibern dagegen merkt man, dass Texte eine Art Hintergrundordnung gewinnen, die die Sätze über ein oberflächliches Thema und ihr räumliches Nebeneinander verbinden. Sie bekommen dadurch mehr Tiefe, eine feinere Ordnung und eine strengere Logik.
Meine Fantasie geht nun dahin, dass diese hintergründige Ordnung auch dazu beiträgt, einzelne Bereiche besser gegeneinander abzugrenzen und ihnen somit ihre eigenen Regeln zu belassen. In der Beherrschung des Zahlenraums merkt man dies zum Beispiel daran, dass das Vergleichen von Zahlen und das Operieren mit Zahlen erst über die Trennung verbindend ist. Man vergleicht und ordnet Zahlen nämlich vom größten Stellenwert her, während Operationen vom kleinsten Stellenwert her ausgeführt werden. Wer diese beiden Bereiche nicht trennen kann (unter anderem auch, weil der Zahlenraum nicht genügend imaginiert werden kann), wirft die Reihenfolge auch mal gerne durcheinander. Dies ist mir passiert, obwohl ich deutlich darauf hingewiesen habe, dass wir hier unterschiedlich vorgehen, und auch obwohl ich unseren Merksatz dazu von meinen „Spezialisten“ habe wiederholen lassen.

Semantische Ordner

Hinter all diesen Phänomenen tauchen die semantischen Ordner auf: damit bezeichne ich unbewusste, latente, vorbewusste, zum Teil aber auch gut beherrschte und vollständig bewusste Kategorien, die das ganze Weltbild strukturieren und stabilisieren. Diese zielen also nicht mehr auf einzelne Bereiche, sondern auf die Ordnung des Ganzen, auch wenn sie als einzelne Bereiche erscheinen.
Dabei ist ein wichtiger Aspekt dieser Ordner ihre Abgrenzung, bzw. ihre Fähigkeit, ein Gebiet gegen andere Gebiete zu begrenzen. An dessen Wurzel liegt die Negation, und wenn man dies auf die Entwicklungspsychologie, bzw. auf die Kinderentwicklung überträgt, die Trotzphase.

Die Trotzphase

So unangenehm die Trotzphase für manche Eltern ist, so peinlich sie werden kann, wenn der Trotz des Kindes in der Öffentlichkeit ausgetragen wird, so wichtig ist diese für die kognitive Entwicklung des Kindes. Es scheint nämlich so, als würde das Kind über das Ausagieren nach und nach das „Nein“ als semantische Komponente im eigenen Denken verankern. Auch wenn dies dann zunächst noch sehr roh ausgeführt wird, folgt danach in der Entwicklung eine stärkere Beschränkung auf das Rollenspiel und dann auf regelgeleitete Spiele, während sich gleichzeitig der Satz mit der Handlung als ordnendem Kern gegenüber der reihenden Assoziation durchsetzt.
Die Handlung ist dabei zwar noch sehr materiell, sehr konkret, aber sie ist zugleich in der Lage, den Satzteilen unterschiedliche Rollen zuzuweisen. Diese Rollen sind wiederum relativ abstrakt. Sie können gegeneinander ausgetauscht werden: zunächst auch wiederum sehr materiell, ob man nämlich das Bild der Mutter oder der Erzieherin schenkt, ob man die Blume lieber rot oder blau malt, usw. Doch nach und nach schleichen sich dann immer weitere, feinere und von der Situation weiter entfernte Kategorien ein.
So scheint die Trotzphase zwar nicht die einzige Bedingung für erfolgreiche Kategorisierungen zu sein, aber doch eine recht notwendige und grundlegende.

Muster

Bedenkt man nun, dass sich Muster auf verschiedenen Ebenen bilden können, und analysiert man, wie viele Muster ein gelungener Text enthält, so beruht das erfolgreiche Schreiben eines zusammenhängenden Textes auf der Verknüpfung zahlreicher oberflächlicher und hintergründiger Muster (z.B. oberflächlich die grundlegenden Satzmuster, hintergründig die narrative(n) Logik(en)), ist also intellektuell gesehen eine enorme Leistung.
Wenn bereits oberflächliche Kategorisierungen unsicher sind, können weder relativ konkrete Texte (Welches Hobby hast du? Erzähle oder begründe.) noch stark abstrakte Texte (so etwa der Zahlenraum) durchgängig gegliedert werden.

