29.12.2017

Farbskalen

Elgin weist darauf hin, dass das Denken aktiv an der Wahrnehmung beteiligt ist, so wie umgekehrt (Goodman/Elgin: Revisionen. Frankfurt am Main 1993, S. 19). Aus diesem Grund bestimmen Erfahrungen die Art und Weise der Wahrnehmung mit. Sie sind kulturspezifisch – wobei kulturspezifisch hier nur heißt, dass sie von der Kultur beeinflusst werden, nicht dass sie sich einer bestimmten Kultur, etwa der deutschen, zuordnen lassen.

Farbtöne

Nun lassen sich Sinnesdaten nicht direkt vergleichen und daher auch nicht direkt aufeinander abstimmen. Bei Farben zum Beispiel nutzt man Muster und verschiedene Bezeichnungen, um verschiedene Farbtöne gegeneinander abzugrenzen, wie etwa grasgrün und französischgrün. Ohne solche Muster aber ist der Vergleich schwer. Und die Erfahrung zeigt, dass ein bestimmtes Grün von dem einen noch zur Farbe Grün, von einem anderen bereits zur Farbe Blau zugeordnet wird.

Projezieren

Wittgenstein schreibt (Bd. IV, Abschnitt 49), dass eine geometrische Figur durch eine Projektionsmethode kopiert werden kann, also durch eine Abmachung, wie diese Figur zu verändern sei. Genau dann kann ich aber die umgekehrte Projektion mit sehen oder eben die Projektion, anders gesagt, im Geiste rückgängig machen. Das ermöglicht mir die Sichtweise auf die Ähnlichkeit oder eben Gleichheit.

Geometrisieren

Davon zu unterscheiden ist die regelhafte Verschiebung auf einer Farbskala. Denn eine Farbe ist wohl evident. Wir sehen sie. Eine geometrische Figur dagegen ist nur mittelbar evident, denn zunächst sehen wir nur Linien und Punkte. Erst daraus erzeuge ich eine geometrische Figur. Wollte man also Farben für eine ähnliche Weise der Betrachtung gebrauchen, dürfte man nicht die Projektion von Farben auf eine andere Farbe ins Auge nehmen, sondern deren Position auf einer Farbskala.

Die Farbskala

Erst die Farbskala ermöglicht eine gewisse Möglichkeit, mit Farben zu operieren und diese in einen komplexeren Bezug zueinander zu setzen. Denn die Farbskala besteht eben nicht nur aus Farben, sondern auch aus einem Raum, bzw. einer Strecke (oder, im Falle des Farbkreises, aus einem Kreis und einem zyklischen Übergang). Eine Farbskala wird demnach nicht nur durch die Farben, sondern durch ihre räumliche und damit bedingt messbare Anordnung zu einer Farbskala. Und vergleiche ich dann die Farben oder vergleiche ich die Anordnung auf der Skala?

Farben vergleichen

Wie aber vergleiche ich Farben?
Ich kann zum Beispiel sagen: »Dieses Blau ist heller als jenes.« Dann aber vergleiche ich die beiden Blaus in Bezug auf die Farbe Weiß. Ich nutze eine „eindeutige“ Referenzfarbe. Weiß und schwarz sind eben auf der Skala der Helligkeit die äußersten Pole. Ein Blau, das weiß ist, kann nicht noch „hellblauer“ werden.
Oder ich kann sagen: »Dieses Blaugrün ist grüner als jenes Blaugrün.« Dann nutze ich aber ein gedachtes Grün als Referenzfarbe. Und der andere mag mir zustimmen, egal welches Grün für ihn nun die Referenzfarbe ist, solange er zum Vergleich die Referenzfarbe Blau mit hinzunehmen kann und dazwischen die beiden Arten des Blaugrüns platzieren kann.
Problematisch wird nur, die genaue Referenzfarbe zu bestimmen. Man könnte also fragen: »Liegt dieses Grün eher auf der gelben oder eher auf der blauen Seite deiner Referenzfarbe Grün?« und würde bei unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Antworten bekommen. Und in dem einen Fall vergleiche ich auf der Grundlage einer Evidenz, und in dem anderen Fall auf der Grundlage einer (vermutlich erlernten) Skala.

Mischen: Farben oder physikalische Größen

Bei den Skalen handelt es sich um erlernte Verhältnisse. Auch wenn ich Farben durch Mischen immer auf dieselbe Art und Weise verändern kann, muss ich in einem Blau doch die Möglichkeit sehen, es zu einem Grün zu mischen, wenn ich Gelb hinzufüge. Das Grün-werden des Blaus ist nicht sinnlich gegeben. Es ist nicht evident.
Die Skala von Blau nach Gelb über Grün entsteht durch ein Mehr oder Weniger des Hinzumischens, also wiederum nicht durch die Farbe selbst, sondern durch eine Quantität. Die Quantität spielt für die farbliche Evidenz zwar keine Rolle, dafür aber für die Konstruktion einer Skala. Das projektive Verhältnis stützt sich, wie bei der projizierten geometrischen Figur, auf eine abstrakte Quantität (denn dem gelben Farbklecks, den ich dem Blau hinzufügen möchte, ist seine Quantität – in Bezug auf die Farbe – nicht eigen).

Fazit

An den Beispiel zeigt sich sehr schön, wie unabhängig die Farbskala von der konkreten sinnlichen Wahrnehmung der Farbe ist und sich auf ein Projektionsverhältnis von Mengen auf eine Fläche stützt.

17.12.2017

Geometriedidaktik

Der letzte freie Sonntagnachmittag vor den Ferien. Und ich: lese zur Geometriedidaktik, bzw. schreibe dazu; und um das Ganze dann (kreativ) auszuprobieren, liegen das Geodreieck, der Cutter, Klebestift, drei Scheren verschiedener Größe, buntes Papier, Filzer und ein Falzbein griffbereit.
Entstanden sind ein Turm, der beim Auffalten schief und bauchig aus dem Papier herausragt, ein Schnappmaul mit "glühenden" Augen und einer gerollten Zunge, eine Winkehand vor einem dreidimensional aufragenden "Weihnachtsgeschenk". So macht Geometrieunterricht Spaß (naja, hin und wieder ist es dann doch mühsam und "fisselig"), und man müllt seinen Schreibtisch mit mehr oder weniger nützlichen Modellen voll. Weniger nützlich ist dabei tatsächlich, dass ich alle Modelle mit Notizzetteln aus Notizzettelblöcken erstellt habe. Für den Unterricht sind diese ungeeignet, weil viel zu klein.
Lustig ist es aber allemal, und nebenher entstehen Ideen zu Lernhilfen, die man zusammenklappen und in den Schrank stellen kann, die aber für den Unterricht aufgeklappt auf dem Tisch stehen können. Mal sehen, ob sich damit was Attraktives bauen lässt (dazu gibt es wohl die Weihnachtsferien).
Weil ich auch mit dem Gedanken herumspiele, wie sich die erahnte Verbindung zwischen geometrischem Denken und Programmierlogik verbinden lässt, entstehen auch kleine Computerprogramme. Gut; erstens ist die Verbindung längst nicht so vage, dass man sie erahnt nennen darf: alleine fehlt mir das System, mit dem sich ein sinnvoller Überblick dafür geben ließe und genau dies ist bei mir in Arbeit (seit über einem Jahr übrigens, da mir auch oft die Zeit oder die Muße fehlt); zweitens macht das Programmieren auch wegen meines so fixen neuen Computers wieder ausgesprochen viel Spaß, und ich probiere nebenher neue Python-Bibliotheken aus (pyglet und cocos2d).
Fazit des Ganzen: ich bräuchte weniger Schule, um mehr Schule machen zu können.

11.12.2017

Plotmuster

Und noch einmal für alle: ich habe mir einen neuen, ziemlich üppigen Computer gekauft. Das Einrichten hat mich fast die ganze Woche gekostet, aber eben auch nur diese ganze Woche, und nicht, wie bei meinem letzten, noch funktionierenden Computer zahlreiche Tage. Zudem ist mein Spracherkennungsprogramm fast wieder auf dem alten Stand. Und das Diktieren macht echt viel mehr Spaß, weil es doch einen Tick schneller geht.
Schülerinnen und Schüler sind deshalb so spannend, weil sie einen vom einem Thema zum anderen treiben. Aus recht aktuellen Gründen habe ich mir fest vorgenommen, in den Weihnachtsferien von Leon Wurmser Die Maske der Scham wieder einmal gründlich zu lesen. Das letzte Mal habe ich mich vor fast 26 Jahren mit diesem Buch beschäftigt. Damals hat es mich sehr geprägt, vor allem in meiner Art und Weise, mein eigenes Lesen zu hinterfragen, etwa ähnlich stark wie Die Strukturen der Lebenswelt von Schütz und Luckmann. Letzteres Buch allerdings war für mich eher ein objektives, das von Wurmser ein sehr subjektives Erfahrungsfeld.
Außerdem arbeite ich an einer kleinen Hobbit-Geschichte. Eigentlich ist ja die Mathedidaktik ein hauptsächliches Anliegen. Das schon mehrmals erwähnte Buch von Sybille Krämer allerdings stellt ein so weites Gebiet unter theoretische Beobachtung, dass auch die Schreibprozesse mit ihren vielen kleinen Modellen in meinen Blick geraten. Grundlegend ist das auch gut. Schließlich war es über Jahre hinweg mein Hauptarbeitsgebiet.
So habe ich nach langer Zeit auch wieder die Masterplots von Ronald B. Tobias hervorgeholt. Ich habe das bereits erwähnt. Drei Fragmente dazu verorten noch mal, welche Position ich diesen im Schreibprozess „zugestehe“:

Plotmuster

Der ewige Streit um Plotmuster (oder nicht) bei selfpublishern ist aus vielerlei Gründen witzlos. Plotmuster reduzieren nichts (denn aus diesen sollte ja erst die Geschichte entstehen). Aber die Aufzeichnung sorgt dafür, dass man begründeter annehmen oder ablehnen kann; weit wichtiger scheint mir allerdings zu sein, dass man mehrere Plotmuster miteinander vermischen kann: Sie sind also Keime, die miteinander interagieren.
Man kann solche weiteren Plotmuster entweder zur Differenzierung des großen Plots, für Sequenzen oder für Parallelhandlungen nutzen.

Plotmuster: normalisierte (und nivellierte) Strukturen

Plotmuster sind nicht Ausdruck von Vorschriften, sondern Muster der Normalisierung: da ein Plotmuster zugleich weit entfernt vom Endergebnis ist, ist es eher eine Strukturierungshilfe, die weder die Qualität einer Erzählung ermöglicht, noch die Kreativität einschränkt.
Es gibt auch keine Vorschriften, was mit dem Plotmuster zu tun ist (man könnte die Erzählung infolge auch ganz gegen den Strich bürsten).
Das Problem scheint also zu sein, wie man Plotmuster versteht. Sie dienen zunächst der Bewusstwerdung, der bewusst gestalteten Erzählung. Sie sind keine Vorschriften, können aber als solche aufgefasst werden.

Plotmuster: Erzählung und Überarbeitung

Geht man davon aus, dass Erzählungen aus einer Folge von Überarbeitungen entstehen, dann sind Plotmuster sehr frühe „Operatoren“, die eine Idee in eine erste Struktur gießen.
Freilich: die Folgen der Überarbeitung sind nicht formalisiert, auch wenn es bestimmte notwendige Schritte gibt. Aber diese Schritte sind insgesamt auch untereinander nicht formell angeordnet. Es gibt natürlich günstige Vorgehensweisen, vor allem zeitsparende.

04.12.2017

Plotmuster

Vor vielen Jahren - 2005 um genau zu sein - habe ich die Masterplots von Tobias meinen Bedürfnissen angepasst. Darin sind diese auf der einen Seite etwas formalisierter, auf der anderen aber auch differenzierter. Sie bestehen aus Tabellen mit zentralen Strukturelementen; aber eine ganze Reihe dieser Strukturelemente können weggelassen werden. Mit Hilfe solcher Plotmuster lassen sich innerhalb kürzester Zeit zwanzig Geschichten entwerfen, also etwa eines Nachmittags.
Nun gab es immer wieder Kunden und andere kritische Stimmen, die dieses Vorgehen als Tod der Kreativität, als Tod der kulturellen Relevanz, als Ursache für hölzerne Geschichten gezeiht haben.
Das mag alles richtig sein, wenn denn die Masterplots mehr als nur ein kleiner Baustein in der großen Praxis des Schreibens wären.
Aber sie sind nur ein kleiner Baustein. Man kann mit ihnen beginnen, wenn man eine Erzählung plant. Aber das Ende der Planung, bevor es um die Schönheit von Wörtern, den ersten Satz, die ganze rhetorische und poetische Konstitution der Geschichte geht, sollte sich ein Schriftsteller schon so weit von der grundlegenden Struktur entfernt haben, dass der Masterplot so erweitert wurde, dass er ganz und gar überwuchert von der eigentlichen Geschichte erscheint.
Nun, wie auch immer. Dies war nicht unbedingt das, was ich erzählen wollte. Wichtiger ist mir doch, dass ich mit meinen Schülern eine neue Form des Geschichten-Schreibens ausprobiere. Statt dass die Schüler schreiben und ich das dann lektoriere, werde ich schreiben und meine Schüler lektorieren. Thema der ersten Geschichte: die Reise eines Hobbits in Mittelerde.
Jedenfalls habe ich mich mal investiert und zahlreiche mögliche Plots entworfen. Alles grobe, zum Teil so nicht ausführbare Ideen. Die meisten, wenn nicht alle, werden konventionellen Strukturen von Geschichten gehorchen, also jenen Masterplots. So etwas braucht man in Zeiten eines redundanten Überangebots wohl nicht zu veröffentlichen. Aber das ist ja auch nicht meine Intention.

