28.05.2016

Man fühlt sich immer ein wenig besudelt

Ich fühle mich immer ein wenig besudelt, wenn ich mich mit Menschen unterhalte, eigentlich ja: streite, die versuchen, eine Art von „völkischer“ Einheit zu behaupten, sei es durch Genetik und genetische Abstammung, sei es durch Kultur und kulturelle Abstammung.
Gerade habe ich zwei solcher Exemplare kennengelernt. Nein, mehrere, aber daran bin ich wohl selbst Schuld, wenn ich diese "Nationalisten" und "Gutdeutschen", aber eigentlich "Dummdeutschen", beobachte. Und wieder einmal bestätigt sich die Lehre, dass sich Einheit nur durch einen recht unvernünftigen Reduktionismus herstellen lässt.
Das Problem jeder Vereinheitlichung ist doch, dass sie die Unruhe auslagert, die allem Lebendigen eigen ist; es ist eine Art Selbstabtötung. Ich frage mich, ob es gerade das ist, was diese "Verteidiger der deutschen Kultur" nicht ertragen können, und was sie umso sicherer an anderen wiederfinden. (Und es ist übrigens kein Einwand, dass dies andere politische Gruppierungen auch machen: dass der IS menschenverachtend ist, bedeutet noch lange nicht, dass der deutsche "Widerstand" menschenfreundlich sei.)

23.05.2016

Danke, liebe Welt!

Da rennt man durch die Welt, um sich etwas zu besorgen, was einem die Einsamkeit erleichtert, also zum Beispiel ein Buch über JavaScript. Und dann kommt man nach Hause und stellt fest, dass die Welt immer noch da ist, also zum Beispiel auf dem Internet. Und irgendwie ist das Internet wirklich voller Welt.
Mehr als einen Blick habe ich also noch nicht in das Buch werfen können. Schade. Ein wenig hätte ich gerne heute noch programmiert. Aber zunächst gab es diesen "Wahlkrimi", den aus Österreich. Dann den Tag des Grundgesetzes, dessen 67. Geburtstag. Und dann kamen natürlich noch andere Sachen hinzu: die Wochenfrage, etwas Kunst, etc.

Österreichischer Gewinner

Ich bin ja dankbar. Dankbar, dass die Österreichische Republik keinem rechtspopulistischen Politiker in die Hände fällt. Von einem Sieg, einem Gewinner, einem Aufatmen weiß ich aber nichts. Demokratie ist ein Prozess, kein punktuelles Ereignis; was also gewonnen wurde, das steht in den Sternen. Es ist, so möchte ich doch befürchten, noch nicht die Demokratie.
Und überhaupt die Metaphern! Sieg, Kapitulation, Niederlage. Sind wir demokratisch oder ziehen wir in den Krieg? Seien wir also vorsichtig, was diesen "Sieg" angeht. Österreich muss sich ändern. Hier konnten breite Wählerschichten für eine Partei gewonnen werden, die frauenfeindliche und antihumanistische Thesen vertritt. Trotzdem ein "Grüner" gesiegt hat. Das mag dann das kleinere Übel sein. Groß genug jedenfalls bleibt das Übel.
Nein, von Sieg mag ich nicht reden.

Argumentieren

Mit einiger Genugtuung entdecke ich meinen Wortlaut wieder, den ich in früheren Artikeln angeschlagen habe. Namentlich das Argumentieren, dem ich seit Jahren nachgehe. Habe ich vor einigen Jahren den Verlust des Argumentierens beklagt, habe ich mir über die Narrative Intelligenz Gedanken gemacht, die Die Kunst des klaren Denkens, Lewitscharoff und die Bio-Politik, über schriftstellernden Frauen, den BER, oder Simon Beckett's Roman Leichenblässe: all dies hat mich noch nicht ans Ende meiner Reise geführt.
Gelegentlich wird mir Arroganz vorgeworfen. Ich mag diesen Vorwurf nicht. Zu oft habe ich erlebt, dass beim Gegenüber keine Meinung vorhanden war, oder dass das Gegenüber einfach Macht besitzen wollte, gleich ob diese inhaltlich gerechtfertigt war oder nicht (und meist ja nicht). Es gab keine Menschen, an denen ich hinaufwachsen konnte (um mal den Nietzscheschen Duktus zu verwenden). Obwohl: ein paar Menschen in meiner Umgebung werde ich mit dieser Behauptung nicht gerecht. Ich beherrsche das Argumentieren nicht; so würde ich gerne sagen, weil ich durchaus nicht alles zum Argumentieren kenne, weil ich immer noch am Lernen bin, weil es keine Beherrschung gibt, wenn es nicht zugleich eine Vollständigkeit gibt. Aber das scheint dann zu implizieren, dass ich vom Argumentieren gleich gar nichts verstünde: und ganz so ist es eben doch nicht.
Ja, in Deutschland darf man sich gerne wieder mehr auf die deutsche Kultur besinnen. Darin stimme ich sogar mit Neonazis überein. Dann jedoch, jenseits dieses oberflächlichen Satzes, hört die Gemeinsamkeit meist schon auf. Kant, den zu lesen, das wäre doch was, um argumentieren zu lernen. Obwohl man sich da durchaus an Moderneres halten darf. Karl Popper? - Nicht schlecht. Adorno? Arendt? - Aber es ist wohl immer noch Wunschdenken, heilloses Wunschdenken, dass sich die Deutschen endlich auf ihre vielfältige Kultur besinnen und diese nicht nur plärrend behaupten, sondern zuallererst inhaltlich auffüllen.
Trotzdem: es wird besser. In diesen dunkler werdenden Zeiten kann das beruhigen, ein wenig.

JavaScript

JavaScript ist es also, um das ich mich eigentlich kümmern wollte; nicht um die grundlegenden Sachen, denn die sind mir seit Jahren vertraut. Sondern bei den größeren Zusammenhängen; dem Zusammenwirken von Datenstrukturen und operativen Ketten, der Trennung von V-Methoden, E-Methoden und A-Methoden (entlang des EVA-Prinzips), und so etwas eben.
Vielleicht wird es ja morgen etwas. Oder übermorgen. Vielleicht gibt es solche Tage, an denen die Welt so klein wird, dass sie das Programmieren ermöglicht.

22.05.2016

dieses ungebremste Pathos

Argumentieren muss man wohl nicht mehr können. Es reicht, dem Gegner vorzuwerfen, er könne nicht argumentieren, um selbst zum Argumentationsexperten zu mutieren. - So jedenfalls darf man derzeit die meisten politischen Aussagen auf youTube verstehen. Wobei sich dort "rechte" und "linke" Gesinnung nichts geben. Sie sind so gleich geworden, was die Vereinfachung angeht, dass man die Lust (die Angstlust, möchte ich beinahe sagen) am bornierten Abkanzeln als das gemeinsame Merkmal bestimmen kann.
Argumentation ist im Abstrakten recht einfach, zumindest eine klassische Argumentation, die sich auf die Formen der Vernunft und ihre metaphysische Herkunft bezieht. Schwierig wird das erst, wenn die Empirie auch noch eine Rolle spielen soll. Hat Kant nämlich die reine Vernunft und ihre Logik a priori (vor aller Erfahrung) herauszuarbeiten versucht, so doch nur im Unterschied zu der Logik a posteriori (mit dem Gehalt der Erfahrung).
Was die Logik a posteriori so schwierig macht, ist dann aber nicht die Schlussfolgerung, sondern das Abschätzen der Merkmale. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass Urteile a posteriori keine analytischen Urteile sind: die Merkmale in den analytischen Urteilen sind dem Subjekt wesenhaft zugeschrieben; sondern synthetische Urteile: sie fügen dem Subjekt etwas der Umstände halber zu.
Dann aber müssen diese Merkmale auf ihre Legitimation hin befragt werden. Nun passiert das nicht. Die synthetischen Urteile werden wie analytische behandelt, die Logik des a posteriori wird zu einer Logik a priori, obwohl sie sich, qua Benennung, auf den Erfahrungsgehalt und ihren Pragmatismus zu berufen erdreistet.
Das ist dann wohl das Wesen der derzeitigen Debatte: die Enteignung der Erfahrung von ihrem subjektiven, lebendigen, zeitlichen Moment. Diese Menschen dort, die über das Wohl und Wehe des Zusammenlebens diskutieren, erfahren nichts, aber umso eifriger sind sie dabei, jegliches sinnliche Dasein des Menschen zu exkommunizieren und über die Sinnenhaftigkeit des Menschen den Bann auszusprechen.
Das widert mich an.
Siehe dazu auch, aus dem Jahre 2008: Verlust des Argumentierens.

Intelligenz und Wahrheit

Ich wünschte mir ja, dass der Hofer nicht in Österreich die Wahl gewinnt. Trotzdem: der Tweet, dass Frauen nur deshalb intelligenter seien, weil sie häufiger als Männer den Van der Bellen gewählt haben, ist wohl dem typischen Klischee geschuldet, das sich Uneingeweihte von der Intelligenz machen.
Intelligenz bedeutet, grob gesagt, eine raschere Verarbeitung von Reizen, eine Fähigkeit, Probleme rascher zu lösen. Das heißt aber nicht, dass die Lösung richtiger, wahrer, sozial verträglicher ist. Intelligenz bedeutet, dass man den Betrug in zwei Tagen statt in drei Wochen lernt. Jemanden zu betrügen kann eine Problemlösung sein, sogar eine sehr kreative. Doch genau das würden wir im Alltagsjargon wiederum nicht als intelligent bezeichnen.
Insofern: Frauen, ob intelligent oder weniger intelligent; wählt bitte den Van der Bellen, denn es gibt schon zu viel des Rechtsrucks in Europa.