Kognitive Teilleistungen und Imagination

Damit ist in etwa mein derzeitiger Forschungs- und Denkraum umrissen.
Ich verbinde also die Themen nicht auf der Ebene ihrer Disziplinen, sondern der dahinterliegenden kognitiven Teilleistungen. Eine Lernschwäche ist demnach auch nicht an ein oberflächliches Üben gebunden, sondern muss stützende, benachbarte Übungsfelder erschließen. So sehe ich das Schreiben freier Texte nicht als unabhängig von den mathematischen Kompetenzen, sondern zum Teil direkt auf diese bezogen.
Hier müsste ich nun genauer auf die Vorstellungsbildung eingehen, auf die Imagination. Ein weiterer wichtiger Teilaspekt von Rechenschwächen, bzw. Unsicherheiten beim Erwerb Zahlenraums ist die Verbindung der Imagination mit der Versprachlichung, bzw. allgemeiner mit der Symbolisierung. Da dieses Gebiet aber weitläufig und deshalb auch schwer zu durchdringen ist, habe ich es hier weggelassen. Es müsste eigentlich das zentrale Thema sein. Aber trotz jahrelanger Beschäftigung scheue ich mich davor, hier allzu eindeutige Aussagen zu machen. Die Entwicklung von Vorstellungsbildern, schließlich der konstruktive und kreative Entwurf eigener Vorstellungen (die „Fantasie“), ist selbst ein Feld, das vom Forscher sehr viel Flexibilität und Einbildungskraft abverlangt.

Nachhaltiges Lernen

Im Rahmenlehrplan der Mathematik der Berliner Schulen findet sich folgende Aussage:
Damit werden die Grundlagen für strukturiertes Denken für die lebenslange Auseinandersetzung mit mathematischen Anforderungen des täglichen Lebens und der Berufswelt gelegt sowie Anknüpfungspunkte für weiteres, nachhaltiges Lernen im Fach Mathematik geschaffen. (Seite 3)
An diesem Satz (und seinem Kontext) habe ich jetzt einige Tage gearbeitet. Der eine Schwerpunkt lag im Begriff „strukturiertes Denken“, der andere im „nachhaltigen Lernen“.

Nachhaltiges Lernen

Tatsächlich ist nachhaltiges Lernen eine recht eigenwillige Vokabel. Mehrmals habe ich Passagen gefunden, in denen dieser Begriff vor allem eine Aufhübschung einer eher oberflächlichen Sichtweise bewirkt.
Recht fundiert dagegen erscheint mir folgende Definition aus einer Lehrerfortbildung zum evangelischen Religionsunterricht am Gymnasium:
Ein Lernen ist nachhaltig, wenn Wissen in seinen unterschiedlichen Formen im Langzeitgedächtnis verankert ist und bei der Bewältigung von unterschiedlichen Herausforderungen im Alltag verlässlich zur Verfügung steht.
Hier finden sich wiederum zwei Lernprinzipien, um die ich mir in den letzten Jahren vielfach Gedanken gemacht habe: das Transmedialisieren und das Überautomatisieren.

Überautomatisieren

Beginnen wir mit dem Letzteren. Tatsächlich kann man die Überautomatisierung mit dem nachhaltigen Lernen in eins setzen.
Die Idee hinter der Überautomatisierung ist folgende: ein Modell wird so lange geübt, bis es über den Zustand schmerzhafter Langeweile hinaus abgearbeitet worden ist. Dabei wird das Modell in die Denkstrukturen übernommen. Es ist nicht mehr ein Objekt, welches man interpretiert, sondern selbst ein Werkzeug der Interpretation geworden. Kürzer und knapper: das interpretierte Muster wird zu einem interpretierenden Muster.
Nachhaltig kann man solche Muster wahrscheinlich deshalb nennen, weil sie zu einem Teil des Weltbildes werden, bzw. weil sie notwendig geworden sind, die Welt, so wie sie dem Betrachter erscheint, zu stabilisieren. Das interpretierende Muster bietet Dauer und Verlässlichkeit und kann deshalb nicht mehr so einfach überwunden werden.