Ich habe auch fleißig über die diagrammatischen Funktionen der Plotmuster nachgedacht, weiterhin mit dem schönen Buch von Sybille Krämer. Mittlerweile ergänzen zwei Kapitel aus Goodman/Elgin Revisionen meine Diskussion. Wie auch meine "Erforschungen" der Mathedidaktik. - (Es ändert sich wohl nie was.)
(Und ich habe tatsächlich mal wieder ein bisschen was programmiert.)

23.11.2017

Nachrichten aus der Zwischenwelt

Ich weiß nicht, wann ich für die Zeiten, in denen ich eigentlich nichts veröffentliche, die Überschrift Nachrichten aus der Zwischenwelt erfunden habe. Nun, es ist wohl, nach zwei Wochen Funkstille auch angebracht.
Es ist ja auch nicht so, dass ich nicht schreibe. Ich kommentiere sehr viel, aber erstens derzeit querbeet, nach den täglichen Anforderungen und Erinnerungsresten, und zweitens vieles zu Schülern und persönlichen Dingen, also nichts, was ich ungefiltert an die Öffentlichkeit geben würde.
Insbesondere meine Auseinandersetzung mit der Mathedidaktik schreitet nur langsam voran. Oder schnell, je nachdem. Denn ich habe ziemlich rasch mehr als nur einige fachliche Lücken in meinem Verständnis entdeckt; und soweit ich dies in einem solchen frühen Stadium sagen kann, auch fachliche Lücken in der Literatur. Sich mit seinen eigenen Lücken auseinanderzusetzen ist sinnvoll; inwiefern die Lücken in der Fachliteratur sich als Täuschungen herausstellen, bleibt abzuwarten.
Doch ich habe auch nicht wirklich Zeit. Die Arbeit an der Didaktik ist doch noch deutlich etwas anderes als die Unterrichtsplanung. Und die steht nun mal im Mittelpunkt.

06.11.2017

Diagrammatik

Über was ich mir heute Gedanken gemacht habe!
Neben all den kleinen, berufsbedingten Texten entwickelt sich die Arbeit an der Diagrammatik zu einem Thema, das so ziemlich alles, was ich bisher in meinem Leben geschrieben habe, umfasst.

Was ist Diagrammatik?

Dazu möchte ich nicht allzu ausführlich werden. Als Diagramme kann man alle Erzeugnisse bezeichnen, die einen Erkenntnisgewinn beabsichtigen und auf eine Fläche aufgetragen werden. Das ist nur eine grobe Definition. Aber sie zeigt, auch wenn dann noch ein paar Einschränkungen dazu kommen, auf ein weites Feld.
Daran kann man nun aber so ziemlich alles, was in Büchern vorkommt, festmachen. Denn nicht das Material, sondern der Blickwinkel auf das Material ist letztendlich entscheidend, ob ich etwas als Diagramm verstehe oder nicht. Selbst Bilder sind Diagramme, so das berühmte Bild Las Meninas von Velazquez. Dieses hat der französische Philosoph Michel Foucault seinem Buch Die Ordnung der Dinge in einer mittlerweile ebenso berühmten Interpretation vorangestellt.

Vielfalt der Diagramme

Was gehört noch dazu (und was habe ich heute in meinen Notizen erwähnt)? Bilder vom Zirkel und der Gebrauch des Zirkels selbst, Bilder von Wetterströmungen, die Kinderszenen von Schumann, den seltsamen dreidimensionalen Kupferstichen von Escher, eine Website von einem ökologischen Landwirtschaftsbetrieb und eine von einer Ferienanlage für Klassenfahrten, Mindmaps und Cluster, ein Interview mit Reichsbürgern (gerade im Tagesspiegel erschienen), Schreibpläne von Nietzsche in der Zeit vor der Veröffentlichung des Zarathustra, ...
Interessiert bin ich daran auch deshalb, weil ich ganz zu meiner Anfangszeit als Schreibcoach den Begriff "verorten" als einen meiner zentralen Arbeitsbegriffe neu definiert habe. Damit meinte ich, dass Figuren einer Erzählung immer in einem Raumbezug auftauchen müssen, damit sich dem Leser die Szene erschließt und vorstellbar wird. Auch das ist eine Art von Diagrammatik. Deshalb ist mir der Gedanke sehr vertraut.

Bis in die Unendlichkeit ... (haha!)

Nun, auch bei meiner Arbeit mit den Schulbüchern führt mich die Auseinandersetzung nicht nur zu einer genaueren Betrachtung der Schulbücher selbst - denn jede Schulbuchseite kann als Diagramm gelesen werden -, sondern auch darüber hinaus: wenn man die Möglichkeiten abschätzen möchte, wie Diagramme verstanden werden, spielen psychologische Theorien eine wichtige Rolle. Und diese kommen dann mit weiteren Diagrammen.
So öffnet sich hinter Verknüpfung ein weiterer Knotenpunkt. Und das hat mich, nachdem ich den Morgen etwas schläfrig herumgelümmelt habe, den Nachmittag umso fruchtbarer gemacht.

Weiterhin ist mein zentraler Referenztext Figuration, Erkenntnis, Anschauung von Sybille Krämer. Ein großartiges Buch, ich sagte es bereits.

04.11.2017

Aktionismus im Schulfach Programmieren

Der Präsident des Digitalverbands Bitkom, Achim Berg, hat für die Schulen das Fach Programmieren gewünscht. Dagegen ist im Prinzip nichts zu sagen. Ich hätte dieses Fach auch lieber heute als morgen regelhaft auf der Stundentafel stehen. Es gibt allerdings zwei gravierende Einwände, hier auf die üblichen Verfahrensweisen in der Schule zurückzugreifen.

Interdisziplinarität

Wie viele moderne Wissenschaften ist auch das Programmieren eine interdisziplinäre. Dies findet man eigentlich bei allen Wissenschaften mit einem praktischen Anwendungsbereich; historisch gesehen also zum Beispiel auch bei der Medizin und der Juristik. Die Pädagogik ist ebenfalls ein interdisziplinärer Fachbereich, und das nicht nur deshalb, weil Pädagogen immer auch unterschiedliche Fächer studieren, die später den Lernstoff für den Unterricht bilden.
Tatsächlich ist die Idee der Interdisziplinarität sogar ein recht altes Phänomen. Von den sogenannten Universalgelehrten über immerhin noch sehr weit tragende Philosophen (zum Beispiel Leibniz) bis zu den Neukantianern (Ernst Mach zum Beispiel war zugleich Physiker, Psychologe und Philosoph) sind die klassischen Disziplinen zwar in den Fakultäten getrennt, aber durch die persönlichen Interessen immer wieder auch aufgeweicht und mit fruchtbaren Gedanken versorgt worden.
Programmieren nun automatisiert Arbeitsprozesse; und diese Arbeitsprozesse liegen gerade außerhalb des Programmierens, jenseits des eigentlichen Fachs. Die Frage ist also, ob sich nicht im Zuge moderner Unterrichtsgestaltung weniger das Fach Programmieren mit zusätzlichen Unterrichtsstunden anbietet, als vielmehr dieses integrativ in den Unterricht hineinzunehmen.

Voraussetzungen des Programmierens

Ich habe es heute Morgen schon geschrieben: ein wichtiger Aspekt meiner derzeitigen Arbeit ist die didaktisch-methodische Aufbereitung des Programmierens. Dazu gehören auch Lernvoraussetzungen und begleitendes Lernen darzustellen. Das begleitende Lernen behandelt parallel zu einem Lernstoff weitere Lernstoffe, die sich gegenseitig stützen und zu „synergetischen“ Effekten führt. Bei den Lernvoraussetzungen hat man, je nach Stand des Wissens notwendige Kompetenzen für weitere Lernschritte herauszuarbeiten.
So ist zum Beispiel bei grafischen Spielen eine grundlegende Kenntnis des Koordinatensystems unerlässlich, sofern diese nicht allzu dilettantisch ausfallen sollen. Und wenn wir bei den grafischen Spielen bleiben, dann sind auch die Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung wichtig, um zu ansprechenden Grafiken zu kommen.
Sofern ich die Literatur der Zeit überblicke, sind diese Voraussetzungen für das Programmieren nur wenig analysiert worden. Das allerdings wäre nun kein Problem, nein, es ist tatsächlich kein Problem. Dazu sind keine umfangreichen Studien notwendig, sondern nur einigermaßen erfahrene Pädagogen, die das Lernmaterial ordentlich analysieren und Querverbindungen zu anderen Lernstoffen ziehen.
Das einzige Hindernis dabei ist, dass man dafür Zeit braucht. Mir ist zwar relativ klar, dass Geometrie und Grammatik stark in das Programmieren hinein spielen; aber die feineren Verbindungslinien zwischen diesen Gebieten und zu anderen Voraussetzungen habe ich bisher nur in Einzelfällen skizzieren können. Es wäre ja schon großartig, wenn es überhaupt ein paar Artikel mit Hintergrundinformationen dazu gäbe, statt hier immer wieder den reinen Pragmatismus zu pflegen. Der ist zwar für den raschen Gebrauch im Unterricht ganz nett, aber für eine tiefere Auseinandersetzung mit den Bildungsinhalten des Stoffes zu oberflächlich.

Logik der Arbeit

Mit der Logik allerdings hat der gute Herr Berg es dann doch nicht so richtig. Wenn in den nächsten 20 Jahren die Hälfte der Aufgaben von Maschinen und Computern erledigt werden, könnte man doch meinen, dass die Menschen dann auch nur noch die Hälfte der Zeit arbeiten müssten. Wir leben sowieso in einer Zeit der Überproduktion, und das nicht erst, seitdem das Computerzeitalter angebrochen ist.
Aber nein. Es wird nicht umverteilt. Das bedingungslose Grundeinkommen wird nicht ausgedehnt. Stattdessen setzt man auf den digitalisierten Arbeitsmarkt. Zwar ist das nicht falsch, aber eben nur ein Teil der Wahrheit. Der Arbeitsmarkt muss sich eben ändern; und auch das Leben der Menschen muss neu überdacht werden. Gerade das darf nicht nationalen Animositäten und einem weltweit gefräßigen Kapitalismus scheitern.

Zählen

Die Arbeit der letzten Tage kann ich nicht so ganz einschätzen. Auf der einen Seite habe ich nicht einmal einen Bruchteil der Strecke zurückgelegt, den ich bewältigen wollte, bzw. will. Mir war schon von Anfang an klar, dass dies eher die Arbeit von zwei Jahren wird. Und auf der anderen Seite habe ich doch recht viele Entdeckungen gemacht, die mich zwar auf Umwege gebracht haben, die ich aber als durchaus sehr sinnvoll empfinde.

Modellieren, Mathematisieren

Worum geht es also? Ganz zu Beginn: um eine Didaktik des Programmierens. Derzeit: um das Modellieren und Mathematisieren, und hier fast noch im „Urschleim“, um das Zählen und die ersten Strukturen im Zahlenraum. Eine wichtige, wenn auch immer noch recht unvollständige Zwischenstation habe ich gestern Morgen mit dem Artikel zum Zahlenstrahl veröffentlicht.

Raum-Zeit-Verknüpfungen

Immer wieder wichtig dabei ist die Verknüpfung zwischen Raum und Zeit, die ich mal formal, mal semiotisch und mal phänomenologisch betrachte. Das sehr bewundernswerte Werk von Sybille Krämer, Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie leitet mich weiterhin dazu an, auch wenn sich jetzt erste Brüche ergeben; was aber immer so ist: je länger man sich mit einem beschäftigt, umso mehr schreibt man es nicht nur um, sondern auf seine Art und Weise auch neu.

Raumgreifendes Zählen

Zum Zählen schreibt Krämer:
Zu zählen ist eine Handlung in der Zeit. Was »Zeitlichkeit« bedeutet, kann kaum eindringlicher erfahren werden als durch die sukzessive, getaktete Erzeugung von Zahlen im Aufzählen. Doch am Zahlenstrahl wird die Zähloperation zu einer raumgreifenden Bewegung, bei der die Linie mit Auge oder Finger »abgeschritten« werden kann. Der geistige Umgang mit Zahlen wird als räumliche Mobilität entlang des Zahlenstrahls vollzogen.
Krämer, Sybille: Figuration, Anschauung, Erkenntnis. Grundlinien einer Diagrammatologie. Berlin 2016, S. 31

Zählen als raumzeitlicher Kompromiss

Ich setze den Akzent anders. Das Zählen entstammt einer Räumlichkeit, an der sich die Zeitlichkeit der Handlung probiert. Tatsächlich wird die Zeitlichkeit des Zählens nicht verräumlicht, sondern man könnte das Zählen eher als einer der möglichen Kompromissbildungen zwischen räumlicher Umwelt und zeitlicher Umwelterfahrung, zwischen der Abfolge der Tätigkeiten und der Lokalisierung der Tätigkeitsmittel ansehen. Dass dies nur eine der Kompromissbildungen ist, lässt darauf schließen, dass noch weitere Bedingungen beim Zählen migriert werden, etwa zum Beispiel kognitive Bedürfnisse (Problemlösen) oder emotionale (Angstabwehr und Ordnung).