Nachtrag
Nachdem mein tweet etwas durcheinander gewühlt hat, und nachdem es Proteste gab, dass ich Frauen nicht als intelligenter bezeichnen würde, korrigiere ich meine Meinung: Frauen sind immer noch nicht intelligenter als Männer, aber von den rechtspopulistischen Ansichten auf Frauen mit Sicherheit verschreckter als ihre gleichaltrigen "Genossen". Über die Intelligenz von Frauen streite ich mich gerne weiter, aber es ist gut, dass sie ein Wahlrecht haben. Und so soll es auch bleiben.
Übrigens würde ich dem umgedrehten Satz, dass Männer intelligenter als Frauen seien, ebenfalls widersprechen.

21.05.2016

Wenigstens deutsche Sprache sollten sie können,

wenn sie schon so deutlich gegen undemokratische Untriebe titulieren.
Die wachsende Gefahr vor minderjährigen Salafisten
schreibt die Welt.
Die wachsende Gefahr wegen minderjähriger Salafisten
..., so müsste es heißen. Wenigstens! Sofern man die Logik ein wenig außer Acht lässt.
Und wie schrieb Gerald Hauser von der FPÖ?
Keine Sozialwohnungen ohne Deutschkentnisse
Aha!

Große Worte im Maikäferland

Man freut sich, man ärgert sich. Gefreut habe ich mich, als jemand auf twitter eine Rede von Christiane Nöstlinger gepostet hat. Diese ist zwar schon etwas älter, aber wundervoll, so wundervoll wie ihre Bücher. Ich weiß, warum ich sie mag. Sie erinnert mich ein wenig an meinen Großvater.
Was ich zu Alice Schwarzer sagen soll, ist mir nicht mehr ganz so klar. Was über ihr Buch zu lesen ist, lässt mir die Stirn runzeln. Grob erscheint mir das. Und es ist nicht deshalb grob, weil hier ähnliche Töne angeschlagen werden, wie man sie aus der AfD hört. AfD-Ferne ist nicht das Maß einer guten Meinung. Abwägen dagegen sollte schon ein Maß sein. Und hier, hier kommt doch eine Art reflexhaftes Aufzucken, dass sexuelle Gewalt, die zu verurteilen ist, gleich schon patriarchale, gar islamistische Struktur sei, die natürlich auch zu verurteilen sind, jedoch anders. Aber ich suche noch meine Meinung. Weiter unten, wo ihr es nachlesen könnt.

Christiane Nöstlinger

Lange ist es her, dass ich etwas von Christiane Nöstlinger gelesen oder gehört habe. Neulich hatte ich zwar in meiner Klasse die ersten beiden Kapitel aus Zwerg im Kopf vorgelesen, aber alles, was ich von ihr kenne, ist vor 1990 geschrieben. Obwohl, Bonsai habe ich gelesen, und das ist von 1997. Nun, Nöstlinger hat zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ's Mauthausen (aber ich hoffe doch, dass es nicht nur eine Befreiung des KZ's war, sondern dessen Abschaffung), eine Rede gehalten, die so großartig ist, wie sie nur von einer Christiane Nöstlinger sein kann. Respekt für eine Frau, die mit ihrer Kinderliteratur auch ganz große Klassiker der deutschen Prosa geschaffen hat: Gedenkrede von Christiane Nöstlinger zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ's Mauthausen.
Wer dem Irrsinn des Krieges auf die Schliche kommen mag, humorvoll und bitter zugleich, dem seien folgende Werke empfohlen:
  • Maikäfer flieg!
  • Zwei Wochen im Mai

Der Scharia-Komplex

Rechtspositivismus

Furchtbar ist, Muslime mit der Überzeugung gleichzusetzen, die Scharia als das einzige Rechtssystem zu akzeptieren. Oder die Scharia mit dem patriarchalen System gleichzusetzen. Überschneidungen gibt es, mal größere und mal weniger große. Um gegen die Scharia vorzugehen, genügt derweil immer noch, auf das moderne Rechtssystem zu verweisen. Muslime brauche ich damit nicht zu verunglimpfen. Um gegen sexistische Übergriffe oder sexuelle Gewalt vorzugehen, muss ich nicht zuerst gegen Muslime sein. Sexistische Übergriffe gehören ebenso geahndet wie sexuelle Gewalt. Da ist es mir schnurz, ob jemand Muslim ist oder nicht. Sexuelle Gewalt durch einen Deutschen ist nicht besser und nicht schlechter als durch einen Nicht-Deutschen. Die Deutschen kann man nur nicht ausweisen. Aber Ausweisung selbst ist ein billiger Trick von "Gut- und Besser- und Allerbestenmenschen".

Alice Schwarzer

Alice Schwarzer scheint mit ihrem neuen Buch auf eine Zuspitzung zu setzen, die in dieser Atmosphäre des Zurechtstutzen der allzu komplexen Wirklichkeit den herrschenden Duktus bedient. In der Welt wird sie folgendermaßen dargestellt:
Die Täter seien "fanatisierte Anhänger des Scharia-Islam" gewesen, schreibt sie in ihrem neuen Band "Der Schock – die Silvesternacht von Köln". Und: "An diesem Abend setzen sie eine für sie ganz einfache Waffe ein: Die sexuelle Gewalt". Vater Staat sei gedemütigt worden. Schwarzer spart nicht mit Vorwürfen. Vor allem Grüne und Protestanten hätten lange eine übertriebene Political Correctness befeuert. Falsche Toleranz und versäumte Integration seien zur Hypothek geworden.
Nun könnte man alleine zu dieser Passage schon eine ganze Menge sagen. Bei mir wird es weniger sein. Leider, aber das muss erwähnt werden, wenn man dem Anderen vorwirft, zu wenig komplex zu arbeiten. Als Warnung für alle, die diesen Artikel lesen.

Integration als Platzierung von Körpern

Wenn man die Debatte um die Integration aus einer ganz anderen Position und mit einer ganz anderen Zielgruppe mitgemacht hat, dann gewinnt man hoffentlich einen gewissen, distanzierten Blick auf Forderungen nach Integration. Und wenn man dies dann noch mit einer modernen soziologischen Theorie "verschnitten" hat, kann man (also ich) vielleicht doch noch das eine oder andere dazu sagen.
Die Integration von Behinderten ging mal von der farbenfrohen Erwartung aus, dass behinderte und nicht-behinderte Schüler gemeinsam lernen könnten und dabei die soziale Kompetenz auch noch gestärkt werde. Ganz so einfach war und ist es nicht. Schuld daran ist oftmals nicht, dass ein "behinderter" Schüler nicht "integriert" werden könne, sondern ein wenig oder gar nicht vorbereitetes soziales Gefüge. Ich habe das selbst erlebt: ein Lehrer, der willig war, die integrativen Maßnahmen zu ergreifen, stand einem ausgrenzenden Kollegium gegenüber. Kein Einzelfall, wie man hört. Oder die Fälle, wo Integration wie eine Art Blümchensex gehandhabt wird. Ein bisschen anstreicheln, aber dann wird auch gekichert und ge-uzt.
Integration bleibt vor allem aber daran hängen, dass es zwischen empirischen und normativen Aussagen schwer unterscheiden kann. Die Platzierung von behinderten (oder ausländischen oder transsexuellen) Körpern in Einrichtungen ist noch keine Integration. Jenseits der Zugänglichkeit muss etwas ganz anderes passieren. Aber die unscharfe Begrifflichkeit hat dazu geführt, dass die Argumentationen zum Teil unheilvoller schwanken als ein Wolkenkratzer in einer Erdbebenzone. Und dann natürlich auch für oder wider ausgenutzt werden können, weil sich überall Lücken in der Argumentation finden lassen, um eine feindliche oder freundliche (von sog. "Gutmenschen") Übernahme zu vollziehen.

Integration als Anpassung

Niklas Luhmann hat wohl aus diesem Grund eine wenig gepflegte Begriffsbildung angeboten, die sich aber zumindest gut für empirische Untersuchungen eignet: Integration ist die Einschränkung von Freiheitsgraden, Desintegration die Erweiterung; Inklusion bezeichnet die Mechanismen, die einen zu einer Gruppe zugehörig machen, während Exklusion die Operationen zusammenfasst, die einem den Zugang verwehren. Normativ hat Luhmann zur Integration nichts zu bieten: er ist kein Politiker, kein Pädagoge und kein Therapeut.
Aus der Evolutionsbiologie dagegen können wir lernen, dass der Organismus nicht dazu gemacht ist, sich anzupassen. Dass sich ein einzelnes Lebewesen seiner Umwelt anpassen könne, ist ein Mythos, der hübsch gepflegt wird. Tatsächlich geraten Organismen nur in ein Milieu, mit dem sie mehr oder weniger gut zurecht kommen, während die Anpassung eine "Leistung" von Generationen ist, indem bestimmte Merkmale bevorzugt und begünstigt werden, andere nicht. Erst mit der kulturellen Evolution (also mit dem allgemeinen adaptiven Lernen einzelner Organismen) scheint es so etwas wie eine individuelle Anpassung zu geben. Trotzdem ist diese Leistung nicht überzubewerten: siebzig Jahre nach dem Fall eines zutiefst undemokratischen Regimes und trotz zahlreicher intensiver Bemühungen und öffentlicher Debatten ist der Rückfall in undemokratische Verhaltensweisen wohl immer noch leicht, allzuleicht. - Und dies ist ein Argument, was nicht nur gegen "durch eine der westlichen Demokratie fremden Kultur geprägten" Asylanten vorgebracht werden kann, sondern auch gegen die "immer noch nicht von einer der westlichen Demokratie eigenen Kultur geprägten" Einheimischen. Oder, wie es mein einer Ausbilder gesagt hat: Deppen gibt's hüben wie drüben.
Schließlich aber stellt sich die Frage: wo ist das Maß der Integration? Kann das erst dann geschehen sein, wenn man die Klappe hält und unsichtbar bleibt? Der Ausländer (Behinderte, Homosexuelle) schweige in der Gemeinde? Oder die Frau?

