04.04.2015

Sprachen lernen

Letzte Woche habe ich zum Emulationslernen geschrieben. Dies ist eine Form des Lernens, die in gewisser Weise den Imitationslernen gegenübersteht, aber diese ergänzt. Ganz zufällig bin ich über ein Interview gestolpert, in dem sich ein gutes Beispiel zum Emulationslernen findet. Dabei handelt es sich um einen Text, der das Erlernen von Sprachen thematisiert. Die Interviewte Judith Meyer hat sich zahlreiche Sprachen selbst beigebracht. Das Interview zeigt aber wesentlich mehr Aspekte eines guten Lernens auf als nur das Emulationslernen.

Handlungskontexte

Dekontextualisierung

Eines der wichtigen Aspekte beim Lernen von Sprachen ist die Dekontextualisierung. Damit ist die Anwendung von bestimmten Sprachmustern, bzw. bestimmten Sprachspielen in unterschiedlichen Kontexten gemeint. Judith Meyer kritisiert:
Allein mit einem Kurs kann man keine Sprache lernen. Erst recht nicht, wenn der Kurs nur einmal in der Woche stattfindet. Pädagogische und neurologische Studien zeigen, dass Lernen nur durch kontinuierliche Wiederholung funktioniert. Etwas, das sich nur einmal in der Woche sehen, kommt nicht im Langzeitgedächtnis an. Bei vielen Kursen in Unternehmen ist zudem das Problem, dass sie immer am gleichen Tag stattfinden. So gewöhnt sich das Gehirn daran, dass immer dienstagmorgens in einem bestimmten Raum Spanisch gesprochen wird. Außerhalb dieses Kontextes lässt sich das Gelernte dann nur schwer abrufen. Sonntagnachmittags im Café Spanisch sprechen, geht dann nicht.

Tiefengrammatik

Das ganze lässt sich auch durch eine Erklärung Wittgensteins stützen. In seinem Spätwerk schreibt Wittgenstein den Wörtern Bedeutungskörper zu (GW VII, 75). Diese entstehen durch Regeln, grammatische Regeln genauer gesagt, wobei eine grammatische Regel nicht durch eine offizielle Normierung entsteht, sondern durch den häufigen Gebrauch. Gelegentlich nennt Wittgenstein dies Tiefengrammatik, im Gegensatz zu der Oberflächengrammatik, die aus den typischen Normen besteht, die in der Schule gelehrt werden. (Dass Wittgenstein damit versucht, die Brücke zwischen Grammatik und Semantik, zwischen formaler und inhaltlicher Betrachtung von Sprachstrukturen zu überwinden, ist gerade auch für die Schule bedeutsam: eine formale Sprachbetrachtung ist nur insofern praktisch, als sie sich in besonderen Situationen als günstig erweist; und diese besonderen Situationen bestehen darin, über Grammatik zu reflektieren, was im Leben von Menschen eher selten vorkommen dürfte.)

Kreativität und der Bedeutungskörper

Wenn man also Wörter nur in bestimmten Kontexten anwendet, dann funktionieren diese wie die Gegenstände in einer wohl geordneten Wohnung: Duschgel benutzt man nur in der Dusche, Gemüsemesser nur auf dem Schneidebrett in der Küche, Messer und Gabel nur am Esstisch. Eine weiterführende, „kreative“ Verwendung findet nicht statt. Damit allerdings wird auch klar, wo das Problem von Sprachkursen liegt: Sie mögen Teilnehmer zu einem formal richtigen Sprechen anleiten, aber noch lange nicht zu einem inhaltsreichen.
Zugegebenermaßen ist der Bedeutungskörper von Wörtern im Gebrauch durch eine Kultur schwer fasslich. Man kann sich ihm nur annähern. Aber wenn man den Wortgebrauch an bestimmte Orte bindet (zum Beispiel Schulklassen), kommt man nicht zu der Möglichkeit, diesen Wörtern eine eigenständige Gedächtniseinheit zu reservieren. Sie bleiben immer lokal gebunden.