Grenze und Tausch

Ich setze also eher auf die transformierende und psychologischen Aspekte des Zählens, während Krämer durch ihren diskursanalytischen Ansatz strukturelle Aspekte in den Blick nimmt. Dass diese sich gelegentlich, so wie hier, in einer Art und Weise treffen, dass man sie nicht mehr deutlich voneinander zu unterscheiden vermag, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine Trennung zwischen beiden besteht, und bestehen bleiben muss, um darüber einen weiteren Austausch zu ermöglichen. Man könnte auch sagen, dass ich mich darum bemühe, die Gedankengänge Krämers zu repsychologisieren, zumindest aber zu didaktisieren.

03.11.2017

De Bonos neue Denkschule

Der amerikanische Denktrainer Edward de Bono ist seit vielen Jahren für seine erfolgreichen Methoden bekannt, Denken kreativer und erfolgreicher zu machen.
Denken kann man lernen. Die Frage ist nur: wie?

Denkmuster trainieren

Ganz zentral stehen in de Bonos Programm eine Reihe von Denkmustern, die er Werkzeuge nennt. Diese Werkzeuge kann man wie kleine Computerprogramme sehen, die etwas in etwas anderes übersetzen. Und das ist eigentlich schon der ganze Zauber.

Gibt es Denkfehler?

Man sollte annehmen, dass de Bono jetzt eine Reihe von Denkfehlern benennt, die man mit seinem Buch vermeiden kann.
Der überraschende Antwort des Autors ist, dass es gar keine Denkfehler gibt, sondern nur Wahrnehmungsfehler. Dabei beruft er sich auf den amerikanischen Psychologen David Perkins. Dieser nennt vier Wege, wie man sich am Wahrnehmen hindert.
Das erste Problem ist, dass man glaubt, alle Möglichkeiten bereits zu sehen.
Das nächste Problem ist, dass man glaubt, alle Hinweise (Informationen) für mögliche Lösungen zu sehen.
Ein weiteres Problem sind beschränkende Gedanken, die wir nicht wahrnehmen.
Als letztes Problem sieht Perkins darin, dass wir zu frühe Lösungen oder Sackgassen des Denkens nicht als Durchgangsstationen begreifen.
Man kann sich jetzt darüber streiten, ob dies wirklich Wahrnehmungsfehler sind. Viel wichtiger sind die Schlussfolgerungen, die Perkins daraus zieht.
Man solle nämlich (1) viele Lösungen erarbeiten, (2) versteckte Informationen aufsuchen, (3) beschränkende Gedanken enttarnen und (4) frühe oder erste Lösungen als Durchgangsstationen begreifen.
Nun sind diese Vorschläge ziemlich abstrakt. Die Methoden, die de Bono entwickelt hat, sind dagegen sofort nachvollziehbar.

PMI

Die erste Methode, die de Bono in seinem Buch vorstellt, ist so einfach, wie wirkungsvoll.
Die Buchstaben PMI stehen für plus, minus und interessant.
Dieses Werkzeug kann man auf Meinungen und Lösungen anwenden. Dazu schreibt man unter Plus alle positiven Aspekte auf, unter Minus alle negativen Aspekte und unter Interessant alle interessanten Aspekte.
Sinn und Zweck dieses Werkzeuges ist es, eine breitere Sichtweise auf eine Meinung oder eine Lösung zu finden, so dass man diese relativieren kann.
De Bono schreibt, dass viel zu viele Menschen glauben, ihre Meinung sei richtig und ihre ganze Kraft darauf verschwenden, ihren Standpunkt zu verteidigen. Sie nehmen sich dadurch die Chance, bessere Lernwege oder Handlungen zu finden. Mit diesem kleinen Denkmuster trainiert man sich an, immer zuerst einen differenzierteren Standpunkt zu entwickeln.

AMA

Der Name dieses Werkzeugs steht für Alternativen, Möglichkeiten und Auswahl. Es geht darum, Alternativen zu entwickeln.
Indem man AMA bewusst anwendet, findet man neue Erklärungen und ordnet diese nach ihrer Wichtigkeit. Auch dieses Werkzeug ist denkbar einfach. Man kann es beim Überprüfen, Planen und Entscheiden einsetzen.

Wichtig ist das Üben!

Immer wieder kann man Menschen treffen, die von de Bono enttäuscht sind. Fragt man etwas genauer nach, dann findet man bei all diesen Enttäuschten ein und denselben Fehler. Sie haben ein oder mehrere Bücher von de Bono gelesen, sich gedacht, dass dies alles ja unglaublich einfach ist und dass sie es in der entsprechenden Situation sofort einsetzen können.
So einfach ist das aber nicht. Zunächst sind Trockenübungen wichtig. De Bono betont immer wieder, dass seine Werkzeuge für Denkmuster stehen. Denkmuster müssen eingeübt werden. Dazu braucht man Zeit, vor allem aber regelmäßige Wiederholung.
Der amerikanische Psychologe John Anderson schreibt, dass Menschen zunächst Faktenwissen wahrnehmen. Dieses kann nur oberflächlich angewendet werden. Erst durch Herumprobieren und Einüben automatisiert man dieses Wissen und erzeugt ein sogenanntes prozedurales Muster. Der Vorteil solcher prozeduralen Muster besteht darin, dass sie im Hintergrund unseres Denkens automatisch ablaufen und man sich nicht mehr anstrengen muss, wenn man mit einem solchen Muster denken will.
Nehmen Sie sich also für jedes Werkzeug mindestens eine Woche, um dieses täglich zu trainieren. Danach wiederholen Sie in regelmäßigen Abständen die Übung. Erst wenn Sie merken, dass sich eine Übung oder ein Werkzeug von alleine aufdrängt, können sie das bewusste Trainieren unterlassen.

Fazit

Auch wenn man vollmundigen Ankündigungen im Klappentext nicht glauben sollte, so ist dieses Buch trotzdem recht praktisch. Es ist sehr verständlich geschrieben. Der Leser sollte für die Umsetzung allerdings eine gewisse Hartnäckigkeit und Ernsthaftigkeit mitbringen. Anderenfalls lohnt sich de Bonos Denkschule tatsächlich nicht.

Die Emotionstheorie von Plutchik

Emotionen spielen in unserem Alltag eine wichtige Rolle. Auch der Begriff der emotionalen Intelligenz ist in aller Munde. Neben den durchaus wichtigen Alltagstheorien über Emotionen gibt es viele wissenschaftliche Ansätze. Einer davon soll hier vorgestellt werden.

Acht grundlegende Emotionen

Der amerikanische Psychologe Robert Plutchik hat zwei grundlegende Bewegungsrichtungen bei den Emotionen unterschieden: eine verbindende und eine trennende. Über diese erste Unterscheidung kommt er zu acht Basisemotionen.
Die vier verbindenden Basisemotionen sind Freude, Vertrauen, Überraschung und Erwartung.
Die vier trennenden Basisemotionen sind Furcht, Trauer, Ekel und Ärger.

Intensität und Kombination der Emotionen

Diese acht Formen der Emotion existieren in unterschiedlicher Intensität und können sich miteinander kombinieren. Für die unterschiedliche Intensität der verschiedenen Emotionen seien hier zwei Beispiele genannt. Nehmen wir zum Beispiel Freude. Bei einer hohen Intensität nennen wir den Ausdruck von Freude Ekstase. Bei einer niedrigen Intensität nennen wir dies Freudigkeit, Gelassenheit oder Fröhlichkeit.
Ähnlich ist es zum Beispiel beim Ärger. In einer hohen Intensität erscheint dieser als Zorn oder Wut, bei einer niedrigen Intensität als Feindseligkeit oder Verärgerung.
Kombinieren sich zwei Emotionen, entstehen neue, abgeleitete Gefühle. So nennt Plutchik die Verbindung von Freude und Vertrauen Liebe. Kombinieren sich zum Beispiel Vertrauen und Überraschung, entsteht Neugier. Zynismus wiederum sei, so Plutchik, eine Mischung aus Ekel und Erwartung.

Kann man Emotionen lernen?

Eine der wichtigsten Erkenntnisse in der Emotionstheorie allerdings ist, dass es zwar elementare Gefühle gibt, dass man aber lernt, wann man sie hat. Das heißt, man kann durchaus ein Gefühl verlernen oder erlernen. Dabei allerdings sollte man vorsichtig sein, denn zunächst denkt man, dass es sinnvoll ist, negative Emotionen aus seinem Leben zu verbannen. Es gibt aber äußerst sinnvolle Ableitungen von schlechten Gefühlen.
So ist eine "verfeinerte" Version der Angst die Fähigkeit, sich von etwas zu distanzieren, zum Beispiel von anderen Meinungen. Plutchik sieht den Ursprung der Angst in der Funktion, sich in Sicherheit zu bringen. Dies geschieht durch eine Flucht. Dieses Moment der Flucht steckt auch hinter der Distanzierung von fremden Meinungen. Solchen sehr erwachsenen Verhaltensweisen basieren natürlich auf der ganzen persönlichen Geschichte der Gefühle.
In der Distanzierung spielen noch andere Gefühlserfahrungen eine Rolle. Häufig "zerstört" man auch diese anderen Meinung, sei es durch offene Kritik, sei es durch verächtlichem Gedanken. Dies kann man wiederum auf die Grundemotion des Ärgers zurückführen.
Von dem Standpunkt der Gefühle aus leisten Gedanken und Handlungen mehrererlei. Zunächst einmal sind es die Elemente, an die sich Gefühle binden können. Zudem mischen sich die Grundgefühle in den Gedanken und Handlungen und können in unterschiedlicher Intensität ausgedrückt werden. Schließlich verfeinert eine reiche Gedankenwelt die Emotionen, bis zu dem Moment, in dem sie gar nicht mehr für uns wahrnehmbar sind.
So kann man abschließend sagen, dass die Grundemotionen zwar angeboren sind, deren Intensität, Mischung und Verfeinerung aber erlernt werden. Zudem erlernen Menschen auch, in welchen Situationen sie welche Gefühle bevorzugen.

Überlebensstrategien

Plutchik hat die Emotionen in der Evolution verankert. Er postuliert fünf wichtige Elemente, die jede Grundemotion ausmachen.
Das erste Element ist das Reizereignis. Damit ist ein Reiz gemeint, der aktuell vorliegt und mit dem besonderen Gefühl einhergeht. Das zweite Element ist die kognitive Einschätzung. Diese repräsentiert den aktuell wahrgenommenen Zustand. Als drittes Element kommt die subjektive Reaktion dazu, die aus dem Grundgefühl besteht. Schließlich gibt es noch ein Verhalten, das durch die Emotion ausgelöst wird und eine evolutionäre Funktion. Mit dieser wird die Anpassungsleistung an die Umwelt bezeichnet.
Ärger zum Beispiel wird durch ein Hindernis ausgelöst. In Gedanken wird dieses Hindernis als Feind bewertet (kognitive Einschätzung). Das dazugehörige Verhalten ist der Angriff und evolutionäre Funktion besteht in der Zerstörung eines Hindernisses.
Die Trauer begleitet den Verlust eines wertvollen Objekts. In diesem Fall stehen sich allerdings die kognitive Einschätzung und das Verhalten entgegen. Die kognitive Einschätzung ist, dass man das Objekt aufgeben sollte, während das Verhalten jemanden ruft. Dieser jemand ist entweder das verlorene Objekt selbst, oder jemand, der einem dabei hilft, dieses verlorene Objekt wiederzuerlangen.

Wie geht man mit Emotionen um?

Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass man möglichst viele Handlungen kennen sollte. Zudem ist eine umfassende Bildung wichtig, um viele verschiedene Gedanken entwickeln zu können. Das klassische Lernen ist also ebenso notwendig für eine reiche Gefühlswelt, wie die praktischen Tätigkeiten.
Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, dass Gefühle in jedem Gedanken und jeder Handlung enthalten sind, aber nicht offen daliegen. Man kann sie jedoch aus dem Bewegungsimpuls erschließen. Um dies gut zu können, ist eine hohe Bewusstheit des eigenen Denkens und eine sensible Reflexion des eigenen Handelns nötig.
Eine dritte Möglichkeit besteht darin, auf eine emotional besetzte Situation andere Gefühle auszuprobieren. So kann man zum Beispiel einen Menschen, auf den man ärgerlich ist, mit einem Gefühl der Überraschung "besetzen".
Gelingt dies, ersetzt man nämlich den Impuls zur Zerstörung durch einen Impuls, sich neu zu orientieren. Dadurch können aus einer Situation neue Einsichten entstehen. Bei dieser dritten Möglichkeit geht es allerdings nicht darum, sich emotional umzupolen, sondern ausschließlich darum, durch andere Gefühle eine andere Sichtweise auf eine bestimmte Situation zu erproben.

Emotionale Kompetenz

Folgt man den Gedankengängen von Plutchik, dann gibt es keine emotionale Intelligenz. Diese müsste nämlich angeboren sein. Stattdessen kann man von einer emotionalen Kompetenz reden. Diese kann erlernt werden, wenn auch nur auf dem indirekten Weg der wissenschaftlichen, kulturellen und praktischen Bildung.