Wiederkehr des Verdrängten

So unendlich viel gäbe es hier zu sagen. Aber bleiben wir mal bei der Psychoanalyse (und: Vergessen wir nicht die Psychoanalyse!). Fasst man Julia Kristevas Thesen zu der Fremdenfeindlichkeit zusammen, die sie in Fremde sind wir uns selbst vertritt, dann gehorchen die Konstruktionen des Fremden dem simplen Mechanismus der Auslagerungen und Verwerfung von Vor-Objekten, die mit Unlust belegt worden sind. In der psychosozialen Entwicklung sind solche verworfenen Vor-Objekte deshalb wichtig, weil sie die ersten Grenzen des Körperbildes konstruieren. Was verworfen wird, wird nach und nach zum Außen, was angenommen wird, nach und nach zum Innen. Da der Säugling noch nicht zwischen einem Außen und einem Innen unterscheiden kann, kann man auch nicht von einer Subjekt/Objekt-Position reden. Das mit Unlust belegte Ding ist ein Abjekt, eine Abscheulichkeit (l'abomination), eine groteske Verunstaltung.
Derzeit findet sich die Semantik der Verwerfung in einem Maße wieder, die selbst an Groteskheit nichts zu wünschen übrig lässt. Man müsste hier Punkt für Punkt reaktualisieren, was Kristeva dazu auch in Pouvoirs de l'horreur (Die Mächte des Grauens) geschrieben hat: dass der Gräuel aus einer dämonischen Verdopplung entsteht, die durch einen Gottesvertrag angerufen, eingesetzt und verbannt wird (und all dies "gleichzeitig", also in der zeitlosen Zeit des Mythos). Vielleicht sollte man weniger auf die politischen Lager achten und was sie inhaltlich verdrängen, als auf die Form, wie dieses geschieht. Vielleicht sollte man weniger auf die einzelnen Objekte und deren Realitätsgehalt Wert legen, als auf die Adjektive und ihre Markierungen von Lust und Unlust. Dann findet man vielleicht, dass sich die bürgerliche wie die unbürgerliche "Lügenpresse" viel weniger vorzuwerfen haben, zieht man die eigenen Verfehlungen dem anderen ab.

Das Recht, die Monstrosität zu benennen

Worum scheint es also zu gehen? Man kämpft um das Recht, die Form der Verwerfung zu benennen. Das zu Verwerfende, das Abjekt, diese "ekelhafte Haut auf der Milch", das ist zugleich das, was mich von der Nahrung, dem Nährenden trennt. Und wenn Julia Kristeva dann diesem Abjekt die Formel an die Seite stellt:
A chaque moi son objet, à chaque surmoi son abject.
Kristeva, Julia: Pouvoirs de l'horreur. Paris 1980, p. 10.
dann ahnt man, worum es geht: die Gestalt des Monströsen zu fixieren, der Ungestalt eine Eindeutigkeit abzugewinnen. Und schließlich natürlich auch, jene infantile Macht wiederzuerlangen, jenen präödipalen Größenwahn, der mit der ständig drohenden Minderwertigkeit so unbarmherzig verklebt ist. Sich das Recht zur Benennung zuzusprechen bedeutet, an die Macht der Benennung zu glauben.
Was aber ist nun Alice Schwarzer vorzuwerfen, zugleich mit Lamya Kaddor, der Vorsitzenden des Liberal-islamischen Bundes?

Gemengelagen

Lamya Kaddor, so berichtet die Welt, entgegnet Schwarzers Invektive wie folgt:
Diese Männer haben nicht so gehandelt, weil sie fanatische Muslime sind, sie waren größtenteils betrunken. [...] Sie haben so gehandelt, weil sie aus einer patriarchalischen Gesellschaft kommen und mit dem modernen Leben in einem fremden Land (...) komplett überfordert sind.
Ob sie oder ob sie nicht - das ist die Frage. Aber ich glaube, dass man hierauf eine ziemlich unspektakuläre Antwort geben kann. Kein Mensch ist nur islamisch, kein Deutscher nur deutsch. Menschen sind Gemengelagen, in denen sich Traditionen und Situationen ineinanderschieben, in mehr oder weniger großer Geordnetheit. Die Eindeutigkeit, die Identifikation, das ist noch immer der Versuch, über die ungreifbare Gestalt (das "Ding aus einer anderen Welt") Herr zu werden. Der Mensch ist ein solches Ding, er ist für sich selbst aus einer anderen Welt, er ist von Trieben, Lüsten und Unlüsten durchzogen, und er konstituiert sich daran zu einer eigenen Gestalt, dass es besser ist, vor etwas Angst zu haben, was außerhalb seiner selbst ist, als dem, was innerhalb von uns wächst.
Kultur kann, wenn diese mythischen Triebe gezähmt, in fruchtbaren Boden verwandelt werden. Wo diese sich ungebremst Bahn schlagen, selbst im Namen der Kultur, hat eine grundlegende Leistung der Kultur versagt. Sie hat mehr oder weniger versagt. Sie hat, betrachtet man sich die Ausschreitungen zur Sylvesternacht, komplett versagt; und sie versagt bei Schwarzer und Kaddor, wenn auch graduell weniger. Muss man darüber lamentieren?

Das ungezähmte Tier

Am Rande jeder Kultiviertheit, so scheint es, taucht die Unkultur auf. Was Adorno vom Begriff zu sagen wusste, dass unter seiner erstarrten Form der Unbegriff auftauche, das gilt auch für die Kultur. Je mehr sie sich abschottet, umso fragiler wird sie, und wo z.B. das Deutschtum, der Islam, der Amerikanismus zu einer bloßen Beschwörung verkommen ist, herrscht an Feinden keine Not.
In der Entwicklungspsychologie gibt es den Begriff des development racism. In einem Nachhall des Fremdelns werden fremd wirkende Menschen abgelehnt, ungeachtet dass der beste Freund oder die beste Freundin dieser Bevölkerungsgruppe zugehört. Die Argumentation kleiner Kinder wird fadenscheinig, wenn "Neger" verunglimpft werden, obwohl der beste Freund ein "Neger" ist. Erst die Erkenntnis domestiziert diese Angewohnheit. Sie domestiziert, aber sie überwindet nicht.
Dieses Moment, in der die Trennung von Subjekt und Objekt schwindet und das Abjekt auftaucht, ist auch das Moment, in dem die Erkenntnis versagt. Man muss dies gut verstehen. Egal, in welcher allgemein geistigen Verfassung die Täter der Sylvesternacht waren; es wird sich nicht rekonstruieren lassen. Dem mit einer Eindeutigkeit zu antworten, bleibt wiederum ein Versagen der der Kultur eigenen Funktion der "Zähmung". Schwarzer wird daran so wenig ändern wie Kaddor. Und der plärrende Pöbel vor Asylantenheimen oder im weitestgehend ausländerfreien Sachsen schon gar nicht.

Zumutungen

Nebensachen des Gesetzes

Innerhalb des Rechtspositivismus gibt es Strömungen (z. B. Niklas Luhmann), die dem Gesetz nicht nur eine Ordnungsleistung zusprechen, sondern deren Nebeneffekte als wichtige Bestandteile des sozialen Lebens ausmachen. Dazu gehört, den Menschen die Verantwortung für ihr Menschsein und ihre Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft zuzumuten. Das Gesetz vereinzelt. Man mag dies als ein Problem ausmachen, weil die Vereinzelung auch Isolation bedeuten kann. Trotzdem ist dies ein wichtiger Bestandteil, denn in der Vereinzelung liegt auch die Erkenntnis dessen, was man getan hat. Dabei entstehen keine endgültigen Erkenntnisse, und wenn man aus einer Rechtsfrage entlassen wird (aus einem Streit, einer Anklage, einem Verdacht), ist man noch lange nicht der (Selbst-)Erkenntnis entkommen. Doch eine der Leistungen einer solchen Untersuchung, eines Gerichtsprozesses, ist eben auch, den Unterschied zu machen, ein Individuum herauszuheben und zu sagen: du kannst dich nicht auf deine "Kultur", auf eine halböffentliche Meinung, auf deine religiöse Überzeugung verlassen und dieser die Verantwortung zuschieben. Der Rechtspositivismus mutet Individualität zu.