Transmedialisieren

Direkt damit zusammen hängt das Transmedialisieren. Damit bezeichne ich die Übersetzung eines Musters in ein anderes Medium, bzw. die Abbildung (wenn man einen mathematischen Begriff benutzen möchte) oder, sofern die Übersetzung in beide Richtungen flüssig geworden ist, die Operationalisierung.
In der Mathematikdidaktik wird dies als mathematisches Modellieren thematisiert. Dabei ist das eine Medium die mathematische Sprache, das andere ein außermathematischer, aber mathematisierbarer Sachverhalt. Modellieren bedeutet, ein Modell in die Umwelt hineinzusehen oder aus ihr herauszulesen. So lernen schon Kinder in der Vorschule, dass das Zusammenschieben von Bauklötzchen sich durch die Sprache direkt verbalisieren lässt: zwei Bauklötzchen und drei Bauklötzchen ergibt fünf Bauklötzchen. Die konkrete Handlung wird dabei mit Signalwörtern versehen.
Später wird diese Transmedialisierung komplexer. So kann man Additionen und Subtraktionen in fast jedem Sachverhalt wiederfinden. Jegliche Wiederholung lädt dazu ein, Multiplikationen oder Divisionen zu entwickeln. Und alles, was mit Nachbarschaften und gerichteten Bewegungen zu tun hat, reizt die geometrische Fantasie. Dabei ist allerdings die Übertragung in mathematische Bereiche nur eine Form der Übersetzung. Die vielfältige Anwendung von Modellen in allen möglichen Medien und Disziplinen offenbart die Leistungsfähigkeit und Begrenztheit von Modellen. Nicht überall sind Additionen angebracht, und manchmal kann man zwar addieren, aber auf höhere, verkürzte Schreibweisen (zum Beispiel die Multiplikation) zurückgreifen.
Was ich also hier mit dem Wortungetüm Transmedialisierung bezeichne, kann man auch als vernetztes Wissen verstehen. Der einzige Vorteil, den mein Begriff bietet, ist der, die Handlung und ihre Bedingungen stärker in den Mittelpunkt zu stellen. Notwendig sind zwei verschiedene Medien (oder: zwei verschiedene Sprachen) und eine Übersetzung aus der einen in die andere Sprache.

Zum Problem der Qualität

Neben den Prinzipien wird oft ein qualitativer Unterschied eingefordert. Meine Erfahrung mit dem nachhaltigen Lernen ist allerdings, dass die Bestimmung ihrer Qualität subjektiv nicht nachvollzogen werden kann, bis man sie sich subjektiv erarbeitet hat. Die Idee, dass sich die Qualität nachhaltigen Lernens von außen bestimmen ließe, wird damit ausgeschlossen. Nachhaltiges Lernen ist ein Glücksmoment innerer Wandlung.
Bei der Überautomatisierung kann man regelmäßig feststellen, dass diese gerade nicht zu einheitlichen, sondern zu sehr verschiedenen Erfahrungen und damit auch zu sehr verschiedenen Verwendungen führt. Das vielfältige Üben ist damit nicht normgeleitet, sondern differenzierend und in gewisser Weise „kreativ“.

Die Individualisierung der Mathematik

Dieser Gedanke beschäftigt mich außerordentlich. Die Mathematik besteht in der Grundschule vor allem darin, eine streng normierte, formale Sprache zu erlernen. Seltsamerweise aber wird diese Sprache sehr unterschiedlich übernommen. Auf ihrer Rückseite, jenseits der Formalität, entzünden sich vielfältige Gedanken, kognitive Umwege, gestalterische Freiheiten. Kein Kind erlernt die Rechenwege auf die gleiche Art und Weise. Aber wo es sie gut, geradezu blind beherrscht, entstehen vielfältige, teilweise grandiose Einfälle; sie überschreiten das simple Rechnen-Können und dehnen sich in vage, noch wenig erarbeitete Gebiete aus.
Auch mir ergeht es im Moment so. Obwohl ich die mathematischen Inhalte der ersten zehn Klassen noch immer mit großer Leichtigkeit beherrsche, finde ich bereits in der zweiten Klasse vielfältige Gedanken, die ich so bisher noch nicht bewusst gedacht habe. Dabei liegt manches abseits des üblichen Rechnenlernens. Anderes wiederum entdeckt die Mathematisierbarkeit der Balkongestaltung, des Autobahnstaus oder des Fragenstellens. Plötzlich tauchen hinter den alltäglichsten, lange als selbstverständlich hingenommenen Phänomenen mathematische Fragestellungen auf.
Und ich erinnere mich gut daran, wie zum Beispiel das Rubikonmodell alle meine Ideen zum konstruktiven, entlang eines Planes ausgeführten Schreibens tüchtig durcheinander gewirbelt hat. Eine Zeit lang hatte ich an jede Erscheinung in meiner Umwelt genau diese Idee des vierstufigen Motivationsprozesses herangetragen. Und im Moment sind es die mathematischen Inhalte, die mich einen ganz neuen Blick lehren. Nichts davon ist allerdings allgemeingültig. Und so individualisiert sich die Mathematik, indem ich mit ihr Erfahrungen sammle.