Schwerfällige Kreativität

Die räumliche Bindung von Wörtern funktioniert, so zumindest kann man das analogisieren, über das Verhältnis von Ober- und Unterbegriffen. Für das Gedächtnis ist es einfacher, sich bestimmte Mengen in Formen von Oberbegriffen zu merken. Psychologisch nennt man solche Bündel chunks. Sie sind ein typischer Trick und eine Empfehlung in der Mnemotechnik, um sich große Mengen von Elementen besser zu behalten.
Ein Nachteil dieser chunks ist, dass sie sich aus ihrer Gruppe kaum noch herauslösen lassen. Sie bleiben fest daran gebunden. Damit misslingt eine kreative Anwendung, also eine Anwendung, die in anderen Kontexten stattfindet.

Mangas zeichnen

Dasselbe kann man bei Kindern beobachten, die immer wieder die gleiche Figur aus einem Manga-Zeichnen-Lernbuch abzeichnen. Zwar kommen sie nach und nach zu einer Perfektion, die dem Original in nichts nach steht. Aber eine freiere Anwendung, ein eigenständiges Zeichnen gelingt ihnen dadurch noch nicht. Wenn man sie dazu ermutigt, geraten die Bilder wieder aus den Fugen. Zwar können die Kinder einzelne Elemente der Zeichnung benennen, aber ein leichtfertiges Zusammenfügen zu neuen Bildern funktioniert nicht.
Nachdem die Kinder eine Kontextualisierung von Elementen erlernt haben, müssen sie nun eine Dekontextualisierung einüben, also etwas, was man auch Transfer nennt.

Einüben

Man darf hier die Bedeutung der Analyse nicht zu gering schätzen. Das vielfältige Üben ermöglicht Kindern, aber auch Erwachsenen, einen motorisch vielfältigen Gebrauch zu erlernen. Dies habe ich zum Beispiel immer wieder beim Schneiden von Papier beobachtet. Solange dieses in einem bestimmten Kontext stattfindet, kommen die Kinder zu guten Ergebnissen. Verlässt man in einem Unterricht aber diesen Kontext, sind die Kinder verunsichert oder scheinen geradezu inkompetent, eine Schere zu halten.

Motorische Analyse

Durch das vielfältige Üben können kompakte Weltfragmente aufgebrochen werden. Rizzolatti, der „Entdecker“ der Spiegelneuronen, spricht von der Interpretationsleistung des motorischen Systems. Zu handeln bedeutet demnach zu analysieren. Und ebenso geht Wittgenstein von einer pragmatischen Form des Bedeutungskörpers aus. Die Grenze des Bedeutungskörpers eines Wortes entsteht durch den Übergang zu einem anderen Zeichen, wodurch der Bedeutungskörper nie alleine, sondern immer nur in der Vielfalt anderer Bedeutungskörper, in mannigfaltigen Übergängen zu finden ist. (Vgl. Rizzolatti, Giacomo: Empathie und Spiegelneuronen. Frankfurt am Main 2008, S. 24-27)

Steigerung der Analyse

Insofern ist jegliche Analyse eine Analyse des Gebrauchs und damit eine Reflexion über die Praxis und deren Ordnung. Insofern die Reflexion zu einer neuen, übersichtlicheren Ordnung führt, ist sie zugleich pragmatisch. So lassen sich weder Theorie und Praxis, noch Analyse und Synthese trennen. Vielmehr erweist sich die theoretische Analyse als Steigerung der praktischen, während die Synthese gleichzeitig und immer am Rande der Analyse mitläuft, so dass jemand, der analysiert, zugleich synthetisiert; hier stellt sich dann eher die Frage, warum man einen Analytiker so beobachten kann, dass man zu dem Schluss kommt, dass er analysiert, und nicht, dass er es synthetisiert.

Zusammenfassung

Zunächst muss man sich also an den Gedanken gewöhnen, dass Handeln kein Gegensatz zur theoretischen Betrachtung ist, sondern geradezu deren Vorbedingung. Dies muss man allerdings den meisten „Intellektuellen“ nicht sagen, sondern eher all denen, die die Theorie als unpraktisch ablehnen. Meist steckt hinter einer solchen Ablehnung keine Orientierung an der Praxis, sondern zunächst nur ein Dogmatismus. Der Dogmatismus hat in Bezug auf die Praxis den Vorteil, dass das eigene Handeln kaum hinterfragt werden muss; insofern sind Dogmen sehr praktisch und sehr praxisorientiert.
Dies sind Vorbedingungen, um zu verstehen, warum eine Sprache nicht nur vielfältig, sondern in unterschiedlichen praktischen Kontexten geübt werden muss und warum eine rein formale Sprachbetrachtung erst spät erfolgen darf, wenn bereits eine gewisse Komplexität im Umgang mit der Sprache aufgebaut worden ist. Zunächst stellt uns das motorische System zugleich komplexe semantische Interpretationen zur Verfügung, so dass man sagen kann: gebrauchen heißt analysieren. Die formale Betrachtung, also das Erlernen der „richtigen“ Grammatik (oder: Schulgrammatik), gehört in den Bereich der Metakognition, mithin dem Denken des Denkens und kann natürlich erst dann geschehen, wenn man bereits etwas gedacht hat.
Theorie ist also nur dann unfruchtbar, wenn sie sich nicht auf eine Praxis stützt. Die Strukturen der Praxis dagegen bleiben unbegriffen, wenn sie nicht in eine Theorie übergehen. (Dass diese Theorie wiederum eine Praxis ist, zeigt, dass auch Wissenschaftstheorie und Logik notwendige Disziplinen sind.)