Zählen, Zusammenfassen, Abstrahieren

Wenn das Zählen durch das Rechnen zusammengefasst wird, dann ist das Diagramm insgesamt vielleicht keine Synopsis, sondern eine Verkürzung von Handlungen durch Automatisierung.
So kann eine Menge in die Vorstellung eines strukturierten Materials übersetzt werden (zum Beispiel in Einer, Zehner und Hunderter in Form von Klötzchen, Stäben und Flächen). Die Vorstellung selbst aber muss gelernt werden, und von der verkürzenden Vorstellung der ursprüngliche Handlungszusammenhang verfügbar sein.
Dann könnte man auch, umgekehrt, sagen, dass man ein Diagramm erst dann verstanden hat, wenn es nicht nur als Bild, sondern als eine Sammlung automatisierter Handlungen begriffen wird.
(Wir müssten also jedes Diagramm wieder auf sinnlich-praktische, individual-menschliche Zusammenhänge zurückführen.)

Der Zahlenstrahl

Kinder auf dem Weg ins formale Denken zu begleiten ist gelegentlich eine recht aufregende Sache. Wie immer finden sich bei ihnen tausenderlei Wege an, die mal schneller, mal langsamer, mal ohne großes Zutun, mal nur mit massiver Hilfe zum schulischen, nein, eigentlich denkerischen Erfolg führt. Im folgenden Artikel werde ich eine knappe und auf weniges begrenzte Materialanalyse mit fachdidaktischen Überlegungen vorstellen.

Rechnen in Kultur

Abgekürztes Zählen

Rechnen, so lautet eine kurze, zunächst überraschende Definition, ist abgekürztes Zählen. Der Weg dorthin führt schließlich zu einem Verständnis vom Zahlenraum, der die moderne Kultur prägt, mathematisch gesehen aber nur einer von vielen ist. So ist seine Beherrschung auf der einen Seite Voraussetzung für eine kompetente Teilnahme an der Kultur, auf der anderen Seite aber das Modell, von dem aus die formale, d. h. eigentliche Mathematik aufgebaut werden kann.
Umso wichtiger ist es, beim Erwerb grundlegender Rechenfähigkeit den Finger auf kritische Momente zu legen und diese gründlich zu betrachten. Ein solcher Moment der Übergang vom Einheiten-zählen zum Kopfrechnen im Hunderterraum.

Stützende Materialien

Auffällig sind dabei die vielen verschiedenen Materialisierungen, die dem Mathematiklehrer zur Verfügung stehen, vom Kastanienhaufen bis zu den Aufgabenbündeln der halbschriftlichen Addition, wie man sie häufig in Mathematikbüchern findet. Dass diese Materialien nicht einfach nur Materie sind, sondern dem rechnenden Denken voraus laufen und es stützen, schreibt Sybille Krämer in ihrem Buch Figuration, Anschauung, Erkenntnis:
Ob mit den Fingern unserer Hand, mit Perlen des Abakus, mit Rechensteinen auf dem Rechenbrett oder mit schriftlichen Zeichen auf dem Papier hantierend: Komplexe Zahlenprobleme werden lösbar durch regelhafte Manipulationen mit taktil und visuell zugänglichen Konfigurationen, die ihrerseits mit für uns unzugänglichen, nicht beobachtbaren Objekten und deren Relationen »irgendwie« verbunden sind. Das Rechnen zeigt auf elementare Weise: Geistige Tätigkeiten können so eingerichtet bzw. formatiert werden, dass sie in Gestalt handgreifliche Aktivitäten, situiert im Materialitätskontinuum der beobachtbaren Welt, vollzogen werden können. (12)

Flexibles formales Denken

Ergänzt werden muss diese Erläuterung dadurch, dass der materielle Umgang mit rechnerischen Operationen umgekehrt zum Aufbau von formalen Vorstellungen dient, sodass sich das Denken nach und nach vom materiellen Substrat ablösen kann. Ziel des Rechnens ist, den Zahlenraum in seiner Struktur und seinen Operationsmöglichkeiten zu erfassen. Ziel dieses Erfassens ist es, das Zählen flexibel abkürzen zu können. Flexibel heißt in diesem Fall, dass Rechnen in unterschiedlichen pragmatischen Situationen formal wie inhaltlich richtig verwendet wird.

Der Erwachsene und das rechnende Kind

Automatischer Erfolg

So hoch die Ziele des Mathematikunterrichts auch sind, denn nichts anderes als eine sehr eigene Art des Denkens und der Weltbetrachtung durch eine Sprache, die nicht semantisch, sondern relational ist, wird hier angestrebt; so hoch diese Ziele auch sind, so ist er Erfolg doch regelmäßig feststellbar. Dies birgt trotzdem einige Probleme, wenn man als Erwachsener Zeuge oder Anleiter von Lernprozessen wird, in denen sich Kinder den Zahlenraum gerade erarbeiten.

Unbewusste Aneignung

Denn im zweitbesten Fall hat sich der Erwachsene die Operationen und die Struktur so gut angeeignet, dass er sie „im Schlaf“ verwendet. Er hat sie überautomatisiert, sodass sie nicht mehr bewusst ausgeführt werden. Dass dies allerdings ein langer Prozess war, der nach der ersten Beherrschung mit jeder weiteren Rechnung vertieft wurde, dessen erinnern die wenigsten. So ist die Fähigkeit eines Erwachsenen, ein Ergebnis zu „sehen“, keine Selbstverständlichkeit. Mit der Leichtigkeit, mit der wir rechnen, geht gelegentlich ein mangelnder Respekt für die Kinder einher, die erst noch zu einer solchen Leichtigkeit finden müssen.

Hürden der Aneignung

Umso wichtiger ist, sich klarzumachen, wie viele verschiedene Klippen und Hürden von Kindern überwunden werden. Dazu dient eine penible und dichte Beschreibung, die ich hier an einigen wenigen, aber zentralen Rechenmaterialien aufzeigen möchte. Dabei wird der Zahlenstrahl im Zentrum stehen.
Es gibt allerdings noch einen zweiten Grund, warum zumindest Grundschullehrer sich gerade auf die Materialität ihrer Lernhilfen gut anschauen sollten. Gerade für die schwächeren Kinder muss man eine hohe Sensibilität auch für die feinstofflichen Ansprüche erarbeiten; und dazu gehört, dass man die Zwiespältigkeiten eines Modells genauso wie die Brüche beim Übergang von einem Modell zu einem anderen versteht. Um nur ein Beispiel zu nennen: der Zahlenstrahl verläuft regelmäßig von links nach rechts aufsteigend, während die ausgeschriebene Zahl von rechts nach links aufsteigt. Kindern mit einem schlechten Körpergefühl oder einer Regelunsicherheit kann dies zum Verhängnis werden und den weiteren Mathematikunterricht sogar qualvoll machen.

Im Blickpunkt: das mathematische Material

Ziel ist die Beherrschung des Zahlenraums; doch der pädagogische Anspruch muss notwendig dazu führen, den Weg dorthin genauer zu betrachten. Dazu gehört auch das mathematische Material.
Dieses möchte ich im folgenden genauer anschauen, besondere den Zahlenstrahl, aber auch die Zahlen selbst und das Hunderterfeld, welches häufig zeitgleich oder sogar im Verbund für Übungen verwendet wird.

Materialisationen

Materielle Raumzeitlichkeit

Der Werkzeugcharakter des Materials führt auf eine Schnittstelle von Raum und Zeit zurück. Ist der Raum für sich abstrakt, so wird er durch die Gegenstände darin konkret. Dasselbe gilt für die Zeit, sofern diese sich durch Veränderungen kenntlich macht. Diese Raum-Zeit wird erhandelt. An ihrer Schnittstelle findet sich der menschliche Körper, der auf seine Umwelt einwirkt.
Da der Mensch Raum und Zeit nur mittelbar begreift, spricht man auch von Verzeitlichungen und Verräumlichungen, mit denen der Mensch nicht nur auf seine Umwelt einwirkt, sondern diese erschafft.
So wird auch klar, warum Rechnen Lernmaterial braucht. Nur dadurch, dass der Zahlenraum zunächst räumlich präsent ist, kann er durchwandert werden und nach und nach ihm eigenen Raumzeitlichkeit als kognitive Struktur vorgestellt und angeeignet werden.

Vom substanziellen zum topologischen Raum

Dabei ergibt sich eine erste Schwierigkeit. Die reine Mathematik braucht einen topologischen, nicht-substantiellen Raum. Über alle Hilfsmittel der Materialisierung hinweg ist das Ziel also auch, das Denken mathematischer Topologien zu ermöglichen und zu fördern, aber eben nicht zu hindern.
Aus der Zählreihe, die ein Zahlenstrahl zunächst ist, soll eine Zahlenreihe werden, deren innere Struktur zum Lösen abstrakter und konkreter Probleme dienen kann. Kern des Problemlösens ist aber zunächst die Transformation.

Transformierendes Handeln

Schon im Zählen finden wir eine solche. Eine beliebige Menge durch das Zählen in eine Reihe gebracht und Lautbildern verbunden. Das Abzählen, auch wenn es noch sehr ungeschickt ist, führt regelmäßig dazu, dass gleiche oder ähnliche Elemente in eine Reihe gelegt werden. Damit wird auch einer der Aspekte des Zahlbegriffs erfasst: eine Zahl bezeichnet die Stellung eines Elementes in einer Reihe.
Auch die andere grundlegende Operation wird entdeckt und rasch mit Zahlen in Verbindung gebracht: aus einem Haufen wird durch das Zählen eine Menge. Gleichförmige Objekte lassen sich bündeln und sie lassen sich sogar in mehrere Bündel einteilen, die man wiederum für sich zählen kann, unabhängig der Elemente, die sich darin befinden. Eine Zahl bezeichnet die Mächtigkeit einer Menge.

Entzeitlichen

Im Bündeln wird noch eine dritte Sache erfahren, die topologische Räume kennzeichnet: diese sind „unzeitlich“; auch wenn sie Prozesse abbilden, liegen diese doch nebeneinander. Beweisen braucht zwar seine Zeit, doch der vollzogene mathematische Beweis erstreckt sich vom Anfang bis zum Ende auf der Fläche eines Papiers und kann dort in alle Richtungen durchmessen und begutachtet werden. Beständig wird die Zeit des Handelns aus der mathematischen Darstellung wieder entfernt. Selbst das Abkürzen und Zusammenfassen von Kastanien, einer Tätigkeit, die nur in der Zeit stattfinden kann, wird von den fertigen Häuflein nicht angezeigt. Schon bei grundlegenden Rechenhandlungen ist die zeitliche Abfolge darin oft unsichtbar oder sogar unverfügbar.
Da auch die Art und Weise der Materialisierung eigentlich keine Rolle spielt, besteht Rechnen durch die Abbildung eines topologischen Raumes auf sich selbst oder auf einen anderen topologischen Raum (zum Beispiel ein Koordinatensystem).

Das EIS-Modell

Dass aber Mathematik nicht vom Material abhängig ist, ermöglicht, mit verschiedenen Repräsentationen zu arbeiten. Eine für uns hier hinreichend gute Einteilung solcher Repräsentationen ist das EIS-Modell. Dabei steht E für enaktive Medien, also solche, an denen man Handlungen ausführt, I für ikonische, also solche, die man sinnlich wahrnimmt, schließlich, mit S, symbolische, die etwas anderes als sich selbst repräsentieren. Nun ist diese Einteilung kritisch zu sehen. Mit was man handelt, muss sinnlich präsent sein. Da aber in jedem Material auch Verhältnisse zu entdecken sind, die nur indirekt behandelt werden können und unsinnlich bleiben, bilden sich daran auch Symbole aus. Auf den Erwerb solcher Symbole ist die Mathematik gerichtet.
Da wir aber fließende Übergänge im Material finden, müssen wir dies auch beim Erwerb von Rechenkompetenz beachten und uns zu Nutze machen.

Repräsentation des Mathematischen

Betrachten wir zunächst das Bündeln genauer.
Enaktiv geschieht dies, wenn eine Zahlenreihe nicht Schritt für Schritt, sondern in Zweierschritten oder Fünferschritten abgezählt wird, so wie ein Verkäufer die Anzahl der Ein-Cent-Stücke aus seiner Kasse durch Zehnerbündelung rasch zu einer Gesamtsumme zusammenzählt.
Manche in der Schule verwendete Zahlenstrahle sind auf mehrfache Weise ikonisch gegliedert. So werden neben den Einern durch kurze Striche die Fünfer durch mittlere und die Zehner durch längere Striche markiert. Zudem sind die Zwischenräume von den geraden Zahlen blassblau, vor den ungeraden Zahlen blassgelb und damit in Zweierbündel eingefärbt.
Auf die symbolische Repräsentation werde ich gleich etwas ausführlicher eingehen. Wichtig ist hier zunächst den Unterschied zwischen der enaktiven und der ikonischen Repräsentation hinzuweisen.
In der enaktiven Repräsentation wird Zeit durch die körperliche Bewegung sichtbar: deshalb verweist diese auf die Reihe, während die ikonische Repräsentation, zumindest in ihrer üblichsten Form als visuelle, oft Mengen darstellt. Natürlich können auch hier Reihen dargestellt werden, doch erfordern diese häufig zusätzliche hinweisende grafische Elemente, zum Beispiel Pfeile oder, wie in Mathematikbüchern der Grundschule üblich, hüpfende Mäuse und dergleichen mehr. Beide zusammen verdeutlichen den Mengen- und den Reihenaspekt von Zahlen.

