29.10.2017

Begriffsgeschichte

Ich würde die Begriffsgeschichte, die Ernst Müller und Falko Schmieder letztes Jahr veröffentlicht haben, gerne mit "glühenden Ohren" lesen; doch immer wieder muss ich abbrechen, nachdenken, und - revisionieren. Das Thema ist durchaus komplex. Umso verdienstvoller ist, dass die beiden Autoren recht verständlich schreiben, wenn auch nicht ohne ein halbwegs gutes Wissen zur Philosophie der letzten zwei Jahrhunderte vorauszusetzen und auch ein Wissen darum, was die Philosophen heute antreibt.
Jedenfalls entdecke ich Gedankenfiguren in meinen fortlaufenden Fragmenten, die aus den mir neuen Sichtweisen heraus als bieder, ungeschichtlich, teilweise mystizistisch verklärend gelten können. Das werde ich vielleicht noch einmal genauer darstellen. Jetzt darf ich mich erstmal uneingeschränkt der Krise hingeben. Nun gut, ganz so krisenhaft ist diese Krise dann doch nicht.
Leicht gebauchpinselt habe ich mich gelegentlich auch gefühlt, habe ich doch in Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, in der Kürze, wie Müller/Schmieder diese darstellen, einen gewissen Anschluss an meine Arbeit an den literaturwissenschaftlichen Motiven gefunden. Diesem sind die Begriffe Funktionen, bestehend aus den beiden abstrakten Operatoren des (Wieder-)Erkennens (also dem Identifizieren von Merkmalen) und des Transformierens; diese hatte ich, nach meinem veröffentlichten Ausflug in die Ethnovulkanologie, mehr und mehr in dieselbe Konstellation gebracht, mit dem Unterschied, dass meine Motive eher launige Konstellationen von Begriffen sind.
Ein zentrales Motiv in der Begriffsgeschichte kann man in der Stillstellung finden. Diese wird von verschiedenen Denkern verschieden betrieben, mal als fortlaufende Objektivierung, bei der die Bewegung sich auf den Horizont einer gereinigten, rationalen Wissenschaft zubewegt, einmal als Rückkehr, bei der die Reinheit der ursprünglichen Denker die folgende Geschichte als Verfall und Zerfall gegenübergestellt wird, einmal als Variation des hintergründig Immergleichen, sei es als Existentialien, sei es als die nicht aufzulösenden existentiellen Probleme, sei es als anthropologisch verankerten Urelemente. Schließlich findet sich im Denken eines Bedeutsammachens aus der Jetztzeit heraus noch die Verewigung und damit Stillstellung der reinen Gegenwart, die das Kunststück vollbringt, aus dem Im-Moment-sein ein ahistorisches Prinzip zu destillieren.
Wichtig daran ist aber, dass die Geschichte selbst je nach Auslegung einen historischen Index besitzt. Ihre Bedeutung hat sich nicht nur entlang von Begriffen verschoben; sie etabliert selbst die Zeitbegriffe, mit denen sie Geschichte dann als objektives Unternehmen aufschließt. Damit muss sie sich selbst aber auch als unhistorische oder zumindest potentiell unhistorische begreifen. Das mag den hartnäckigen Glauben an den Fortschritt erklären, der nicht für die Geschichte, aber für die Geschichtswissenschaft gelten soll. Denn wäre die Geschichtswissenschaft selbst Teil der Geschichte, wäre sie, wie alle anderen Phänomene, von der Kontingenz ebenso betroffen wie alle anderen historischen Phänomene.

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