Akzidenz des Kopftuchs

Man lese das zum Beispiel auch beim "Kopftuch"-Streit. Prinzipiell bin ich gegen ein Verbot des Kopftuchs. Meine Großmutter, von den Nazis als "reinrassig bis ins 13. Jahrhundert" identifiziert, hat Kopftücher getragen. Nicht immer, nicht aus religiöser Überzeugung, aber sie tat es. Problematisch wird das Kopftuch erst dann, wenn es 1.) der Individualisierung entgegensteht: das religiöse Gebot steht der Freiheit, sich sittlich autonom zu verhalten, dann entgegen, wenn sich ein Mädchen dazu entschließt, kein Kopftuch zu tragen, dies aber sanktioniert wird; 2.) wenn sich daraus öffentliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Beteiligten ergeben, wie dies gelegentlich im Fall von Kopfläusen geschieht (aber davon haben wohl auch gelegentlich deutsche Familien Gebrauch gemacht, die sich aus welchen Gründen auch immer außerstande gefühlt haben, mit ihren Kindern eine Lauskur zu machen); 3.) wenn eine allgemein auch medizinisch geschätzte Betätigung, wie z. B. das Schulschwimmen, dadurch schwierig oder unmöglich wird.
Fehlendes Deutschsein kann dagegen keine Begründung sein. Wenn ich davon ausgehe, was mein Verhältnis zu deutschen Werken ausmacht (eine Faszination, oftmals eine Liebe, gelegentlich ein gewisser Fanatismus), dann könnte ich 95% der "Deutschen" ihr Deutschsein absprechen, vermutlich noch mehr. Kopftücher sind nicht undeutsch. Sie sind aber gelegentlich und der Umstände halber gegen die Prinzipien unseres Rechtssystems. Dies ist ein akzidentielles, kein substantielles Merkmal von Kopftüchern. Und deshalb kann ein Verbot hier auch nicht die richtige Maßnahme sein.

Worin Schwarzer dann doch recht hat

In einem hat Schwarzer dann aber doch sehr recht. So zitiert die Welt sie mit folgenden Worten:
Wir haben die Dinge treiben lassen. Statt der Mehrheit der friedlichen Musliminnen und Muslime beizustehen, die als erste von den radikalen Islamisten bedrängt und erpresst werden.
Vielleicht vergessen wir das tatsächlich zu sehr: immer wieder tauchen in den Medien Straftäter auf, denen man die ausländische Herkunft nicht ableugnen kann. Die Zurückhaltung bis zum Verbot, den Migrationshintergrund eines Täters zu nennen, kann ich auf der einen Seite verstehen. Man muss aber zugleich auch sehen, dass natürlich die Entfremdung, auch die kulturelle Entfremdung mit ein Motiv für Straftaten abgeben kann. Wer sich mal ein Konzert deutscher Skinheads angesehen hat, weiß, was kulturelle Entfremdung anrichten kann, selbst bei vorgeblich Deutschen. Hier verhindert die Zensur das Erkennen von Ursachen (und, bitte, das Erkennen von Ursachen bedeutet noch lange nicht, dass man nun zum Automatismus der Ausweisung übergehen darf).
Vielleicht, so muss ich meinen Satz jetzt von vorne beginnen, vergessen wir das tatsächlich zu sehr: sehr viel seltener tauchen in den Medien Nicht-Straftäter auf, denen man die ausländische Herkunft nicht ableugnen kann. Die geglückte Integration ist unsichtbar. Die geglückte Integration ist unspektakulär. Die geglückte Integration ist nicht die eines Serdan Somuncu und nicht die eines Cem Özdemir. Sie findet sich dort, wo ich einkaufe, in dem Supermarkt, in dem vier türkische/arabische Verkäuferinnen arbeiten. Sie findet sich um die Ecke, wo mich einmal vor einigen Jahren junge türkische Mädchen gefragt haben, ob ich Liebesgedicht von Goethe kennen würde, worauf ich dann ein Geschenk, einen Gedichtsband von Goethe, weiterverschenkt habe.
Vergessen wir also nicht all diese Menschen. Und erraten wir vielleicht auch, unter welchem Rechtfertigungsdruck sie stehen, wenn sie tagtäglich die ausländerfeindlichen Pöbeleien, diese Unterstellungen hören, die sie in die Nähe von Menschen bringen, von denen sie nichts wissen, und mit denen sie sich nicht identifizieren können.
Darin hat Alice Schwarzer nun wirklich recht.

so wenig Realität wie möglich, Merkel reduziert Pinkelbeutel, gegen 2000 Jahre Matriarchat

Das Lustige, aber eigentlich doch eher Unlustige an einigen Facebook-Kommentaren ist diese Eindeutigkeit, mit der 1.) ein Schuldiger gefunden wird (wahlweise die Gutmenschen, die etablierten Parteien oder Merkel), und mit der 2.) die Wahrheit doch gefunden wird: in der eigenen Meinung.
Da hat doch gerade ein Gericht entschieden, dass eine Krankenkasse einem Querschnittsgelähmten nicht einfach nur Pinkelbeutel für 2 1/2 Liter pro Tag bezahlen dürfe, sondern eben im ausreichenden Maße. Ist ja auch richtig so. Und dass eine Krankenkasse sich dazu erst die Empfehlung herausnimmt, der betreffende Mensch dürfe einfach nicht so viel trinken, eine ziemliche Frechheit.
Dass dies erst durch Merkel und erst in Merkel-Deutschland möglich sei, war dann der dummdreiste Kommentar eines facebook-Menschen. Was auch immer Merkel damit zu tun hat - ich hätte ja gesagt: Willkommen im Kapitalismus. Das gab es schon immer.
Die Katastrophe allerdings ist, dass damit jegliche Gegenmeinung, aber auch wirklich jede Gegenmeinung legitimiert wird, die mal Erdogan, mal Trump, mal die Etablierten, mal die Flüchtlinge ins Visier nimmt, so als gäbe es außerhalb unserer Alltagswelt eine Gegenwelt, in der sich sämtliche Asylanten, Gutmenschen, Politiker und Diktatoren zusammenklüngeln würden, um dem Restbestand der Wahrheitsliebenden das Leben zur Hölle zu machen.
Nein, weder schätze ich Merkel (es ist nicht die Aufgabe, Politik allzusehr zu personalisieren), und wenn ich an Erdogan denke, dann wird mir übel (unglaublich, was derzeit den Kurden angetan wird). Aber der Ethos gehört eben doch zu einem politischen Bewusstsein dazu, auch wenn der Pathos gelegentlich sinnvoll ist.
Mich erinnert die ganze Chause dieser "Wir dürfen doch jetzt auch mal etwas sagen"-Nationalisten an den Feminismus. Man weiß doch schließlich, dass Männer sich nur deshalb so abstrus benehmen und häufig zu Gewalt neigen, weil die deutsche Sprache seit 2000 Jahren matriarchal okkupiert ist. Männer haben gar keine andere Möglichkeit, als sich durch motorische Unruhe auszudrücken. Das ist das wirkliche Problem. Und wer hat's als einziger erkannt?
Ich.
Mal wieder.

18.05.2016

Hassreden im Netz

Zoe Beck hat weitergeleitet, was Stiftung Warentest zu Hassreden im Internet zu sagen hat. Aufschlussreich und beruhigend.
Der Ton im Internet ist in den letzten Jahren zunehmend rauer geworden. Beleidigungen und Volksverhetzung sind fast schon Normalität in vielen öffentlichen Kommentarspalten.
Doch die Opfer von Internethass stehen dem nicht hilflos gegenüber und müssen auch keine komplizierten Wege mehr auf sich nehmen. In den meisten Bundesländern bietet die Polizei inzwischen die Möglichkeit Anzeigen einfach online zu erstatten. Eine Liste mit den Links findet ihr weiter unten.
Lasst euch von Hasskommentaren nicht entmutigen und davon abhalten, euch an Debatten zu beteiligen. Eine aufgeklärte und fortschrittliche Gesellschaft benötigt rationale und sachliche Diskussionen. Diese dürfen nicht von jenen gekapert und verhindert werden, die nur Hass schüren wollen.
In Bayern, Bremen, Rhein­land-Pfalz, Saar­land und Thüringen gibt es aktuell noch nicht die Möglichkeit, Anzeigen online zu erstatten.
Auch andere Straftaten können über die Internetwachen zur Anzeige gebracht werden. Achtet aber bitte darauf, diese Möglichkeit nicht leichtfertig zu nutzen oder zu missbrauchen. Einmal erstattete Anzeigen können nicht zurückgezogen werden. Wissentlich falsche Anzeigen stellen ebenfalls eine Straftat dar.
Edit: Da nach den Tagessätzen der Beispiele gefragt wurde, liefern wir diese hier noch nach.
Beispiel 1: 60 Tagessätze à 23 Euro
Beispiel 2: 120 Tagessätze à 40 Euro
Beispiel 3: 200 Tagessätze à 25 Euro
Beispiel 4: 80 Tagessätze à 25 Euro

17.05.2016

Wie auch immer

Der Nahost-Konflikt

Wenn man von der kulturellen Evolution ausgeht, hat es wenig Sinn von Kausalitäten in der Geschichte zu sprechen. Anlässlich des traurigen 100-jährigen Jubiläums des Nahost-Krieges wird das Geheimabkommen zwischen Sykes und Picot, bzw. zwischen der britischen und französischen Regierung als die Ursache des Nahost-Konfliktes bezeichnet. Mit keinem Wort möchte ich dieses Abkommen verteidigen. Ich bezweifle aber die Ursächlichkeit. Soziale Phänomene sind heteronom, sie beziehen ihre Gesetzmäßigkeit aus vielerlei Quellen. Dies ist das Wesen der biologischen Evolution, dies auch das Wesen der kulturellen.

