08.04.2015

Devianz

Die Diskussionen, die ich, wenn noch weitestgehend zunächst mit mir selbst, zu den Unterschieden zwischen mathematisch-logischer, narrativer und ethisch-politischer Argumentation geführt habe, hat mich auch immer wieder auf das Thema der Devianz, also des abweichenden Verhaltens, zurückgewiesen. Selbstverständlich gehört der Begriff der Devianz ganz zentral zu meinem Studium mit dazu: in der Sonderpädagogik spricht man sowohl im medizinischen als auch im sozialen Bereich von Devianzen (wenn auch mit ganz unterschiedlichen Vorausbedingungen für den Gebrauch dieses Wortes), gelegentlich auch im psychischen Bereich.

Antigone

Judith Butler verdeutlicht die moralisch-rechtliche Devianz anhand der Figur der Antigone. Allerdings zeigt sie auch, dass diese Devianz nicht vollständig außerhalb der ethischen und politischen Normen liegt, sondern auf vielfältige Bezüge mit diesen beruht. Es ist, verfolgt man diese Argumentation genauer, nämlich ein Irrtum zu glauben, dass der Widerstand gegen den Staat ein einfacher, leicht zu handhabender Widerstand wäre; tatsächlich bedeutet ein solcher Widerstand, und ich denke, dass das Beispiel zum Beispiel der RAF dies sehr deutlich gemacht hat, dass von den Widerständigen die Bedeutung des Widerstands keineswegs beherrscht wird und er den größeren Diskursen innerhalb einer Gesellschaft automatisch unterworfen bleibt. Die Tragik der RAF, so könnte man sagen, war, dass sie das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie erreichen wollten. Statt den Staat überflüssig zu machen, haben sie seine Notwendigkeit unterstrichen.
Judith Butler schreibt also:
Antigone befindet sich nur teilweise außerhalb des Gesetzes, und so könnte man schließen, dass weder das Gesetz der Verwandtschaft noch das Gesetz des Staates die ihnen unterworfenen Individuen tatsächlich beherrscht. Gilt Antigones Devianz jedoch als Veranschaulichung der Unerbittlichkeit des Gesetzes und als Verdeutlichung der dialektischen Opposition, dann steht ihr Widerstand im Dienst des Gesetzes, dessen Unausweichlichkeit er belegt.

Objektivierende Kognition und subjektivierende Normierung

Hinter dem Problem der Devianz findet sich ein ganz anderes Problem, welches die Argumentationsweisen betrifft. Insofern man versucht, die Devianz wissenschaftlich zu untersuchen und sie objektiv darzustellen, objektiviert man auch die Menschen, die an einem solchen devianten Prozess teilhaben. Damit aber verleugnet man geradezu ihren Status als politische Akteure. Sie dienen ausschließlich der Veranschaulichung. Egal wie berechtigt oder unberechtigt die Forderungen und Bedürfnisse dieser Menschen im Allgemeinen oder im Besonderen sind: als Objekte fallen sie aus der politischen Argumentation heraus und werden lediglich zu Voraussetzungen für solche.
Dreht man allerdings die Argumentation vollständig um und argumentiert politisch, so kann man gar nicht anders als von einer Normierung ausgehen, die den eigenen Standpunkt innerhalb einer Gesellschaft von Bürgern deutlich macht. Indem man das Gegenüber als Subjekt anerkennt, argumentiert man ihm gegenüber auch normativ. Denn, wie Hannah Arendt gezeigt hat, die politische Sphäre geht nicht von objektiven Verhältnissen zwischen Menschen aus, sondern von subjektiven, bzw. intersubjektiven. Es sind Verhältnisse der Macht.
Wenn Butler also von der Unausweichlichkeit spricht, dann lässt sich das auch als die Unausweichlichkeit des anderen Subjekts lesen, ebenso wie der Unausweichlichkeit des normierenden Verhältnisses zwischen den beiden politischen Akteuren, handelte es sich nun um zwei Menschen oder um einen Menschen und einen Staatsapparat.
Und ebenso lässt sich daraus schlussfolgern, dass es eine objektivierende Normierung nicht gibt. Tatsächlich ahnt man, wenn man sich Arendts Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ansieht, dass eine objektivierende Normierung ebenso wie eine subjektivierende Kognition den Bereich des Politischen vernichten und eben eine solche totale Herrschaft etablieren.

Devianz als logische Form

Vielleicht ist das Unangenehme der Devianz nicht so sehr in ihren materiellen Wirkungen zu suchen, als in ihrer logischen Form. Sie scheint die leichtgängigen Logiken, in denen sich eine Kultur definiert und objektiviert, durcheinanderzubringen. Als logische Form bildet sie ein Zwischenreich zwischen Subjekt/Objekt und Kognition/Normierung, so dass sie weder der einen noch der anderen Seite wirklich zugehört und trotzdem an beiden teilhat.

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