Mathematische Erfahrungen

Entgegen der landläufigen Meinung, man würde Erfahrungen in der Welt machen, schreibt Kant, dass Erfahrungen immer Erfahrungen mit Begriffen sind. Der Begriff ist ein mentales Konstrukt, eine Abstraktionsleistung. Die Erfahrung reflektiert in gewisser Weise diese individuellen Konstrukte, bestätigt diese oder weist sie zurück. Und im gesamten Prozess von Bestätigung und Zurückweisung wird die Grenze eines Begriffes ausgelotet.
So bleibt zum Ende zu sagen, dass die Lust an der Mathematisierbarkeit nicht zu einer Vorherrschaft der Zahlen führt, sondern zu einem Spiel mit der Reichweite und damit der Kreativität mathematischer Formeln. Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass die formale Strenge der Funktionen und Gleichungen besonders deutlich macht, wann dieses Modell nicht mehr greift, bzw. wann die Mathematik mehr interpretiert, sondern interpretiert werden muss. Und vielleicht ist das der Vorteil der Mathematik: das an ihr das Spiel der Übersetzung, der Abbildung, der Transmedialisierung besonders deutlich wird und dadurch der Reflexion auch in besonderem Maße zugänglich.

04.03.2018

Deutlich gruselig: Vernichtende Kritiken der gender studies

Mathematikdidaktik: das ist eigentlich mein Thema. Und doch läuft mir gerade ein anderes, älteres, irgendwie immer noch nicht abgehaktes Thema über den Weg. So, wie eben die Mathematik aus Zeichen besteht, so ist auch die Rede über Geschlechter auch ein Gebrauch von Zeichen. Die Basis bleibt wohl gleich und legitimiert die Verbindung.

Gender Mainstreaming

Stefan Sasse gewährt Wolf-Dieter Busch Raum auf seinem Blog deliberation daily zum Thema gender Mainstreaming. Auch das erzeugte bei mir Kopfschütteln. Nicht die Tatsache, dass Sasse einem Gastautor dieses Thema zugesteht, aber der Inhalt. Das beginnt schon mit dem ersten Satz:
Die gegenwärtige Politik ist geprägt vom gender Mainstreaming.
Ehrlich? Die einzigen, die dies ständig auf den Tisch bringen, sind doch die AfDler: Im Parteiprogramm der AfD taucht dieses Thema umfangreicher auf als das Thema Familie, während das Thema Familie bei den Grünen einen breiten Raum einnimmt, aber das gender mainstreaming in einem Halbsatz abgehandelt wird. Es ist doch ein Thema am Rande.
Das zweite Problem dieses Artikels sind solche Aussagen wie:
Den Ausgangspunkt bildet Anfang der 1970 er Jahre die Frauenrechtsbewegung …
Auch das ist keineswegs richtig. Hier gibt es sehr viel mehr „Ursprünge“, angefangen beim Konstruktionismus eines Immanuel Kant, oder zum Beispiel aus der „strukturalen Psychoanalyse“ eines Jacques Lacan (der aber auch - irgendwie - von Kant herkommt).
Busch kritisiert den Reduktionismus, mit dem die gender studies auftreten. Das ist in gewisser Weise richtig. Auch ich habe geschrieben, bereits vor langer Zeit, dass die gender studies sich noch nicht dem Problem der Biologie gestellt haben. Obwohl auch das eine kolossale Verkürzung ist. Das Problem allerdings ist auch, dass sich die Biologen noch nie dem Problem gesellschaftlicher Attribuierungsprozesse gestellt haben. Und wenn man es dann tatsächlich auch noch mit so einem akademischen Mäuschen zu tun hat, das weder von dem einen noch von dem anderen mehr als eine oberflächliche Ahnung hat, aber meint, sich durch lautstarke Forderungen selbst befreien und in die passende Position hieven zu müssen, dann ist tatsächlich Hopfen und Malz, Blau und Rosa verloren. Dann trifft tatsächlich der Pro-Stammtisch auf den Contra-Stammtisch: und dabei entsteht nichts Sinnvolles und nichts Intelligentes.