Erdogan und Böhmermann

Unverständlich ist mir das Urteil des Hamburger Landesgerichtes im Falle Erdogan-Böhmermann. Unverständlich ist mir die Trennung zwischen den Passagen, die verschwiegen werden müssen, und denen, die noch erlaubt sind. Sagen darf man zum Beispiel noch: „Sackdoof, feige und verklemmt ist Erdogan, der Präsident.“
Nun, das ist eine seltsame Art der Zensur.

Zettelkasten, programmieren

Meine zwei kleinen Hobbys, die in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund gerückt sind, das ist einmal mein Zettelkasten (und das Schreiben mit ihm), auf der anderen Seite mein Projekt, mir selbst einen Zettelkasten programmieren, der besser meinen Bedürfnissen entspricht.
Nun, an diesem Wochenende habe ich mich um dieses und jenes gekümmert, und tatsächlich wieder mehr mein Spracherkennungsprogramm genutzt. Da ist dieses vorsichtige Herantasten an das Experiment als Unterrichtsmethode. Auch das ist ein Projekt, das sich seit mehreren Jahren verfolge.
Programmiert habe ich gar nicht, aber zumindest hatte ich meine üblichen Gespräche zum Programmieren.

Experimentieren

Wittgenstein schreibt, man könne nicht aus seiner Logik hinaus. Genauer gesagt schreibt er:
In der Logik passiert nichts Neues.
Die Logik kann sich über ihr Dasein als phänomenale Struktur aufklären, aber nicht über die Bedingungen ihrer Existenz. Mit Nietzsche geredet: die Logik schneidet sich von ihren moralischen Genesen ab.
Um zu den Wurzeln der Logik zu kommen, zu ihren transzendenten Bedingungen, genügt es heute nicht mehr, die Vernunft zu postulieren, wie dies einst Kant getan hat. Auch hier muss man den heteronomen Charakter der Logik akzeptieren. Und statt sie aus metaphysischen Prinzipien abzuleiten, muss man ihr historisches Werden nachzeichnen.
Für die Darstellung der Logik ist das Experiment eine Art Zwischenraum, oder, wie Roland Barthes dies bezeichnen würde, ein Neutrum, ein Weder … Noch …, aber ebenso ein Sowohl … Als auch ….
Das Experiment gehorcht weder vollständig der Logik, noch ist es von ihr unabhängig. Und ich vermute mal, dass schon viel gewonnen wäre, würde man die gesellschaftlichen Bedingungen nicht unter einer Logik subsumieren, sondern als ein Sternengeflecht von verstreuten Experimenten auffassen. Und auch hier höre man Wittgenstein dazu:
Im Experiment verlässt man sein Denken.

Teuflische Einflüsterungen

Anne Graham, Tochter des Turbo-Priesters Bill Graham, vermutet eine Kausalität zwischen der Legalisierung von Schwulen und Transsexuellen und den Anschlägen auf die Twin Towers. Diese Anschläge seien geschehen, weil Gott sich von Amerika abgewandt habe; und abgewandt habe er sich von Amerika, weil diese „schwule Rechte“ legalisiert habe.
So weit, so primitiv. Seltsam ist aber der Tenor, dass es sich bei bestimmten Rechten um „schwule Rechte“ handele. Es gibt Rechte, die sich gerade nicht durch die Bevorzugung einer bestimmten Minderheit auszeichnen, sondern nur betonen, dass bestimmte Minderheiten in ein umfassenderes Recht eingebettet sind. Die Legalisierung bestimmter sexueller Praktiken im Privatbereich impliziert ein Wegsehen des Staates; es ist ein Zugeständnis aufgrund eines dahinter liegenden Menschenbildes: dass der Mensch in bestimmten Bereichen auf bestimmte Arten und Weisen zur Freiheit fähig ist, und deshalb vor dem Gesetz gleich behandelt werden müsse. Hier von „schwulen Rechten“ zu sprechen verfehlt den Kern des Gedankens einer Rechtsstaatlichkeit. Insofern mag ich den Kritikern von Anne Graham nicht zustimmen.
Viel schlimmer ist aber, dass diese Frau den islamistischen Terror in eine interne Staatsaffäre, vielmehr noch in eine private Familienfehde ummünzt. Damit verkennt sie den gewalttätigen Anteil, der vielen Religionen eigen ist; vor allem verdrängt sie sie aber auch, und dreht damit die Aussage, die die Anschläge vom 11. September begleiten, komplett um. Diese Anschläge sind zwar nicht direkt gegen Homosexuelle gerichtet, aber die Gewalttätigkeit und die Vernichtung von unerwünschten Existenzen, das ist eine Sache, in der sich islamistischen Terroristen und diese amerikanische Predigerin anähneln.

ein bisschen Zahlengepinsel

Ich weiß, Zahlen sagen wenig bis nichts darüber aus, wenn es um die Qualität geht, aber trotzdem sei hier noch einmal auf die Zahlen verwiesen.
Ich habe in den letzten Monaten wenig geschrieben. Wenn ich früher einen guten Artikel veröffentlicht habe, dann konnte ich manchmal auf drei- bis viertausend Besucher pro Tag zurückblicken, bei nicht so attraktiven immer hin auf zweitausend. Schrieb ich nicht, dank die Besucherrate auf fünfhundert bis tausend.
Ich hatte neulich schon darauf hingewiesen: die ordentliche Markierung der Beiträge mit ordentlichem HTML lässt die Besucherzahlen nach oben klettern, auch wenn ich gerade mal nichts veröffentliche. Zudem sind die Inhaltsverzeichnisse für viele Benutzer attraktiv. Und so sollte es ja auch sein. Jedenfalls konnte ich einen deutlichen Anstieg von etwa 50% an Besuchern verzeichnen, trotz Frühlings und schönen Wetters, die meinen Blog (und, wie ich weiß, die vieler anderer Blogschreiber auch) immer mit einem deutlichen Besucherminus beglückt haben. Der Zuwachs freut mich sehr.
Wieder einmal ist mein erster großer Artikel zum Krimischreiben in der Top-Ten-Liste meiner Veröffentlichungen. Ich habe gerade mal nachgeschaut, wie oft er in den letzten acht Jahren besucht worden ist. Dort steht die stolze Summe von 158.000 Besuchern. - Wow!

Sich orientieren

Frei nennst du dich? Deinen herrschenden Gedanken will ich hören und nicht, dass du einem Joch entronnen bist. ... Frei wovon? Was schiert das Zarathustra! Hell aber soll mir dein Auge künden: frei wozu?
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 81 (KSA 4)

Zeugung

Nietzsche folgt in gewisser Weise den Lehren der Evolution. Man findet überall in seinem Werk Hinweise darauf, dass auch das Reich der Ideen und der Moral den Regeltypen der Evolution zugeordnet werden kann. Ich werde gleich auf diese seltsame Formulierung noch eingehen.
Noch befremdlicher allerdings ist, was er alles im Umfeld des Begriffes der Zeugung schreibt, samt den Ideen von der Ehe, von Mann und Frau. Die Frau (oder das Weib) ist bei Nietzsche ein schillernder Begriff, der mal tatsächlich das weibliche Geschlecht meint, mal die Wahrheit, mal jenes, was die Wahrheit gibt (als Gabe und Geschenk, aber eben diese Wahrheit nicht ist). Ähnlich ergeht es auch dem Begriff der Zeugung. Mal scheint er auf die Vererbung guter Eigenschaften gemünzt zu sein, obwohl unklar ist, ob damit überhaupt so etwas wie eine genetische Vererbung gemeint ist; viel eher wird von Nietzsche eine kulturelle Vererbung angesprochen. Mal ist es ein provozierendes, widerständiges Über-sich-Hinausschaffen.

nur abgeleitet

aktiv/passiv

In einem seltsamen Fragment stellt Nietzsche eine Liste zu der semantischen Opposition aktiv/passiv auf. Unter die aktiven "Kräfte" fällt die Zeugung, die von ihm folgendermaßen kommentiert wird:
"Zeugung" nur abgeleitet: ursprünglich, wo ein Wille nicht ausreicht, das gesamte Angeeignete zu organisieren, tritt ein Gegenwille in Kraft, der die Loslösung vornimmt, ein neues Organisationscentrum, nach einem Kampfe mit dem ursprünglichen Willen
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 209
Abgeleitet ist die Zeugung von dem Aktiven (also wohl all dem, was aktiv ist, was in einer vorwärtsgreifenden Bewegung begriffen ist).