Sprachgebrauch

Ein weiterer, wichtiger Punkt, den ich mir zu diesem Interview aufgeschrieben habe, ist der Sprachgebrauch in konkreten Kontexten. Diesen habe ich allerdings bereits oben erläutert. Meyer dazu folgenden Tipp:
Dafür [um Sprachen sprechen zu können] muss man die Sprachen immer wieder anwenden [Sprachgebrauch erlernt man also nur durch Sprachgebrauch]. Mein wichtigstes Werkzeug ist deswegen das Internet. Dort gibt es alles, was man zum Sprachenlernen braucht — und zwar kostenlos. Um eine chinesische Zeitung zu lesen, hätte ich sie mir früher teuer per Post schicken lassen müssen. Heute kann ich sie am Computer lesen und dabei auch Wörter schnell in einem online-Wörterbuch nachschlagen. Auch ausländische Kinofilme und Fernsehserien gibt es im Internet, oft sogar mit Untertiteln. So kann man Sprachen überall in sein Leben einbauen: mal einen Film auf Französisch schauen oder einen englischen podcast im Auto hören.

Emulatives Lernen

Klare Ziele

Damit kommen wir zu dem oben versprochenen Emulationslernen. Im Prinzip funktioniert dieses Lernen ganz einfach: man nimmt sich ein konkretes Produkt vor, das man herstellen möchte und probiert dann aus, wie weit man mit seinen bisherigen Fertigkeiten und Fähigkeiten kommt. Man setzt sich also ganz konkrete Ziele, die man innerhalb einer bestimmten Zeit erreichen möchte und plant genügend Zeit dafür ein, dass man diese dann auch tatsächlich erreichen kann.
Das aller erste, was man machen muss, ist also, sich ein ganz konkretes Ziel zu setzen. Menschen, die in hektischen Situationen leben, tun gut daran, sich diese Ziele aufzuschreiben. Generell aber ist das Aufschreiben hilfreich für die Motivation. Man hat dabei eben nicht nur etwas gedacht, sondern bereits einen Schritt getan.
Bei Meyer hört sich das ganze dann so an:
Ich sage nicht: Ich lerne jetzt Spanisch. Sondern: In drei Wochen möchte ich meinen spanischen Kollegen begrüßen und mit ihm über das Wetter reden können. Dann suche ich mir die dafür notwendigen Vokabeln, Sätze und Grammatikregeln heraus und übe die Aussprache.

Lernen durch Nachbilden

Affen, so liest man es immer wieder, sind keineswegs Meister des Nachäffens. Im Gegenteil: Selbst wenn man Affen, sogar Menschenaffen, den richtigen Lösungsweg vormacht, begeben sie sich wieder eigenständig auf die Suche nach einer guten Situation. Dabei wird das Ergebnis durchaus als positiv erkannt.
Bei dieser Art des Lernens, das man im Prinzip überall durchführen kann, handelt man sich zunächst einen großen Nachteil ein: es ist langsam und zeitaufwendig. Auf der anderen Seite aber trainiert es genau jene Form des Problemlösens, die für Innovation, Humor und Kreativität notwendig ist: die Analogiebildung. Ich hatte schon mehrfach in den letzten Jahren dazu geschrieben, unter anderem auch, dass diese Form des Problemlösens in unserer Gesellschaft wenig bedacht und im Unterricht wenig gefördert wird.