Körperlicher Ordner

Um es noch einmal genauer zu sagen: der Körper, der eigene und der der sichtbaren Menschen, ist ein starker Ordner von Zeichenprozessen. Aber die Zeichenprozesse selbst sind nicht kausal durch solche Ordner geprägt. Es gibt also keine Notwendigkeit, sondern eine gewisse Beliebigkeit. Welche Moral man daraus ziehen soll, ist wiederum damit nicht gesagt. Unsere Gesellschaft macht es nun möglich, sich auf der einen Seite den eher körperlichen Ordnern hinzugeben, oder eher den Zeichenprozessen. Besonders eindrücklich wird dies auf manchen Plakaten für Homosexuellen-Partys. Da finden wir auf der einen Seite den fast nackten Muskelmann und daneben die mit allen Zeichen weiblicher Mode ausgestattete „Tunte“, den scheinbar natürlichen, nackten Körper und die aus modischen Signifikanten zusammengekünstelte Konfiguration.
Allerdings zeigen solche Plakate auch, dass hier übergeordnete Zeichenprozesse die Regie übernehmen. Die Diskrepanz zwischen den beiden Erscheinungen wird zur Einheit verschmolzen. Selbst Neonazi-Aufmärsche verschmelzen die Zeichen der rechtsradikalen Mode mit einer Quasi-Natürlichkeit. Was sich hier als Männlichkeit zur Schau stellt, ist im wesentlichen ein Gefüge aus Kleidungsstücken und symbolischen Gesten und damit keineswegs Biologie: der Körper muss nur die grundlegende Möglichkeit bieten, Kleidungsstücke tragen und die Gliedmaßen auf verschiedene Art und Weise verrenken zu können.
Damit ist aber auch klar, dass wir Biologie immer in Zeichen und in Zeichenprozessen interpretieren (müssen). Ein wichtiger Bestandteil der modernen Sprachphilosophie und Linguistik besteht in Bezug auf die Biologie gerade auch darin, die Eigenständigkeit dieser Zeichenprozesse auch im Fach Biologie zu verdeutlichen und hier auf „unbiologische“ Einflüsse innerhalb dieser Wissenschaft hinzuweisen. So zitiert Busch (also der Gastautor von Stefan Sasse) Ulrich Kutschera, einen Evolutionsbiologen. Ich kenne und schätze Kutschera seit 15 Jahren. Er verkennt und missinterpretiert allerdings die Komplexität der gender studies deutlich. So schreibt Kutschera, Judith Butler habe die Theorien von John Money weiter entwickelt. Money erlangte eine recht traurige Skandalisierung, weil er ein Kind, das mit beiden Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, durch chirurgische Eingriffe, Empfehlungen an die Eltern und durch psychologische Betreuung zu einem „Mädchen“ umgewandelt hat, obwohl auch „jungenhafte“ Vorlieben bei dem Kind aufgetaucht sind. (Eine ältere Kritik zu Kutschera habe ich hier veröffentlicht.)
Tatsächlich ist die Aussage von Kutschera komplett falsch (und es ist nicht die einzige Peinlichkeit, die sich Kutschera leistet). Butler stützt sich keineswegs auf diesen dubiosen Fall und seinen „Autor“. Ihre Wurzeln findet man eher in der Foucaultschen Diskursanalyse und den poststrukturalistischen Interpretationstheorien. Bis zu ihrem späten Werk Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen taucht der Name John Money überhaupt nicht auf. Und dort, im dritten Kapitel (ab Seite 97) werden keineswegs die biologischen Aussagen von Money übernommen, sondern in ein kritisches Verhältnis gesetzt. Von einer Zustimmung kann überhaupt keine Rede sein, und damit auch nicht von einer Weiterentwicklung.
Butler tut genau das, was gute Sprachphilosoph-inn-en machen: Sie untersucht diejenigen Einheiten, die diesen Diskurs prägen, und zwar als Konstellationen von Zeichen. Sie gibt also zu bedenken, dass auch ein biologischer Diskurs in sprachliche Ordnungen eingebunden ist, und dass man diese sprachlichen Ordnungen überprüfen muss, um ihre stille, ideologisierende und dogmatisierende Komponente herauszuarbeiten.
Ein Problem der Kritik an den gender studies ist, und Wolf-Dieter Busch führt dies sehr plastisch vor, Aussagen über biologische Zusammenhänge mit den biologischen Zusammenhängen selbst zu verwechseln. Gelegentlich sind Aussagen über biologische Zusammenhänge falsch oder verkürzt. Dann muss man diese kritisieren. Und insofern man Sprachwissenschaftler ist, interessiert man sich auch dafür, woher nun diese falsche Darstellung kommt. Dann untersucht man eben kulturelle Einflüsse, mithin: Zeichenprozesse.
Busch selbst verweist dann auch auf jene Buchkritik von Spektrum, mit den Worten, Kutschera habe eine "vernichtende Kritik" geschrieben. Kutscheras vernichtende Kritik allerdings wird in den Buchbesprechung gerade nicht euphorisch empfangen, sondern deutlich eingeschränkt, zuweilen sogar mit recht harschen Worten. Und ich mag mich über das Wort "vernichtend" gerade gar nicht mehr äußern. Was für ein adjektivischer Schmonz. Ins Riesenhafte und Groteske aufzublähen ist doch immer noch eine beliebte Strategie rechtspopulistischer Jammergestalten.
Kritik hört sich nach einem Dagegen an. Kritisiert man aber Fehleinschätzungen, dann taucht unter der Hand eigentlich auch ein Dafür auf. Man könnte mit Fug und Recht auch sagen, dass die gender studies gerade nicht gegen die Biologie sind, sondern sie vielmehr von ihren ideologischen Komponenten zu reinigen versuchen. Dass dabei auch Irrwege beschritten werden, das muss man nicht weiter ausführen.
Ich kann es, zum Abschluss, nur noch einmal sagen: Nicht alles, was die gender studies so fabrizieren, ist gut. Manches bringt mich auch zur Raserei. Das heißt aber nicht, dass ihr damit die Legitimität fehle. Im Gegenteil. Wissenschaft produziert Hypothesen und überprüft diese. Und insofern dies in den gender studies getan wird, haben sie auch das Recht, als Wissenschaft aufzutreten und ernst genommen zu werden. Auch wenn sie in der anschließenden Diskussion dann revidiert werden sollten.