Regeltypen der Evolution

Wenn man sich die Grundbegriffe der Evolution anschaut, zumindest die des Neodarwinismus, dann lernt man zuerst die Begriffe der Variation, Selektion und Restabilisierung kennen (manche setzen noch den der Amplifikation hinzu). Dabei handelt es sich aber nicht um Gesetze, wie gerne behauptet wird, sondern um Regeltypen, die sich relativ zu einer Population und einem Milieu bestimmen lassen. Selektionen können auf sehr verschiedene Weise geschehen. Einmal kann eine Population durch Nahrungsmittelknappheit unter Stress geraten, wodurch bestimmte, günstige Merkmale verstärkt werden. Zu beachten ist übrigens, dass die Selektion nicht in den Merkmalen selbst liegt, und diese auch nicht gewollt werden: es ist reiner Spiel des Zufalls, dass selegierendes Ereignis und selegiertes Merkmal zu einer Entsprechung kommen.
Oder ein Milieu bietet so viele mögliche Nischen, dass sich eine Population nach und nach in diese verschiedenen Nischen hinein verändert, ohne einem ökologischen Stress ausgesetzt worden zu sein.
Insofern gibt es zwar Erklärungen für den Wandel von Populationen, diese gründen sich aber auf spezifische Bedingungen, während die Grundbegriffe der Evolution bestimmte Phasen und Typen bezeichnet.

Der Gegenwille

Kurz zuvor schreibt Nietzsche:
1. - alles ist Wille gegen Willen
2. Es gibt gar keinen Willen
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 187
An diesen beiden kurzen Notizen zeigt sich Nietzsches Theorie des Willens ziemlich deutlich. Im zweiten Satz wird nicht so etwas wie den Wille abgelehnt (er widerspricht dem ersten Satz nicht), sondern einem Essentialismus des Willens. Bei Nietzsche sind alle Phänomene historisch. Auch der Wille entwickelt sich, auch er ist aus etwas anderem entstanden. Ein Wille existiert nicht ohne einen Gegenwillen; ein Gedanke, der diesen begleitet, ist, dass sich "große" Menschen aneinander hochzüchten. Ein starker Wille ist ein großer Reiz für einen starken Gegenwillen.

organisieren

In dem eingangs zitierten Fragment kommt dieser Gegenwille allerdings nicht von außen, sondern entsteht als ein Übergangsphänomen und ein Zerfallsprozess. Der Wille hat organisierenden Charakter. Wenn die Aneignung fremder Elemente zu einer zu großen Komplexität führt, dann entsteht ein zweites Kraftzentrum, dessen erstes Erscheinen von einem Gegenwillen begleitet wird. Man ist an die kleine Wahrheit erinnert, der Zarathustra den Mund zuhalten muss, damit sie nicht überlaut schreit (Zarathustra, S. 84).
Die Loslösung, die neue Organisation, sei, so Nietzsche, erst nach einem Kampf mit dem ursprünglichen Willen möglich.

Funktionswechsel

Will man dies mit Worten beschreiben, die der Evolutionstheorie entnommen sind, so hat man es am ehesten mit einem Funktionswechsel zu tun. Es gibt (mindestens) zwei Wechsel der Organisationsformen in einem Organismus: den Dominanzwechsel und den Funktionswechsel. Beim Dominanzwechsel wird eine bisher nur nebensächliche Möglichkeit eines Organs nun zur Hauptfunktion. Typischerweise wird hier immer die Entwicklung von Mund-Hand-Fuß beim Vormenschen geschildert: indem der Vormensch sich aufrichtete, wurde die Vorderpfote nach und nach von der Funktion des Laufens befreit und konnte sich öfter dem Greifen und Festhalten widmen. Dadurch wurde das Maul, welches bis dahin die Beutetiere gepackt hat (das Maul ist bei vielen Säugetieren das Greiforgan, während die Pfote nur dem Festhalten dient), entlastet und konnte stärker auf das Aussenden von Signalen ausgerichtet werden, so dass darüber die Koordination von Gruppenaktivitäten möglich wurde, bis schließlich die Funktion des Greifens mit dem Maul unwichtig wurde.
Dem Dominanzwechsel folgt der Funktionswechsel. Damit verschwindet die ursprüngliche Funktion eines Organs vollständig und wird komplett ersetzt.

Verwandtschaft und Ähnlichkeit

Ebenfalls aus dieser Zeit stammen viele Gedanken Nietzsches zu Ähnlichkeit und Verwandtschaft. Er dividiert diese beiden Begriffe auseinander:
Die Succession von Erscheinungen, noch so genau beschrieben, kann nicht das Wesen des Vorgangs geben - aber die Constanz des fälschenden Mediums (unser "ich" -) ist mindestens da. [...] So erweckt die Folge die Succession den Glauben an eine Art "Zusammenhang" jenseits des von uns gesehenen Wechsels.
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 189
Der Grund der Verwechslung der beiden Begriffe ist in den physiologischen Voraussetzungen der Erkenntnis zu suchen. Die Erkenntnis kommt nicht aus sich heraus. Hierin folgt Nietzsche noch Kant. Anders aber als Kant gewöhnt sich bei Nietzsche der Geist an Formen. Nicht (die kantsche) Vernunft, sondern Gewöhnung führt zu so etwas wie "Vernunft":
Was ist "erkennen"? Zurückführen von etwas Fremdem auf etwas Bekanntes, Vertrautes. Erster Grundsatz: das, woran wir uns gewöhnt haben, gilt uns nicht mehr als Rätsel, als Problem. Abstumpfung des Gefühls des Neuen, Befremdenden: alles, was regelmäßig geschieht, scheint uns nicht mehr fragwürdig. Deshalb ist die Regel suchen der erste Instinkt des Erkennenden: während natürlich mit der Feststellung der Regel noch gar nichts "erkannt" ist.
Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente Sommer 1886 - Herbst 1887, S. 188

Evolution des Willens

Obwohl es auch einen Willen zur Erkenntnis gibt, einen Erkenntnistrieb, scheint dieser in einem recht komplizierten Verhältnis zum Willen zu stehen. Der Wille stumpft mit der Gewöhnung an eine Erkenntnis ab (weshalb der wahrhaft Erkennende immer exzentrisch, immer aus sich heraus geht). Die Erkenntnis reichert die Organisation an. Unklar ist mir bislang, ob der Wille die Organisation erzeugt, oder ob sie Ausdruck dieser Organisation ist. Während der mittlere Nietzsche Wille und Organisation eher trennt, spricht beim späten Nietzsche viel dafür, dass der Wille der Organisation zugleich immanent ist, als auch aus ihr entsteht (emergiert!).
Darauf weist auch das erste hier angeführte Zitat aus den Nachgelassenen Fragmenten hin. Wird eine Organisation zu kompliziert, dann zerfällt sie. Dadurch, dass sie zerfällt, entstehen zwei (oder auch mehrere) Kraftzentren, die jeweils von einem Willen begleitet werden (weil diese zerfallende Organisation nicht unorganisiert ist, und weil diese von dem immanenten, emergenten Willen begleitet werden).

Schluss

Der Wille ist eng an die Organisation der Erkenntnisse gebunden, ohne mit den Erkenntnissen direkt zusammenzufallen. Der Wille wird schwach, wenn ein Mensch nicht mehr erkennen will: wenn man sich an seine Erkenntnisse gewöhnt, gerät der Wille nicht mehr in Konflikt; er verliert seine Stärke (dies habe ich hier allerdings nicht betrachtet). Wenn die Organisation des Erkannten durch zu hohe Komplexität auseinanderfällt, dann gerät diese mit sich selbst in Konflikt: allerdings sind es nicht die Erkenntnisse, die einander widersprechen, sondern die verschiedenen Erscheinungen des Willens, die durch die Neuorganisation entstehen.
Die Zeugung nimmt darin eine seltsame Stellung ein: sie entsteht nicht mehr aus einem simplen biologischen Vorgang, sondern aus einem evolutionären Prinzip, der über die Vererbung hinausgeht. Sie ist eng an die Erkenntnis gebunden. Zeugung ist damit zugleich schöpferisch und zerstörerisch: sie ist es zugleich, weil sie einen alten Zustand überwindet und einen neuen erzeugt.
Nietzsches Dichotomie von Mann und Frau, bzw. Krieger und Weib, müsste hier weiter erläutert werden. Insofern Nietzsche das Weib mit dem Zu Erkennenden und den Krieger mit der schöpferischen Erkenntnis parallelisiert, spielt er mit der Allegorie der Geschlechterdichotomie. Sieht man von den "feministischen" Implikationen ab, dann ergänzen sich zwei Prinzipien, die nicht einander entgegengesetzt sind (weil sie nicht derselben Sphäre angehören), die sich aber auch nicht ergänzen (sie dienen einander nicht). Es scheint, als habe Nietzsche in einer klischeehaften Ausdeutung des Alltags die Möglichkeit einer Allegorisierung gefunden, die auf etwas ganz Anderes hinweist.

08.05.2016

Antworten auf die AfD

Nikolas Busse sucht Antworten auf die AfD. Sein Vorschlag: die drängenden Probleme unserer Zeit zu lösen.
Meine Antwort: mehr Politik von unten. Und damit meine ich nicht: Volksentscheide, die genauso für den Populismus missbraucht werden können. Ich gestehe ja, dass ich den PEGIDA-Demonstrationen mit einem gewissen, wenn auch äußerst mäßigem Zwiespalt gegenüberstehe: das erscheint mir insgesamt doch wünschenswerter als Volksentscheide. Das Problem von Demonstrationen ist aber meist ihre Monokultur: das war in den 80ern nichts anders als heute. Zuerst müsste sich eigentlich das politische Vokabular differenzieren. Wir bräuchten mehr Leser politischer Theorien (was wir statt dessen haben: mehr Leser politischer Pamphlete).
Meine Antwort auf die AfD ist also: mehr Intelligenz. Mehr politisches Bewusstsein. Mehr Ideologie (und deshalb eigentlich auch weniger). Schade bloß, dass das eigentlich meine Antwort auf jede Partei ist.
Lest zum Beispiel Machiavell. Der hat mehr also nur diese seltsamen Sprüche geschrieben, die man aus dem Zusammenhang gerissen zitiert. Lest ihn! Ich habe mich lange selbst blenden lassen.