Zahlen

Ikon und Symbol

Was nun die Zahlen angeht, so sind diese zwar einerseits symbolisch. Die Ziffer ›4‹ besitzt so wenig Ähnlichkeit mit den vier Stiften, die vor einem Schüler liegen, wie das Wort ›Hund‹ mit dem Hund des Nachbarn.
Trotzdem besitzen Zahlen einen Rest an Ikonizität, bilden also ein anderes Bild in gewisser Weise ab. Die Bedeutung einer Ziffer innerhalb einer Zahl ändert sich zwar mit dem Platz, an dem sie steht. Aber wo immer auch sie zu stehen kommt, ergibt sie im Gesamtzusammenhang eine Zahl.
Würfelt man dagegen die Buchstaben eines Wortes durcheinander, erhält man auch sinnlose Kombinationen. Dadurch kann man aber auch sagen, dass die einzelnen Stellen in einer Zahl zueinander ein geregeltes Verhältnis besitzen. Sie lassen sich durch Gesetzmäßigkeiten ausdrücken, während der zweite Buchstabe in dem Wort ›Hund‹ kein anderes Verhältnis zu dem dritten hat, als dass diese eben so zusammenstehen müssen.
Die Stellen in einer Zahl beschreiben etwas, wenn auch innerhalb einer streng formalen Norm, während die Stellen in einem Wort rein normativ sind. (Allerdings vernachlässige ich hier die Morphologie von Wörtern, die dann doch eine gewisse Gesetzmäßigkeit erkennen lassen.)

Innere Analogie

Das spezifische innere Verhältnis von Zahlen kann analogisch betrachtet werden: ein Hunderter verhält sich zu einem Zehner wie ein Zehner zu einem Einer. Dieses Verhältnis ist in der Zahl gerichtet und verläuft von rechts (der kleinsten Zahl) nach links (der größten Zahl). Gegenüber dem Zahlenstrahl und dem Hunderterfeld besitzt die symbolisch codierte Zahl einen Vorteil: Sie arbeitet nicht mehr mit räumlichen Proportionen von gleichwertigen Elementen, sondern mit einer gleichartigen Bündelungsart: immer zehn von der nächst niedrigeren Mächtigkeit. Nur so können Einer auf dieselbe Weise gebündelt werden, wie Zehner, Hunderter und Tausender.
Deutlich dürfte sein, dass sich auch hier einige Hürden aufzeigen lassen. Die erste Hürde ist die Richtung. So zeigen die Zahlenstrahlen von links nach rechts, während die Zahl von rechts nach links zeigt. Zudem ist die Benennung der Zahlen gelegentlich anders als die Stellen, die aufgeschrieben werden müssen. Wir sagen zwar ›dreihunderteinundsiebzig‹, aber wir schreiben nicht ›317‹ sondern ›371‹. Wird die Zahl dagegen in ihrer Richtung anders aufgefasst, liest man gelegentlich auch ›713‹.

Kontextbedeutung von Zahlen

Eine andere Hürde kann sich daraus ergeben, dass Zahlen zwar häufig, aber nicht nur zum Rechnen benutzt werden. Wenn Peter im Haus mit der Nummer 5 wohnt, Jörg dagegen mit der Nummer 6, wohnen sie, wenn sie zusammenziehen, nicht automatisch im Haus mit der Nummer 11.
Auch lassen sich aus dem Gewichtsangaben für die Zutaten eines Plätzchenteiges nicht die Anzahl der Plätzchen mathematisch errechnen. Dieses Verhältnis lässt sich nur abschätzen; nun ist abschätzen ebenfalls eine wichtige mathematische Kompetenz, aber eine, die wir hier beiseite lassen wollen.

Bedeutungsvielfalt materialisierter Zahlen

Deutlich aber sollte sein, dass Zahlen in unserer Umwelt nicht nur im streng mathematischen Sinne ordnen, sondern auch noch andere Ordnungs- und Orientierungsfunktionen wahrnehmen können, und dass die Verknüpfung von Zahlen zwar formal möglich, aber häufig nicht praktisch und sinnvoll ist.
Zudem sollte klar geworden sein, dass der formelle Abstand zwischen der Kastanienreihe und dem Zahlenstrahl ein gänzlich anderer ist, als der zwischen einem Zahlenstrahl und dem Aufbau der symbolisierten Zahlen. Insbesondere aber die als Wort ausgeschriebene Zahl bereitet Kindern immer wieder Mühe, da sie eine Unterbrechung der Gerichtetheit beinhalten.

Das Hunderterfeld

Aufbau des Hunderterfeldes

Um die Leistungsfähigkeit der symbolisierten Zahlen zu verdeutlichen, schauen wir uns jetzt das Hunderterfeld an. Das Hunderterfeld enthält die ersten 100 Zahlen, angefangen mit der Eins. Das Feld ist in zehn Zeilen und zehn Spalten aufgeteilt. Werden die Zahlen ausgeschrieben, so steht die Eins in der Ecke links oben, die 100 in der Ecke rechts unten. Von der Eins aus wird zunächst nach rechts weiter gezählt. Sobald die erste Zeile gefüllt ist, wird die zweite von links nach rechts ausgefüllt, und so weiter bis zum letzten Feld.
Die einzelnen Felder stehen dann zusammen mit der Symbolisierung darin für jeweils eine Zahl. Die Gleichförmigkeit wird durch die gleichgroßen Quadrate des Feldes unterstrichen. Allerdings wird die Linearität des Zahlenstrahls aufgebrochen. Und auch die Möglichkeit des Immer-weiter-so, welches manche Kinder im Zahlenstrahl entdecken, scheint das Hunderterfeld nicht zu bieten. Es ist begrenzt, oder wird als begrenzt wahrgenommen.

Problematische Übergänge

Nun kann das Hunderterfeld zwar zur Verwirrung führen; denn zum einen ist für manche Kinder das Wechseln der Zeile beim Abzählen schwierig: sie geraten regelmäßig zum Beispiel beim Übergang von der 30 zur 31 entweder auf die 21 oder die 41. Und zum anderen verwirrt Kinder gelegentlich auch der fast entgegengesetzte Aufbau von Zahlenstrahl und Hundertfeld: ist beim Zahlenstrahl die Zahl durch einen Strich repräsentiert, der Sprung aber durch eine weiße Lücke, so ist im Hundertfeld die Zahl ein weißes Feld, während der Sprung durch die als Strich gezeichnete Abgrenzung zweier Felder dargestellt wird.

Verdeutlichungen

Trotz dieser Unsicherheiten bietet aber dieser Wechsel auch mehrere Vorteile. Die verschiedenen Repräsentationen fördern die Kinder, vom materiellen Substrat abzusehen und den Zahlenraum zu denken. Zum anderen verdeutlicht der besondere Aufbau des Hunderterfeldes den Aufbau der Zahlensymbole. Es erfährt nämlich deutlicher, dass 37 + 6 und 57 + 6 im Ergebnis zum selben Einer führen und in dieselbe Spalte.

Rechenstrategien

Grundlegend müssen Kinder nicht nur das Rechnen im Hunderterraum lernen, sondern vor allem auch Rechenstrategien. Rechenstrategien helfen Kindern, günstigere Rechenwege zu finden und dadurch schneller zu richtigen Ergebnissen zu kommen. Eine Rechenstrategie ist zum Beispiel 99 + 88 in folgender Weise zu rechnen: 100 + 90 und dann 3 abzuziehen. Je länger Zahlen werden, umso eher können und müssen verschiedene Strategien miteinander kombiniert werden. Dann aber ist es günstig, wenn diese vorher gut eingeübt worden sind, so dass sie automatisch gesehen und ausgeführt werden.

Wege zum formalen Denken

Abstrahieren und verinnerlichen

Didaktisch gesehen hat dieser Teil des Mathematikunterrichts zwei Aufgaben, die mehr und mehr zusammengeführt werden: es führt die Kinder von der Materialisierung über die Visualisierung zur reinen Vorstellung, und zugleich führt es sie vom Handeln über das Sehen zum Denken. Der Unterricht hat als Leitlinien die zunehmende Abstraktion und die zunehmende Verinnerlichung und als Ziel das formale Denken.

Mathematisieren

Einen der wichtigsten Aspekte werde ich allerdings nicht beleuchten: das Mathematisieren oder, länger formuliert, das mathematische Modellieren. In der angewandten Mathematik werden mathematische Zusammenhänge in die Umwelt hinein- und herausgelesen. Solche Formalisierungen helfen gerade durch ihre Strenge und ihre begrenzte Sicht auf die Wirklichkeit auch wieder, dieses andere, das Nicht-Formalisierbare, in den Blick zu rücken.

Sachtexte

Tatsächlich bildet aber gerade dieser Aspekt für mich auch noch zahlreiche Hürden. Er ist wesentlich komplexer zu beschreiben als der oben dargestellte. Dass man ihm doch mit einiger Dringlichkeit Aufmerksamkeit zukommen lassen sollte, wird nicht nur daraus verständlich, dass angewandte Mathematik den weitaus größten Teil mathematischer Praxis in wohl jeglicher Kultur ausmacht. Zudem liegt gerade bei der Vermittlung auch für Kinder und Lehrer eine besondere Hürde. Dies sieht man schon alleine daran, dass Sachaufgaben nicht sonderlich beliebt sind.

31.10.2017

Wie trainiert man Kompetenzen?

Gelegentlich fehlen mir meine kurzen, übersichtlichen Artikel, die ich damals auf suite101 geschrieben habe. Die Plattform ist mittlerweile nicht nur geschlossen, sondern auch offline. Zeit, einige der wichtigeren jetzt, zehn Jahre später, noch einmal zu veröffentlichen.

Trainings von Kompetenzen gibt es wie Sand am Meer. Grundlegende Richtlinien für die Qualität existieren noch nicht.
Doch das kann ein Trugschluss sein.
Die Vermittlung von Kompetenzen wird häufig werbewirksam zum Verkauf von Trainings und Coachings, Lehrgängen und Bildungsmaßnahmen eingesetzt. Manchmal erscheint es regelrecht unerwünscht, die Ursachen einer Lehrgangsqualität wissenschaftlich zu ergründen.
Eine wirksame Maßnahme gegen solche Scheinqualitäten ist eine gute Definition des Kompetenzbegriffes. Eine andere wirksame Maßnahme ist die Aufklärung darüber, wie man Kompetenzen aufbaut.

Kognitive Fertigkeiten

Der amerikanische Kognitionspsychologe John Anderson spricht im Zusammenhang mit Kompetenzen von kognitiven Fertigkeiten. Kognitive Fertigkeit sind die Elemente, die eine Kompetenz ausmachen, beziehungsweise umgedreht: Kompetenzen bestehen aus kognitiven Fertigkeiten.
Jetzt ist nur noch die Frage, wie man zu kognitiven Fertigkeiten kommt. Dies allerdings ist ganz einfach: durch Üben.

Üben

Beim Üben passiert, laut Anderson, folgendes: der Mensch nimmt zunächst faktisches Wissen auf, und indem er dieses faktische Wissen "behandelt", verwandelt er es in prozedurales Wissen. Prozedurales Wissen allerdings ist nichts anderes als eine kognitive Fertigkeit.
Hier gibt es einige Dinge zu beachten. Zunächst muss man faktisches Wissen in eine sinnvolle Ordnung bringen. Das Ordnen ist ein mentaler Prozess. Dabei spielen bereits erlernte Kompetenzen eine wichtige Rolle. Sie stellen nämlich die Fähigkeit, neues faktisches Wissen in einen "guten" Zusammenhang zu bringen. Werden diese bereits erlernten Kompetenzen nicht beachtet, kann der Aufbau neuer Kompetenzen mühsam werden oder sogar in eine völlig falsche Richtung davonschießen.
Ist dieser erste Schritt gelungen, dann kann das faktische Wissen eingeübt werden. Einüben ist hier nicht nur an Handlungen orientiert, sondern auch am Durchdenken. Sinnvoller spricht man vom Vernetzen neuen Wissens.
Drittens müssen dann die kognitiven Fertigkeiten automatisiert werden. Automatisieren heißt, dass man sich nicht mehr anstrengen muss, wenn man diese einsetzen will. Hierbei spielen zwei Aspekte eine wichtige Rolle. Kognitive Fertigkeiten gehen oft in das unbewusste Repertoire unserer Handlungsmöglichkeiten über. Damit wir uns unserer Kompetenzen bewusst bleiben, ist ein gleichzeitiger Aufbau von metakognitivem Bewusstsein nötig. Zum anderen ist es wichtig, diese kognitiven Fertigkeiten in einen größeren mentalen Bereich einzubinden. Das heißt konkret: jede Kompetenz bezieht sich auf eine höhere Kompetenz.
Praktisch gesehen kann man jedoch das Automatisieren vom Einüben nicht trennen. Die gut geübte Behandlung von faktischem Wissen führt zwangsläufig dazu.

Kompetenz und Karriere

Häufig werden Kompetenztrainings mit dem Karriereerfolg (als Versprechen) verknüpft. Das ist allerdings mythisch. Eine Qualität von Kompetenztrainings liegt darin, dass der Einsatzbereich klar definiert ist (wo man damit handeln kann). Die andere Qualität eines Kompetenztrainings bestimmt sich dadurch, dass angegeben wird, welche höheren Kompetenzen durch ein Training vorbereitet werden. Es muss, wie man in der Lernpsychologie sagt, die Zone der nächsten Entwicklung definiert sein.
Ob jemand diese Zone der nächsten Entwicklung dann erreichen möchte, ist eine von der Qualität eines Kompetenztrainings unabhängige Entscheidung.
Übrigens können Zustände, wie zum Beispiel das viel beschworene Glück oder der Flow, zwar Ziele sein, aber keine von Trainings.