Individuelle Innovation

Dabei muss man zunächst einen Mythos zerstören, der die Innovation betrifft. Innovation wird meist in Form von großen Neuerungen und überragenden Erfindungen gedacht. Tatsächlich ist Innovation aber immer relativ zu einer Person und ihrer Kultur. Manche kulturellen Errungenschaften müssen nicht nur einmal, sondern vielfach erfunden werden. Das beste Beispiel dafür bieten kleine Kinder, die die ganze Motorik des Sprechens und Gehens ohne eine konkrete Anleitung entdecken müssen.
Genau dasselbe kann man beim Schreiben von Romanen oder Diplomarbeiten beobachten. Zwar gibt es in gewisser Weise Schablonen, denen man folgen kann, doch insgesamt bildet man mehr ein bereits erkanntes Ergebnis nach, indem man sich ohne entsprechende Werkzeuge auf den Weg dorthin macht. So jedenfalls ist es bei vielen selfpublisher. Die Ergebnisse sind in ihrer Qualität zwar zum Teil gruselig; aber gelegentlich finden sich darunter auch richtige Perlen.

Experimentelle Kultur

Mit der fehlenden Not, der Zielorientiertheit und der Coaching-Mentalität der Gesellschaft scheint das analogische Denken auszusterben. Und selbst dieses wird dann in Lehrgängen mühsam vermittelt, wobei zum Beispiel Kreativlehrgänge das Problem haben, dass sie häufig zweckgebunden eingesetzt werden. Kreativität wird dadurch eingeschränkt, dass am Ende ein verwertbares Produkt entstehen muss. Es soll etwas vorgezeigt, dargestellt, verkauft werden. Bedenkt man aber, dass viele kreative Prozesse abgebrochen oder neu begonnen werden, dann ist eine Festlegung auf ein Endprodukt nur bedingt tauglich.
Trotzdem zeigt das emulative Lernen, dass zwischen einem reinen Herumbasteln und einem Nachbilden ein Unterschied besteht.

Fehlerfreundlichkeit

Ein anderer bedeutsamer Missstand ist der Glaube an die Perfektion. Während man bestimmte Vorgänge durch eine gute Mittel-Ziel-Analyse in eine nahezu perfekte Anleitung umwandeln kann, gibt es andere Gebiete, bei denen das nicht gelingt. Vermittelt man den Schülern in der Schule nur einzelne Lernschritte aufbereitete Vorgänge, verhindert man jegliche andere Art des Problemlösens.
Die andere Seite dieser Münze ist das Starren auf Fehler. Immer wieder hebt man Fehler heraus und bewertet die womöglich auch noch. Dadurch automatisiert sich das Streben nach Perfektion, ohne dass in irgendeiner Weise überdacht wird, wo Perfektion wirklich nützlich, und wo sie eher schädlich ist. Auch das ist eine Sache, die viele Menschen nicht können. Fehler werden einfach nicht akzeptiert.
Und ich denke hierbei an meine nicht ganz so werte Exfrau, die zwei Arten hatte, mit Fehlern in unserer Beziehung umzugehen: meine eigenen Fehler wurden immer gleich als ein Totalversagen hingestellt und ihre Fehler waren, obwohl sie existierten, nicht existent.
Tatsächlich aber ist der Umgang mit Fehlern nicht ganz so einfach. Wichtig dabei ist der Dialog, vor allem dann, beide Seiten nicht genau wissen, wohin der Weg führen soll. Dies ist eigentlich immer dann der Fall, wenn das Ergebnis nicht korrekt beschrieben werden kann, wie dies zum Beispiel bei Erzählungen der Fall ist.

Versuch

Manchmal wird mir vorgeworfen, zu systematisch, zu rational zu sein, manchmal aber auch genau das Gegenteil: Ich würde an einem Punkt beginnen und an einem ganz anderen Punkt enden. Vermutlich schaffe ich beides. Und dies, je nachdem, wie weit meine Gedanken zu einem bestimmten Thema gediehen sind. Mein Anspruch allerdings ist es auch nicht, endgültige Ergebnisse zu präsentieren. Nach einer etwas verworrenen Anfangsphase hat dieser Blog immer wieder den Charakter des Experimentellen gehabt; es ist ein Blog für Zwischenergebnisse, Anregungen, Ideen, Versuchen. Gelegentlich rechtfertige ich mich explizit oder implizit selbst, wie ich dies einmal anhand des Begriffs der Bastelei getan habe, wie ich es diesmal tue.

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