Tagesprotokoll

Vier Tage habe ich gefaulenzt. Naja, fast. Donnerstag habe ich immerhin geschafft, die Verbindung zwischen Geometrie und dem Programmieren weiter auszuarbeiten. Das wird allerdings noch ein langer Weg.
Und gestern morgen war ich unterwegs, um Samen für einige Heimzimmerpflanzen zu bekommen. Insbesondere wollte ich eine Passionsblume großziehen. Habe ich aber nicht gefunden.
Nun, heute:
  • die letzte UE vor den Ferien für den Englischunterricht ausgestaltet (the Jungle Book)
  • die kommenden Stunden des Deutschunterrichts geplant
  • für die Malfolgen gebastelt: etwa 80 Karten ausgeschnitten (100 sollen es werden, dann noch einmal, wenn sie einlaminiert sind, dann noch mit Magnetband bekleben)
  • und habe mich mit Klassen und anonymen Funktionen in JavaScript beschäftigt
  • war beim Inder essen
  • habe Brötchen gebacken
  • zwei Waschmaschinen voll Wäsche gemacht
  • vier Videos online gestellt, aber keine neuen, sondern immer noch welche aus den Osterferien
Ach ja, gestern war ich noch unterwegs und habe für unser Projekt an der Schule ein Probefoto ausgedruckt.
Gelesen? Fast nichts. Oder doch: online-Zeitungen. Und einiges aus der jQuery-Bibliothek auseinandergepflückt: das ist eine Erweiterung von JavaScript.

07.05.2016

Integrationsprobleme

Gregor Gysi und Jens Spahn diskutieren über Integration, Bekämpfung von Fluchtursachen und Entstehen von Parallelgesellschaften. Im Mittelpunkt steht ein Begriff, der mir seit langer Zeit Kopfzerbrechen macht: der Wille. Nicht, ob den Asylanten ein fehlender Integrationswille unterstellt werden kann, möchte ich im folgenden erläutern, sondern ob es Grenzen eines Integrationswillens gibt, die nicht politischer, sondern anthropologischer Natur sind.

Was ist der Wille?

Spekulieren, differenzieren

Dass mich der Wille seit langer Zeit beschäftigt, zeigt auch, dass ich diesem Begriff eine größere Sorgfalt zukommen lassen möchte, eine Sorgfalt, die noch lange nicht zu Ende ist. Vieles von dem, was ich im folgenden schreiben werde, ist deshalb spekulativ. Angesichts einer sich immer dreister gebärdenden Behauptungsmaschinerie sollte ich das Wort 'spekulativ' allerdings wieder zurücknehmen, denn es ist immer leichter, sich seine eigene Wahrheit zu erfinden, als lange und geduldig ein Phänomen zu zerlegen und es in seinen verschiedenen Aspekten zu prüfen. Und genau darauf wird es eben ankommen: nicht auf eine kompakte Wahrheit (die es sowieso nicht gibt), sondern auf eine gute Differenzierung.

Im Motivationszyklus

Schaut man sich in der Psychologie die Willensbildung an, dann ist diese in eine längere Kette verschiedener grundlegender Begriff eingeordnet. Ich habe das mal zusammengefasst und systematisiert, weil man natürlich hier mit einer Vereinfachung zu rechnen hat:
Motivationszyklus
Im einzelnen sind das:
Bedürfnis
Zunächst ist das Bedürfnis der Ausdruck eines Mangels, der zu einem Spannungszustand führt. Der Mensch ist darauf aus, diesen Mangel zu beheben. Allerdings gibt es hier recht strittige Ansichten. So führt Alexander Maslow in seiner Bedürfnispyramide zunächst Bedürfnisse auf, die ausschließlich einem solchen Mangel entgegenkommen, später jedoch, auf höheren Stufen, auch Bedürfnisse, die nicht befriedigt werden können, weil sie (so der Ausdruck) „unendlich“ sind. Ob allerdings solche Bedürfnisse wie die Selbstverwirklichung tatsächlich Ausdruck eines Mangels oder einer Fülle, beruht auf dem jeweiligen Menschenbild.
Emotion
Liefert das Bedürfnis den Grund für eine Bewegung, so scheinen Emotionen die grobe Richtung zu lenken, durch die die Bedürfnisbefriedigung erfolgen soll. Emotionen sind so etwas wie Voreinschätzungen oder Vorurteile über einen erfolgsversprechenden Weg. Häufiger liest man, dass Emotionen relativ grobe Aspekte unseres Seelenlebens sind, und dass sie ihre Feinheit immer erst durch Verbindung mit kognitiven Inhalten bekommen, über die sie sich dann vermischen. Erst diese emotional-kognitiven Mischformen bilden dann das komplexe Innenleben des modernen (und neurotischen) Menschen.
Aufmerksamkeit
Die Aufmerksamkeit sitzt an einer exponierten Stelle. Auf der einen Seite verbindet sie die Wahrnehmung mit dem begrifflichen und problemlösenden Denken (also mit der Kognition), und auf der anderen Seite steht sie zwischen der Vorauswahl von Handlungsmöglichkeiten (unserem evolutionären Erbe in den Emotionen) und den konkreten, situationsbedingten Möglichkeiten, ein Bedürfnis zu befriedigen. Man kann an dieser Stelle also feststellen, dass die Aufmerksamkeit zwar etwas bewusst macht, dass dazu aber die Bedingungen der Aufmerksamkeit selbst nicht gehören.
Motivation
Nahtlos geht die Aufmerksamkeit in die Motivation über: aus der Aufmerksamkeit gegenüber der Situation bilden sich nun festere Vorstellungen, was ein Bedürfnis befriedigen könnte. Man kann dies auch als Willensbildung bezeichnen. Einen solchen Willen zu haben ist dann der Kern des Motivationsprozesses. Mit Abschluss der Befriedigung gibt es noch eine Phase des Nachsinnens, der ebenfalls zur Motivation gehört, und der kognitiv und emotional das Ergebnis des eigenen Handelns betrachtet. Ich werde im folgenden dann von Motivation reden, wenn es um diese erste Phase, die Willensbildung, und um die letzte Phase, um das Nachsinnens. Die beiden mittleren Phasen gehören dazu, werden aber unter dem Begriff der Volition auch gesondert aufgeführt.
Volition
Mit der Volition ist ein Motiv bewusst. Es existiert gleichsam ein erstes Abbild des Zielzustandes und meist auch Ideen, wie dieser Zustand zu erreichen ist. In dieser zweiten Phase der Motivation werden mehr oder weniger ausgefeilte Pläne entwickelt und das zielführende Handeln vorbereitet. Die dritte Phase schließlich setzt diese Pläne um. An ihrem Ende steht die Behebung des Mangels.
Während ich für das Bedürfnis immer noch auf die Maslowsche Bedürfnispyramide zurückgreife, nutze ich für die Emotion das Modell von Plutchik und Schacter. Die vier Phasen der Motivation (einschließlich der Volition) entnehme ich dem sogenannten Rubikonmodell. All dies sind Modelle, mit denen ich nicht wirklich glücklich bin. Maslow ist mir zu blauäugig, Plutchik betont zu sehr die präfigurierten Formen der Evolution in der Emotion, während sich das Rubikonmodell zwar zu einer groben Einteilung ganz gut verwenden lässt, damit aber auch nur eine grobe Beschreibung liefert, die bei vielen Ausnahmen versagen muss. Bleibt hinzuzufügen, dass das menschliche Handeln von vielen Ausnahmen geprägt wird. Zumindest in Bezug auf dieses Modell.

Unbewusste Anteile

Schon bei meiner Beschreibung dürfte deutlich geworden sein, dass das Modell trotz seiner Fehler deutlich darauf zeigt, wie viele unbewusste Anteile bei der Willensbildung und dem Willen selber mitwirken. Darauf weist zum Beispiel das „Eisberg“-Modell hin: mit diesem wird symbolisiert, dass ein Eisberg gleich den Bedingungen unseres Bewusstseins zu sechs siebtel der Wahrnehmung entzogen ist.

Integrationswille

Kann man seine eigene Integration wollen?

Ich denke, dass deutlich genug geworden ist, dass die Struktur der Willensbildung eine simplifizierte Rede von einem Integrationswillen nicht zulässt. Sicher: den Willen muss es auch geben; aber gefördert und befördert wird er durch das Milieu.
Ein besonders zentraler Moment bei der Geburt des Integrationswillens ist die erste Phase der Motivation. Hier schneiden sich Ideen der Bedürfnisbefriedigung mit den Angeboten von Motiven, die eine Kultur bietet. Unsere Kultur ist nun voll von Konsummotiven. Andere Motive spielen meist eine untergeordnete Rolle. Ob dieses Angebot pervertiert, kann man dann aber eher an langeingesessenen Menschen beobachten, mithin nicht an gerade angekommenen Flüchtlingen.
Man kann von hier aus verschiedene Fragen fragen und verschiedenen Spekulationen folgen: Flüchtlinge geraten zuerst und zunächst mit der Oberfläche unserer Kultur in Berührung. Diese ist auf das Anbieten von Waren ausgerichtet, mithin auf Konsumanreize.