Elementarisieren

Doch zurück zum eigentlichen Thema.
Wenn Kompetenzen aus kognitiven Fertigkeiten bestehen, dann kann man eine entsprechende Kompetenz in diese zerlegen und einzeln einüben. Diesen Vorgang nennt man Elementarisieren.
Gut aufgebaute Trainings und Lehreinheiten kann man nicht zuletzt dadurch erkennen, dass die einzelnen Einheiten einen sinnvollen Bezug erkennen lassen.
Ein Problem dabei ist, dass häufig verschiedene kognitive Fertigkeiten zusammenwirken müssen, damit sie als gekonnte Performanz erscheinen. Beim Einüben muss also eine zunehmende Vernetzung hergestellt werden, und dies muss sich im Lehrgang widerspiegeln.

Selbsttraining

Man kann auch sich selbst trainieren. Hat man die grundlegenden Mechanismen verstanden, kann man seinen eigenen Lehrgang zurecht schneiden.
Zunächst stellt man fest, welche Kompetenz man erreichen möchte (Zielvorgabe), dann elementarisiert man diese (Teilziele) in Bezug auf bereits vorhandene Kompetenzen, schreibt sich eigene Übungen (Operationalisieren), trainiert sie zunächst in Form von Trockenübungen (Simulation) und probiert diese dann in realen Situationen aus (Transferieren). Abschließend überprüft man den Erfolg (Evaluation).
Während des ganzen Prozesses reflektiert man dabei "kritisch", was man tut (Metakognition) und behält mögliche spätere Weiterentwicklungen im Auge (Kompetenzhorizont, bzw. Zone der nächsten Entwicklung).
Der Vorteil vom Selbsttraining ist natürlich, dass es billiger ist, der Nachteil, dass man keinen erfahrenen Trainer an seiner Seite hat, der einem wesentliche Lernprozesse abkürzen kann.

Fazit

Das Training von Kompetenzen ist ein komplexer Prozess. Der hier vorgeschlagene Weg orientiert sich an kognitionspsychologischen Erkenntnissen. Zumindest ein wichtiges Gebiet fehlt zudem: die Verbindung zwischen Kognitionen und Emotionen. Da gerade dieses Gebiet sehr umstritten ist - bis zu den Überzeugungen, es gäbe eine von der Intelligenz gesondert trainierbaren emotionalen Intelligenz -, muss dieses späteren Artikeln vorenthalten bleiben.

Empfohlene Literatur:
  • Anderson, John R.: Kognitive Psychologie. Heidelberg 1996 , S. 30-33 und S. 269-300

Was ist eine Kompetenz?

Gelegentlich fehlen mir meine kurzen, übersichtlichen Artikel, die ich damals auf suite101 geschrieben habe. Die Plattform ist mittlerweile nicht nur geschlossen, sondern auch offline. Zeit, einige der wichtigeren jetzt, zehn Jahre später, noch einmal zu veröffentlichen.

Der Begriff der Kompetenz wird in Politik, Wirtschaft, Schule oder Coaching gerne genutzt. Definiert wird er selten.
Dabei helfen Definitionen, einen Begriff klarer zu fassen und die Probleme besser zu verstehen, die in der Praxis auftreten. Man kann hier, wenn man bösartig ist, vermuten, dass eine unklare Begrifflichkeit hilft, eigene Probleme und Schwächen zu verdecken. Stattdessen kann man die Kompetenz umso besser zu Werbezwecken einsetzen.
Hier also eine Definition, die sich genauso gut auf den Bereich der Softskills anwenden lässt.

Können und Handeln

Die Kompetenz ist, und daran sollte man nicht rütteln, ein psychologischer Begriff. Er bezeichnet die Fähigkeit, ein bestimmtes Handeln auszuüben. Ob dieses Handeln dann gezeigt wird, ist eine andere Frage.
Das zu einer Kompetenz zugehörige Handeln nennt man Performanz.
Nimmt man zum Beispiel an, dass Humor eine Kompetenz ist, dann ist der witzige Spruch die Performanz (oder zumindest eine Form davon). Es wäre aber unsinnig zu erwarten, dass ein humorvoller Mensch ständig witzige Sprüche macht.

Beobachten

Überdenkt man den Unterschied zwischen Kompetenz und Performanz, dann wird klar, dass man nicht Kompetenzen, sondern "nur" Performanzen sieht. Mit anderen Worten: Performanzen werden beobachtet, Kompetenzen erschlossen.
Oder noch ganz anders gesagt: Kompetenzen muss in einen Menschen hineinbeobachten. Es sind Konstruktionen.
Trotzdem haben Kompetenzen einen gewissen Halt. Ein Mensch, der viel liest, hat mit Sicherheit eine hohe Lesekompetenz. Ein Mensch, der mit vielen verschiedenen Menschen gut und angenehm kommunizieren kann, hat mindestens eine hohe Kompetenz im Smalltalk.
Man kann also formulieren: eine Kompetenz ist dann vorhanden, wenn gewisse Performanzen regelmäßig wiederholt werden können.

Das Problem der Situation

Nicht jede Situation eignet sich für bestimmte Kompetenzen. Zwischen der Kompetenz und der Situation gibt es eine Art Resonanz, die das Handeln aufgrund einer Kompetenz ermöglichen oder behindern.
Von der Gesellschaft her betrachtet muss Kompetenz doppelt ermöglicht werden. Zum einen muss man den Menschen die Möglichkeit geben, Kompetenzen zu erlernen, zum anderen muss man ihnen die Möglichkeit geben, sie zu zeigen.

Bereichsspezifische Kompetenzen

Je differenzierter ein Mensch wird, umso feiner und differenzierter ist sein Handeln. Dem entspricht die differenzierte Gesellschaft. Jeder Mensch nutzt in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen unterschiedliche Kompetenzen. Hier spielt neben dem Aufbau von Kompetenzen auch die Abgrenzung gegeneinander eine große Rolle. Wünschenswert wäre, dass der entscheidungskompetente Geschäftsmann zuhause trotzdem der liebende Ehemann und Vater ist. In der Praxis sieht das leider ganz anders aus. Hier werden häufig bereichsspezifische Kompetenzen vermischt.

Ist kompetentes Handeln zugleich gutes Handeln?

Psychologisch gesehen sollte man sich von moralischen Urteilen fernhalten. Psychologie ist eine Wissenschaft, keine Ethik. Für die Kompetenzen gilt, dass diese zunächst moralfrei erfasst werden müssen. Zwar liest man immer über gute Kompetenzen, selten aber in diesem Zusammenhang über unerwünschte Kompetenzen, wie zum Beispiel Lügen oder Gewalttätigkeit.
Doch natürlich fallen auch solche Negativbeispiele unter den Bereich der Kompetenzen. Erst wenn man eine Kompetenz hinreichend abgegrenzt und dann auch noch wissenschaftlich "bestätigt" hat, kann man sich über Sinn und Zweck der Folgen Gedanken machen. Ein anderer Grund, warum man sich bei Kompetenzen von moralischen Urteilen erstmal fernhalten sollte, liegt darin, dass viele "unangenehme" Kompetenzen entweder einfach nur im falschen Bereich eingesetzt werden, oder zum Beispiel durch Vertiefung und Erweiterung wieder zu gutem, das heißt erwünschtem Handeln führen können.

Fazit

Kompetenzen ermöglichen bereichsspezifisch wiederholbares (und erwartbares) Handeln.

Wie baut man höhere psychische Funktionen auf?

Gelegentlich fehlen mir meine kurzen, übersichtlichen Artikel, die ich damals auf suite101 geschrieben habe. Die Plattform ist mittlerweile nicht nur geschlossen, sondern auch offline. Zeit, einige der wichtigeren jetzt, zehn Jahre später, noch einmal zu veröffentlichen.

Höhere psychischen Funktionen spielen eine wichtige Rolle in unserem Leben. Für den Beruf sind sie wesentlich.
Schon immer haben höhere psychischen Funktionen eine wichtige Rolle in der Schule gespielt. Seit PISA werden sie auch öffentlich stark diskutiert. Neuerdings gibt es sogar beim Coaching und Erwachsenentraining einen deutlichen Wandel.

Was aber sind höhere psychischen Funktionen?

Schaut man sich die Forschungsliteratur an, dann findet man zwei unstrittige Kernfunktionen, die Begriffsbildung und das Problemlösen. Strittiger und uneinheitlicher dagegen sind folgende Funktionen: Kreativität, Metakognition und Transfer.
Vereinfacht gesagt ist ein Begriff eine mentale Struktur, die bestimmte Qualitäten in einen festen Bezug zueinander bringt. Der Begriff "Hund" beinhaltet vier Beine, ein Fell, einen Schwanz, das Bellen und dergleichen mehr. Hier dürfte schon klar sein, dass sich ein Begriff immer an Erfahrungen und Wissen hält. Ein professioneller Hundezüchter würde über diese Definition des Hundes lächeln. im Alltag genügt er aber.
Problemlöseprozesse werden recht unterschiedlich dargestellt und sind anwendungsabhängig. Es ist klar, dass ein mathematisches Problem anders gelöst werden muss, als das Problem, dass man sich langweilt. Grundsätzlich besteht Problemlösen aus vier wichtigen Phasen: der Identifikation des Problems, der Suche nach einer Lösung, dem Lösungsversuch (Umsetzung) und der Bewertung der Lösung.

Der Aufbau höherer psychischer Funktionen

Der russische Psychologe Wygotski schrieb, dass jede höhere psychische Funktion zunächst dialogisch geteilt werde.
Obwohl diese Auffassung durchaus umstritten ist, macht sie Sinn.
So kann jede Mutter (und natürlich jeder gute Vater) sofort nachvollziehen, wie man dialogisch Begriffe aufbaut. Jede Mutter erklärt nämlich ihrem Kind, wie die Dinge heißen, oft benennt sie auch, welche Eigenschaften (sinnlichen Qualitäten) sie haben und was man mit ihnen tun kann. Das Kind fragt nach, spricht über diese Dinge und tut mit ihnen irgendetwas. Die Mutter steht dabei, hilft und korrigiert.
Ähnliches sieht man in der Schule, zumindest bei guten Lehrern. doch auch bei Erwachsenen findet man den Begriffsaufbau, wenn auch auf wesentlich komplexeren Ebenen. Kindliche Begriffe sind häufig auf Gegenstände oder typische Handlungen bezogen, während erwachsene Begriffe auch Funktionen und abstrakte Ideen umfassen. Sogar der Begriff der streitbaren Demokratie beinhaltet den Dialog, in Form des Streits.
Begriffe bestehen also aus Merkmalen und Handlungsmöglichkeiten. Kritische Begriffe, wie der der Demokratie, unterscheiden sich dadurch, dass sie eher aufzählen, welche Merkmale eine Demokratie nicht besitzt und welche Handlungen nicht demokratisch sind. In diesen Grenzen muss man dann seinen Platz finden.
Auch Problemlöseprozesse sind vielfach dialogisch. So helfen Eltern ihren Kindern sehr früh, Probleme zu identifizieren und Lösungsstrategien zu entwickeln. Das fängt schon mit der simplen Frage an: "Na, wo ist der Ball?". Dann wird das Kind ermutigt, dorthin zu krabbeln, wo der Ball liegt. Doch auch der Lehrer, der mit seinen Schülern eine Facharbeit bespricht, und mit ihnen zusammen die nächsten Schritte plant, baut einen Problemlöseprozess dialogisch auf. Schließlich ist jedes gute Coaching aus Problemlöseprozessen aufgebaut. Coaching heißt ja nichts anderes als Nachhilfe.

Kritik

Zunächst mag dieser Ansatz sehr plausibel erscheinen. Es gibt aber zumindest zwei Aspekte, die problematisch sind.
Der eine Aspekt betrifft die Emotionen. Diese sind biologisch angelegt und spielen bei der geistigen Beweglichkeit eine große Rolle. Wie Emotionen und höhere psychische Funktionen zusammenhängen, ist immer noch nicht hinreichend geklärt.
Der andere Aspekt betrifft die geistige Beweglichkeit selbst. Der amerikanische Psychologe John Bruner hat den Begriff der kognitiven Dissonanz eingeführt. Damit werden geistige Zustände bezeichnet, die durch ein "Ungleichgewicht" gekennzeichnet sind und zu einer Umstrukturierung des Denkens führen. Dabei entstehen neue Denkmuster, die nicht dialogisch entstanden sind, und trotzdem zu den höheren Denkprozessen gezählt werden können.
Kritisch zu sehen ist auch der ganze Aspekt der Kreativität. Mit dem dialogischen Ansatz lässt sich nämlich nicht erklären, wie Menschen zu neuen Erfindungen und Entdeckungen kommen können.

Fazit

Der Dialog ist ein wichtiger Bestandteil beim Aufbau komplexer mentaler Prozesse. Eine ausschließliche Erklärung bietet er allerdings nicht.

Literaturempfehlung:
  • Woolfolk, Anita: Pädagogische Psychologie. München 2008, S. 53-60
  • Oerter, Rolf/Montada, Leo: Entwicklungspsychologie. München 2008, S. 92-100
Links:

Linke und rechte Gehirnhälfte - ein taugliches Konzept?