Leicht gruselig

Während ich so vor mich hin stöbere, derzeit vor allem bei den moderneren Philosophien der Interpretation (Günter Abel, Josef Simon), schaue ich mir gelegentlich die neueren Angebote auf Amazon an. Da gibt es dann so „hübsche“ Bücher wie Schreibdenken. Schreiben als Denk- und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln oder Fachtexte. lesen – verstehen – wiedergeben. Nicht, dass ich das nicht schätzen würde. Schließlich muss man das lernen. Aber an der Uni? So etwas müsste die Schule eigentlich vermitteln können.

Praktiken des Verstehens

Das erinnert mich an den einen oder anderen Kunden (und die eine oder andere Kundin), denen ich das freie Kommentieren der Fachtexte nahegelegt habe, und die mich dann noch mehrmals danach gefragt haben, wie sie das denn jetzt machen sollen.
Ich sage es noch mal: ich ergänze Fachartikel und Fachbücher durch Zwischenüberschriften (und rein pragmatisch: ich schreibe die Seitenzahl auf, je eine Zwischenüberschrift markiere ich durch einen Spiegelstrich, und wenn es mehrere Absätze auf einer Seite gibt, dann erscheint die entsprechende Anzahl an Spiegelstrichen und Zwischenüberschriften); ich lege Listen mit wichtigen Begriffen an, ich erarbeite die Definition dieser Begriffe aus dem Text, ich notiere Einfälle – von einzelnen Wörtern bis hin zu längeren Argumentationen (und natürlich alles dazwischen, auch eher unsinnige Sachen), und insofern meine eigenen Kommentare über einen einzelnen Satz hinausgehen, erhalten diese auch eine zusammenfassende Überschrift.
Jedenfalls gruselt es mich, wenn das der Stand ist, mit dem Studierende an die Universität kommen. Über das Wie des freien Schreibens unterhält man sich doch, möchte ich meinen, bereits in der Grundschule.