Gelegentlich fehlen mir meine kurzen, übersichtlichen Artikel, die ich damals auf suite101 geschrieben habe. Die Plattform ist mittlerweile nicht nur geschlossen, sondern auch offline. Zeit, einige der wichtigeren jetzt, zehn Jahre später, noch einmal zu veröffentlichen.

Seit 50 Jahren stützen sich Pädagogen und Trainer auf den Unterschied zwischen den Gehirnhälften. Neurophysiologen sehen das kritisch.
"Denk doch mal mit deinem linken Gehirn!" - Diese Aufforderung musste ich mir, dreißig Jahre ist es her, einmal anhören. Nun mag der Leser versuchen, das in die Praxis umzusetzen. Es wird nicht gelingen.

Die beiden Hemisphären

Woher kommt dieser Hype für das linke und das rechte Gehirn? Eine der Quellen dürfte Gabriele Ricos Buch Garantiert schreiben lernen sein. Rico stützt sich in ihrem Konzept direkt auf diese so genannte hemisphärische Lateralität.
Dabei ist die eine Gehirnhälfte (von Rico als linke Hemisphäre bezeichnet) für die Verarbeitung von Einzelheiten, logischen Zusammenhänge oder zum Beispiel grammatische Regeln zuständig.
Die andere Gehirnhälfte (Rico: rechte Hemisphäre) sei dagegen bildlich, orientiere sich an Ganzheiten, sei synthetisch, und so fort.

Populäre Ideen

Der amerikanische Neurowissenschaftler John Bruer kommentiert die hemisphärische Lateralität und vor allem ihrer Anwendung in der Pädagogik folgendermaßen:
"Rechte Hirnhälfte - linke Hirnhälfte ist eine der populären Ideen, die nie aussterben werden. Spekulationen über die pädagogische Bedeutung der Hemisphärenspezialisierung kreisen seit 30 Jahren in der pädagogischen Literatur. Obwohl wiederholt von Psychologen und Neurowissenschaftlern kritisiert und verworfen, gehen die Spekulationen weiter."
Sehr beliebt ist die Idee, die rationale Hirnhälfte unterdrücke die emotionale. Und damit ist von unerwünschten Vorschlägen (siehe oben) bis zu teuren Seminaren alles drin. Unterdrückung ist verboten, vor allem bei Gehirnhälften.

Funktionelle Asymmetrie

Wegwischen darf man allerdings das grundlegende Prinzip der Lateralität nicht. Der eigentliche Gedanke, der dahinter steht, ist aber folgender: ein Teil im Gehirn kann etwas anderes als ein anderes Teil. Es gibt zwischen den zwei verschiedenen Gehirnteilen eine funktionelle Asymmetrie. Solche funktionellen Asymmetrien allerdings findet man massenweise in jedem Gehirn; sie besagen ja nichts anderes als eine "Arbeitsteilung".
Die Lateralität spielt als organisches Prinzip (zwei Gehirnhälften) eine wichtige Rolle. Aber sie bestimmt mehr als nur eine funktionale Asymmetrie.

Laterale Unterschiede

Der offensichtlichste Unterschied zwischen linker und rechter Gehirnhälfte ist die Bewegungssteuerung. Die rechte Hemisphäre trägt die Zentren für die Steuerung der linken Körperhälfte und umgekehrt die linke Hemisphäre für die rechte Körperhälfte.
Der rechte und linke Parietallappen (unter dem hinteren Scheitel) ist tatsächlich so ähnlich, wie Rico dies beschrieben hat, organisiert. Ähnlich heißt: nicht gleich. Im rechten Parietallappen dominiert die räumliche Lokalisation, die Konstruktion des Raumes und die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Im linken dagegen werden vor allem symbolisch-analytische Informationen verarbeitet. Er ist für das Rechnen, die Sprache (und einiges anderes mehr) zuständig.
Im temporalen Assoziationscortex finden sich ähnliche laterale Phänomene. So sitzt meist in der linken Hemisphäre das Wernickesche Sprachzentrum, das für einfaches Sprachverständnis zuständig ist. In der rechten Hemisphäre finden sich im temporalen Assoziationscortex das Erkennen komplexer visueller Objekte und Situationen. Das ist ja allerdings sehr einfach gesagt. Eigentlich spielen diese Zentren nur eine wichtige Rolle bei diesen Vorgängen, arbeiten aber mit anderen Hirnzentren zusammen.

Entwicklung der Lateralität

Zudem scheint es deutlich alterstypische Unterschiede in der Lateralität zu geben. So bildete sich die Hemisphären-Asymmetrie mit zunehmendem Alter zurück, ohne ganz zu verschwinden.
Auch in der Kindheit gäbe es Unterschiede. Bei Mädchen würde sich die Lateralität mit sechs Jahren ausprägen, bei Jungen sogar erst mit zwölf Jahren.
Alle diese Thesen sind aber höchst umstritten, und gelten, wenn, dann nur für bestimmte hemisphärische Asymmetrien. Hier wurden einige genannt. Es gibt noch viele weitere.

Pädagogische Relevanz

Gibt es überhaupt wichtige Schlussfolgerungen aus der hemisphärischen Spezialisierung?
Angesichts der bei allen Fortschritten doch noch recht unsicheren neurowissenschaftlichen Forschung sollte man mit raschen Übergriffen in die Praxis und ad-hoc-Lösungen äußerst vorsichtig sein.
Viel wichtiger aber ist, dass man in der pädagogischen Arbeit, sei es mit Kleinstkinder, mit jungen Erwachsenen oder mit Managern, nicht Gehirne, sondern Verhalten beobachtet. Und auch wenn die Neurowissenschaften mittlerweile einige Rahmenbedingungen für das menschliche Verhalten angeben können, sollte man sich in der konkreten Situation an das Sinnliche und Greifbare halten.

Fazit

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Hirnhälften. Da aber das Gehirn insgesamt auf Unterschieden beruht, und da man in der konkreten Situation trotzdem nicht nachprüfen kann, was im Gehirn passiert, sollte man auf weit reichende Schlussfolgerungen verzichten.

30.10.2017

Den Konservatismus wegtwittern

Gerade lese ich zur sogenannten Säkularisierungsdebatte, die das intellektuelle Leben der jungen Bundesrepublik stark beschäftigt hat. Der Hintergrund dieser Debatte ist nicht nur philosophisch, sondern auch zeitgeschichtlich spannend. Hier seien kurz einige Eckpunkte genannt: der Begriff der Säkularisierung wird prominent mit dem Westfälischen Frieden verbunden, der den Dreißigjährigen Krieg beendete. Gestritten wurde damals darum, ob die „Liquidation geistlicher Herrschaft“ rechtmäßig sei, bzw. wie diese Rechtmäßigkeit herzustellen sei. Dass dieses Datum für die junge Bundesrepublik noch einmal eine wichtige Auseinandersetzung anstieß, lag auch daran, dass durch Carl Schmitt Richtlinien für die Auseinandersetzung vorgegeben worden waren, die von einem demokratischen Staatsdenken nicht ungeprüft übernommen werden konnten.
Carl Schmitt schrieb nämlich:
Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre sind säkularisierte theologische Begriffe.
Dabei schwankt der Satz zwischen deskriptiver und präskriptiver Wirkung, ist also entweder eine Feststellung oder eine Normierung. Oder eben vielleicht auch bewusst beides.
Dass man Carl Schmitt nicht unbedingt folgen wollte, ist verständlich. Schon als deskriptive Aussage kann diese Bauchschmerzen bereiten, ist doch ein Begriff durch eine klare Intension geprägt, also ahistorisch zu lesen. Verändert sich die Intension, hat man es mit einem anderen Begriff zu tun, selbst wenn dieser unter der gleichen Benennung genutzt wird. Einen kurzen Einblick in diese Debatte bieten Ernst Müller und Falko Schmieder in ihrem Buch Begriffsgeschichte und historische Semantik, wobei sie besonders auf Hans Blumenberg eingehen, der nicht als Staatsrechtstheoretiker, aber doch mit gewichtigen Argumenten beteiligt war.
Den beiden Autoren ist auch zu verdanken, dass ich Blumenbergs frühes Hauptwerk Die Legitimität der Neuzeit noch einmal anders lese, nämlich nicht als kritische Geschichtsschreibung, sondern als kritische Aktualisierung der Geschichte für aktuelle Diskussionen. Da ich weder Historiker noch Staatsrechtstheoretiker bin, fällt es mir schwer, ohne Hinweis solche Bezüge zu herzustellen. Umso dankbarer bin ich den beiden Autoren für ihr kluges und informatives Werk.
Nun kann man einen Teil der Debatte aus dem Internet ausgraben. Das ist angenehm. Was mich daran jenseits der damals herrschenden politischen Lager begeistert, das ist der hohe intellektuelle Anspruch, der an das Thema herangetragen wird. Ich bin mir ziemlich sicher, dass mir zum Beispiel ein Hermann Lübbe auf Dauer nicht zusagen wird. Schon in den Anfängen lässt er ahnen, dass er eine vorgeprägte, vermutlich rechtskonservativ-kirchliche Sicht auf die Ursachen des Nationalsozialismus hat. Ich halte diese Suche nach den Ursachen insoweit für sekundär, als die ethisch-politischen Implikationen aus dem Dritten Reich nur durch eine Verantwortung und damit durch einen Bruch mit dem schuldhaften Verhältnis (also gerade nicht einer Verdrängung oder Leugnung oder auch nur einem Absehen von der eigenen Verstricktheit) erfüllt werden können.
In gewisser Weise also reizt mich das Niveau, auch das Niveau der konservativen Denker.
Schaue ich mir dagegen an, was sich heute als Konservatismus präsentiert, so muss ich zunächst nicht Kritik an den vertretenen Werten üben, sondern an dem allzu erbärmlichen Niveau. Man hat sich ja viel über die Kyffhäuser-Rede von Gauland aufgeregt, insbesondere über seinen Satz, dass man auf die Leistungen der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg stolz sein dürfe. Nun ist das gerade keine Geschichtsklitterung, sondern ein als Patriotismus getarnter Zynismus. Ich weiß nicht, was das für eine Leistung sein soll, dass sich deutsche Soldaten für ein Unrechtsregime in einen mörderischen Krieg gestürzt haben und darin massenweise gestorben sind. Mitleid wäre hier das richtige Wort gewesen, Mitleid für die Verblendung, Mitleid auch für den Tod so vieler Deutscher.
Ein anderer Skandal aber ist, wie Gauland aus einem der größten deutschen Dichter, Heinrich Heine, einen Stammtischbruder und Stichwortgeber für sein eigenes, verängstigtes Weltbild macht. Es ist nun wahrlich keine Leistung, einzelne Sätze eines Werkes in die eine oder andere Richtung und vor allem zu seiner Bequemlichkeit hinzudrehen. Das schafft jeder Backfisch-Interpret. Das ist jeglichen intellektuellen Niveaus unwürdig, aber leider allgemein der Ton, mit dem Alexander Gauland auftritt und sich als guten Deutschen und rechtmäßig Konservativen feiern lässt. In Wahrheit hat er sich damit sogar aus den Ansprüchen konservativer Vordenker ausgeschlossen.
Wie sich die Nationalisten aus dem intellektuellen Zusammenhang heraustwittern, also gerade keinen neuen Rechtsintellektualismus betreiben, muss man dann kaum noch erklären. Der blinde Affekt siegt. Das Drumherum ist keine Diskussion und Argumentation mehr, sondern nur noch vernebelnde Suade. Die gehört aber nicht in den Bundestag, sondern in die Therapie.

29.10.2017

Begriffsgeschichte

Ich würde die Begriffsgeschichte, die Ernst Müller und Falko Schmieder letztes Jahr veröffentlicht haben, gerne mit "glühenden Ohren" lesen; doch immer wieder muss ich abbrechen, nachdenken, und - revisionieren. Das Thema ist durchaus komplex. Umso verdienstvoller ist, dass die beiden Autoren recht verständlich schreiben, wenn auch nicht ohne ein halbwegs gutes Wissen zur Philosophie der letzten zwei Jahrhunderte vorauszusetzen und auch ein Wissen darum, was die Philosophen heute antreibt.
Jedenfalls entdecke ich Gedankenfiguren in meinen fortlaufenden Fragmenten, die aus den mir neuen Sichtweisen heraus als bieder, ungeschichtlich, teilweise mystizistisch verklärend gelten können. Das werde ich vielleicht noch einmal genauer darstellen. Jetzt darf ich mich erstmal uneingeschränkt der Krise hingeben. Nun gut, ganz so krisenhaft ist diese Krise dann doch nicht.
Leicht gebauchpinselt habe ich mich gelegentlich auch gefühlt, habe ich doch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in der Kürze, wie Müller/Schmieder diese darstellen, einen gewissen Anschluss an meine Arbeit an den literaturwissenschaftlichen Motiven gefunden. Diesem sind die Begriffe Funktionen, bestehend aus den beiden abstrakten Operatoren des (Wieder-)Erkennens (also dem Identifizieren von Merkmalen) und des Transformierens; diese hatte ich, nach meinem veröffentlichten Ausflug in die Ethnovulkanologie, mehr und mehr in dieselbe Konstellation gebracht, mit dem Unterschied, dass meine Motive eher launige Konstellationen von Begriffen sind.
Ein zentrales Motiv in der Begriffsgeschichte kann man in der Stillstellung finden. Diese wird von verschiedenen Denkern verschieden betrieben, mal als fortlaufende Objektivierung, bei der die Bewegung sich auf den Horizont einer gereinigten, rationalen Wissenschaft zubewegt, einmal als Rückkehr, bei der die Reinheit der ursprünglichen Denker die folgende Geschichte als Verfall und Zerfall gegenübergestellt wird, einmal als Variation des hintergründig Immergleichen, sei es als Existentialien, sei es als die nicht aufzulösenden existentiellen Probleme, sei es als anthropologisch verankerten Urelemente. Schließlich findet sich im Denken eines Bedeutsammachens aus der Jetztzeit heraus noch die Verewigung und damit Stillstellung der reinen Gegenwart, die das Kunststück vollbringt, aus dem Im-Moment-sein ein ahistorisches Prinzip zu destillieren.
Wichtig daran ist aber, dass die Geschichte selbst je nach Auslegung einen historischen Index besitzt. Ihre Bedeutung hat sich nicht nur entlang von Begriffen verschoben; sie etabliert selbst die Zeitbegriffe, mit denen sie Geschichte dann als objektives Unternehmen aufschließt. Damit muss sie sich selbst aber auch als unhistorische oder zumindest potentiell unhistorische begreifen. Das mag den hartnäckigen Glauben an den Fortschritt erklären, der nicht für die Geschichte, aber für die Geschichtswissenschaft gelten soll. Denn wäre die Geschichtswissenschaft selbst Teil der Geschichte, wäre sie, wie alle anderen Phänomene, von der Kontingenz ebenso betroffen wie alle anderen historischen Phänomene.

24.10.2017

Abstrahierend-konkretisierende Reihung und gleichbleibender Aspekt

Wird eine Materialisierung nur unter einem bestimmten Aspekt betrachtet, dann kann man durch eine Reihung von Materialisierungen mit unterschiedlicher Abstraktion, bzw. Konkretion darauf hinweisen, dass darin trotzdem eine Gleichheit zu finden ist, die eine bestimmte Erkenntnis erst ermöglicht.
Die Reihung dient dann vor allem dazu, das Übersehen und Wegsehen zu thematisieren.
(zur Mathematikdidaktik)

(Ich mache mal wieder Ernst damit, Fragmente aus dem täglichen Fluss meines Nachdenkens und Kommentierens zu veröffentlichen. Das wird zwar nicht geliebt; ich finde es allerdings ungemein beruhigend, solche "Nebensächlichkeiten" in den Raum zu stellen. Schließlich muss jeder für sich selbst weiterdenken, ob lange Abhandlung, ob Fragment. Das Fragment ist da, in Bezug auf den Leser, ehrlicher: es präsentiert nichts fertiges.)

Nachahmung und Modell

Die Analogie ist eine Übertragung einer Struktur, nicht einer Ähnlichkeit.
Diese Behauptung kann man allerdings nicht ganz so einfach stehen lassen: wenn ich sage, dass sich die Beine eines Hundes zu dem Hund selbst wie die Räder eines Autos zu dem Auto verhalten, dann handelt es sich um eine Verbalmetapher, die durchaus eine gewisse „Ähnlichkeit“ impliziert. Es ist eben eine ähnliche Bewegung. Und ich kann die Ähnlichkeit dadurch deutlich machen, dass ich sage: Der Hund ist von Ort A zu Ort B mithilfe seiner Beine gelangt; und ebenso ist das Auto von Ort C zu Ort D mithilfe seiner Räder gefahren; beides war ein Ortswechsel, und wie die Qualität dieses Ortswechsels war, ist an dieser Stelle nicht so interessant.
Und was ist daran anders, als wenn ich das Modell unseres Sonnensystems auf das Modell des Atoms übertrage, oder wenn ich den Uroboros auf den Benzolring anwende?
Denn offensichtlich sind sich die beiden Modelle jeweils immer ähnlich; und wie das Atom und der Benzolring aussehen, weiß ich immer noch nicht. Dazu fehlt mir die sinnliche Wahrnehmung des Originals.
Kann man dann überhaupt etwas aus dieser Analogie schließen? Nun, offensichtlich liegt ja ein Erklärungswert darin, und darauf kommt es wohl an.

Kultur, mal von unten, mal von oben

Wohin man manchmal getrieben wird. Da haben mich meine Schüler bei den Sachaufgaben vor ein Rätsel gestellt. Diese wurden auf ganz unterschiedliche Arten und Weisen gelöst, manche der Schüler wussten sofort, worum es ging, andere haben selbst bei genauem Nachfragen und Herausarbeiten nur mit Mühe ein Ergebnis erhalten.
Nun habe ich die letzten Tage an den entsprechenden Seiten Mathefreunde 2 und 3 (Cornelsen-Verlag) und deren Darstellung in den Handreichungen für den Unterricht (das sind Vorschläge für den Lehrer, wie er seinen Unterricht gestalten könnte) gearbeitet. Ich war unzufrieden. Aus irgendeinem Grund habe ich nicht genau genug oder nicht das richtige beobachtet. Und so bin ich auf die Idee gekommen, mich wieder einmal expliziter der Ethnomethodologie und der Ethnographie zu beschäftigen.

Kultur

Die Ethnomethodologie beschränkt sich aus bestimmten Gründen auf die Alltagswelt. In ihr handeln Menschen; die Handlungen sind die Phänomene, die die Alltagswelt ausmachen. Redet der Ethnomethodologe von Handlungen, redet er zugleich von der Alltagswelt. Die Alltagswelt allerdings umfasst mehr als nur die Handlungen selbst, sondern besteht auch darin, wie diese Handlungen sich in ihrer Situation sichtbar machen. Dadurch kommt die Materie, andere Menschen und die Zeit in den Alltag hinein. Jede Handlung nimmt Bezug auf Gegenstände, Veränderungen und andere Sichtweisen.
Unter diesen Voraussetzungen kann Kultur nur als ein offenes Ergebnis betrachtet werden. Sie setzt sich aus unzähligen Situationen zusammen. Da der Ethnomethodologe von der Situation ausgeht, kann er zwar die Kultur als ein begründetes Phänomen ansehen, aber nicht als begründendes Mittel seiner Forschungen verwenden.
Aus den theoretischen Vorannahmen heraus kann man hier von einer bottom up-Betrachtung der Kultur sprechen; lokale und klassifizierende Verweise wie „in Hamburg am Hauptbahnhof“ oder „Deutsch sprechend“ sind nur zum Teil Symptome. Versteht man nämlich Symptome als undeutliche Nachbarschaften, so lässt sich das Attribut „deutsch“ nur als möglicherweise relevant deuten. Die Frage ist zuallererst, was an Handlungen beobachtbar ist; und hier sind globale und klassifizierende Verweise zu abstrakt und ungenau, um bei der Beschreibung einer lokalen Kultur angewandt werden zu können. Deshalb sind die Kulturen, von denen der Ethnomethodologe spricht, immer lokale Kulturen, nie nationale.
Nationalisten dagegen neigen dazu, einen umgekehrten Weg zu gehen, nämlich von der Behauptung einer umfassenden Kultur zu ihrer normierten Existenz überzugehen. Man kann hier von einer top down-Betrachtung der Kultur sprechen. Das Problem einer solchen Betrachtungsweise wiederum besteht darin, dass die Normierung über das Empirische siegt und damit ideologischen Mechanismen wie der Extrapolation, der mythischen Zeit (als der Wiederkehr des Gleichen) oder der nationalen Involution gehorcht.

Zwei Arten von Gesetzen

Was die beiden Betrachtungen der Kultur so explizit schwierig macht, ist ihr gemeinsames Auftreten in der demokratischen Verfassung. Zwar beruft sich die demokratische Verfassung nur noch sehr allgemein auf eine Kultur und bestimmt diese auch nicht, aber in den Gesetzen ist zum Teil sehr eindeutig geregelt, was erlaubt, und was nicht mehr erlaubt ist. Das Mögliche wird eingeschränkt und damit eine normative Sicht auf die Kultur durchgesetzt. Auf der anderen Seite werden aber viele Freiheiten zugestanden, so dass sich hier mehr oder weniger lokale Kulturen herausbilden können.

Diagnose und Richtigkeit

Parallel dazu finde ich dieser Betrachtung ein Problem des Unterrichtens wieder. Wenn man zum Beispiel das Rechnen im Tausenderraum einübt, spielen die Fehler, die die Kinder machen, eine wichtige Rolle. Auf der anderen Seite will man solchen Fehlern nicht allzu viel Raum geben: die Zeit, die man als Lehrer hat, um bestimmte fachliche Inhalte zu vermitteln, ist begrenzt. Dann setzt man die richtige Art und Weise der Handlung durch Vormachen und Einüben, geht also normativ vor.
Bedenkt man, dass die Fehler über den Einzelfall hinaus auch eine Bedeutung für die Art und Weise besitzt, wie ein Kind sein Lernen organisiert, und dadurch den Pädagogen Hinweise auf weitere Förderung geben, ist ein normatives Vorgehen nicht angebracht. Man müsste, konsequenterweise, den Lernstoff sich entwickeln lassen. Auf der anderen Seite ist aber ein solches laissez faire nicht nur zeitraubend, sondern oft auch im Ergebnis unbefriedigend. Schließlich muss man auch zugestehen, dass der Lehrer selbst seine alltägliche Unterrichtspraxis nur dadurch sichtbar macht, wenn er sich in die Unterrichtssituation einbringt – zumindest kann man dies nicht nur nach dem Alltagsverständnis behaupten, sondern auch nach den Prämissen der Ethnomethodologie. Schließlich aber würden Fehler nicht als Fehler beobachtet werden können, wenn diese nicht an einer Richtigkeit gemessen worden wären. Die Richtigkeit einer Addition mag zwar auf den ersten Blick einen rein formellen Charakter besitzen. Im Zuge des Unterrichtens aber erhält sie einen gewissen moralischen Wert.

Gesellschaft und Interaktion

Alles, was in der Gesellschaft passiert, passiert als Interaktion. Gesellschaft bildet dabei den verborgenen Hintergrund, auf dem die Situationen als Phänomene erscheinen (so Zimmerman/Pollner 1976, S. 87). Deutlich schärfer formuliert Niklas Luhmann diese Differenz. Gegenüber der Metapher des Hintergrundes äußert er den Vorbehalt, dass sich die hohe Komplexität von Gesellschaft „weder auf Individuen noch auf deren Interaktionen zurückführen lassen“ (Luhmann 1986, S. 552). Dem Symbolischen Interaktionismus (und damit in gewisser Weise auch gegenüber den Vertretern der Ethnomethodologie) bescheinigt er eine eingeschränkte theoretische Reichweite:
Für Vertreter des Symbolischen Interaktionismus besteht die Gesellschaft, im Unterschied zur Interaktion, aus Individuen (oder: aus Individuen-in-Interaktion); aber die Individuen werden in der Interaktion erst konstituiert, sind also psychisch internalisierte soziale Artefakte. Damit wird das, was wir als unterschiedliche Konstitutionsformen sozialer Systeme behandeln werden, letztlich in psychische Systeme zurückverlagert, nämlich auf die Differenz von personaler und sozialer Identität zurückgeführt. Nur dadurch, dass Individuen diese Differenz zu handhaben wissen, entsteht über Interaktion hinaus Gesellschaft. (Luhmann 1996, S. 551)
Für Luhmann ist die Interaktion zwar ein konstitutiver Teil von Gesellschaft, doch ist diese darüber hinaus auch von anderen Faktoren bestimmt. Er bestimmt dann die Interaktion in einer Art und Weise, zu der man die Metapher des Hintergrunds in paradoxer Weise auslegen kann:
Interaktionen sind Episoden des Gesellschaftsvollzugs. Sie sind nur möglich aufgrund der Gewissheit, dass gesellschaftliche Kommunikation schon vor dem Beginn der Episode abgelaufen ist, so dass man Ablagerungen vorangegangener Kommunikation voraussetzen kann; und sie sind nur möglich, weil man weiß, dass gesellschaftliche Kommunikation auch nach Beendigung der Episode noch möglich sein wird. … Die Interaktion vollzieht somit Gesellschaft dadurch, dass sie von der Notwendigkeit, Gesellschaft zu sein, entlastet wird. (Luhmann 1986, S. 553)
Mit anderen Worten: die Interaktion nutzt die Gesellschaft als Hintergrund, aber die Gesellschaft ist nicht der Hintergrund der Interaktion.
Ich darf hier vielleicht hinzufügen, dass sich auch darin ein Grund finden lässt, warum eine rein normative Bestimmung von Kulturen nur in Interaktionen möglich ist und – folgt man Luhmann – keinen umfassenden Erklärungswert besitzt. Insofern sich der Nationalismus auf eine Gesellschaft durch Interaktion beschränkt, verfehlt er eine angemessene Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklungen (und noch einmal zur Vorsicht gesagt: dies ist keine Aussage über irgendwelche Parteienmeinungen zur sogenannten „Flüchtlingskrise“ oder zur „schleichenden Islamisierung“; wie sich das eine zum anderen verhält, erforderte längere Argumentationsgänge, längere, als ich hier liefern kann, längere, als aus dem rechten Lager zu hören ist).
  • Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt am Main 1986
  • Zimmerman, Don H./Pollner, Melvin: Die Alltagswelt als Phänomen. in Weingarten, Elmar/Sack, Fritz/Schenkein, Jim: Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns. Frankfurt am Main 1976, S. 64-104