Ein Wahrnehmungsproblem

Hier muss ich allerdings einhaken. Was auch immer Flüchtlinge antreibt, ihr Land zu verlassen (ich nehme an, dass es sehr unterschiedliche Bedürfnisse sind, die von allerlei Seiten meist zu wenig komplex beschrieben werden), warum auch immer diese also ihr Land verlassen: was unsere Kultur anbietet, trifft auf eine weitestgehend individualisierte Aufmerksamkeit. Was also von unserer Kultur (also "Kultur") angeboten wird, wird trotzdem individuell wahrgenommen. Was genau das ist, lässt sich wieder nur schwer sagen.

Begrenzte Pluralität

Meine Front sowohl gegen das Deutschtum als auch gegen den Multi-Kulti sind bekannt. Beide Begriffe sind mythisch. Sie nehmen strukturell gesehen sogar recht ähnliche Positionen ein. Der Befürworter des Multi-Kulti bietet ähnliche Denkmuster auf, wie die Verfechter des Deutschtums (weshalb deren Streit manchmal so lächerlich aussieht, zumindest von meiner Position aus).
Man muss dagegen von einer begrenzten Pluralität ausgehen, die weniger Übereinstimmung bietet, als die Einheitsdenker dies behaupten, und die weniger Differenzierung aufweist, als dies Pluralisten beschwören. Ironisch rede ich hier von einer begrenzten Pluralität.
Wie dem im Einzelnen auch sei: die Integration in eine Gesellschaft wird dadurch schwierig, weil man zwar im Abstrakten sagen kann, dass Flüchtlinge sich in Deutschland einfügen sollen, sie im Konkreten aber einer nicht genau einzuschätzenden Auswahl gegenüberstehen. Da diese Gruppen untereinander gelegentlich spinnefeind sind, kann für die einen die Integration gelingen, für die anderen nicht.

Schluss? - Nein, Abbruch

Ich vermag nicht weiter zu schreiben. Von hier aus müssten so viele Ansätze integriert werden, so viele Sachen noch einmal gegeneinander abgewogen werden, dass ich diese gerade nicht zu integrieren vermag [sic!]. Nein, eigentlich habe ich schon noch eine ganze Ecke geschrieben, aber ungeordnet, mal nach hier und mal nach da. Jetzt habe ich aber auch noch anderes zu tun, als zu schreiben, und so bleibt dies statt eines langen, dann doch ein relativ kurzes Fragment.
Immerhin dürfte aber klar geworden sein, dass ich von einem Urteil wie "Zu viele Migranten wollen sich gar nicht integrieren" wenig halte. Unsere Gesellschaft fördert Anpassung und Unangepasstheit, Integration und Desintegration, Tradition und Innovation. Wer hier eine Generalintegration fordert, fordert Unmögliches und überfordert damit.

06.05.2016

Handgeschrieben

In den letzten Monaten habe ich wieder die Lust am Schreiben mit dem Stift entdeckt. Vieles, was ich derzeit durchdenke (meist Computersachen: Datenstrukturen, Algorithmen), passiert zunächst in meinen papierenen Arbeitsheften. Auch am Computer schreibe ich wieder mehr mit der Tastatur. Zum Teil liegt auch das an den Computersprachen: ich werde diese nicht auch noch in mein Spracherkennungsprogramm einpflegen.
Meinen Blog schreibe ich ebenfalls wieder vorwiegend handschriftlich. Nachdem ich meinen inneren Schweinehund überwunden habe und mal die Art und Weise angesehen habe, wie Blogger HTML und CSS nutzt, will ich eigentlich gar nicht mehr zu dem WYSIWYG zurückkehren: da werden so viele überflüssige Sachen reingeschrieben, so viele Markierungen falsch gesetzt, und alleine dadurch, dass ich die wenigen Artikel dieses Jahres mal ordentlich an HTML angepasst habe, hat sich die Besucherzahl deutlich erhöht. Ansonsten habe ich in den letzten Monaten zwischen 1000 und 1500 Besucher pro Tag gehabt, neuerdings (und trotz guten Wetters) sind es öfter mal 500 mehr, ein Anstieg, den ich sonst nur bei reger Tätigkeit als Artikelschreiber erlebt habe, und wenn ich mich über Twitter verbreitet habe ( allerdings nutze ich Twitter gerade ausschließlich für meine Videos).
Was sehr nützlich ist: die Überschriften richtig markieren (aus nicht nachzuvollziehenden Gründen fängt Blogger die Artikelüberschriften nicht mit h1, sondern h2 an, was man aber manuell beheben kann), und Markierungen mit mark, em und strong setzen. Außerdem scheinen Inhaltsverzeichnisse bei längeren Artikeln sinnvoll zu sein.

05.05.2016

Was ist eine Ideologie?

Gelegentlich meckert jemand, weil ich Ideologien nicht ablehne. Ideologien seien böse, pfui und bäh. - Nicht ganz. Was ich zu erklären versuche, befindet sich noch im Probestadium, und insofern ist das Meckern durchaus erlaubt (auch wenn es gerne konstruktiv sein darf). Tatsächlich aber sehe ich die Ideologie, sofern sie unter gewissen Vorzeichen steht, immer noch im Gefolge der antiken Tugendlehre und als notwendige Weiterentwicklung dieser. Unter welchen Vorzeichen jedoch ist die Ideologie tatsächlich abzulehnen? Hier möchte ich nicht selbst antworten, sondern kurz darstellen, was Hannah Arendt schreibt.

Die Herrschaft der Prämisse

In Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft schreibt Arendt von der »›Eiskälte‹ der menschlichen Logik« (S. 720). Die Idee kann eine solche Eiseskälte gar nicht verbreiten, da sie nur durch Beispiele illustriert wird. Der Zusammenhang zwischen einer Idee und ihrer Verwirklichung ist durch eine Praxis, die immer mehr als die Idee selbst ist, schwierig, und deshalb auch vielfältiger Deutungen zugänglich. Zudem besteht die merkwürdige Einheit einer Idee gerade daraus, dass sie sich nur in ihrer Verwirklichung definiert und so der Verwirklichung nur in dem Sinne vorgängig ist, als bereits andere Menschen früher die Idee in die Praxis umzusetzen versucht haben.
Was Arendt hier beschreibt, dass ist eigentlich der Perversion der Idee. Indem sie als unbedingt vorausgesetzt wird, kann man aus ihr die Verwirklichung dann deduzieren. Dann handelt es sich aber nicht mehr um eine Idee, sondern um eine Handlungs- und Denkprämisse. Und dies wäre noch nicht so schlimm (und darin widerspreche ich Hannah Arendt auf gewisse Weise), wenn es eine Prämisse wäre, die mein Handeln und mein Denken anleitet. Das Schlimme an der Umwandlung einer Idee in eine Prämisse geschieht dann, wenn sie zum Ausschlusskriterium ganzer Bevölkerungsschichten benutzt wird.
Man müsste also nicht von einer Ideologie, sondern von einer Prämissologie sprechen.

Was ist eine Ideologie?

Arendt charakterisiert die Ideologie durch folgende Merkmale:
  • nahtlose Deutungsmacht
  • Erfahrungsunabhängigkeit und Weltlosigkeit
  • deduktive Beweisführung
Das dritte Merkmal ist insofern obsolet, als eine nahtlose Deutung und Eiskälte der Logik nur deduktiv, also a priori, möglich ist. Und da a priori die Schlussfolgerung vor jeder inhaltlichen Erfahrung ist, ist eigentlich auch das zweite Merkmal schon abgeleitet. Wir behalten also die nahtlose Deutungsmacht, das Zusammenfallen von Hegemonie und Hierarchie als Wesen der "Ideologie" bei.
Es ist unabsehbar, dass totalitäre Herrschaft einen guten Willen zur Hierarchie der Bürokratie hat (auch wenn dieser in sich nicht logisch aufgebaut sein muss): der Stalinismus ist so absurd in seiner Verwaltungsaktivität, wie die nationalsozialistische Herrschaft absurd war in ihrer Militäraktivität.

Die Ideologie der Islamisierung

Und ebenso lächerlich (noch lächerlich!, wie ich befürchte) sind die Ideen der Umvolkung und der Islamisierung. Solange der Islam keine Bürokratie im großen Stil ausbildet, wird er eventuell hier und da durch Terror auffallen (was auch unerträglich schlimm ist), aber keineswegs wird er "islamisieren". Nein, ich sehe keineswegs die Gefahr einer Islamisierung.
Die Idee der Islamisierung dagegen hat sich bei vielen ihrer Anhänger längst in eine Prämisse umgewandelt, in einen schicksalhaft notwendigen Geschichtsverlauf, der gewaltsam seine Bahn bricht, wenn man nicht - diesem mit Gewalt und (Staats-)Terror begegnet. - So erzeugen die Ideologie-Vorwerfer unter der Hand das, was sie anprangern: eine pervertierte Ideologie, die sie ganz Deutschland aufzwingen wollen. So nämlich schafft sich Deutschland wirklich ab. Denn der Sarrazin und der Pirinçci, die Petry und Bachmann, die werden mir die deutsche Kultur nicht erklären; dazu wissen sie zu wenig von ihr.

Was mich auch noch erschreckt

Was mich allerdings auch noch erschreckt, ist, wie wenig stolz, wie undeutsch sich diese "guten Deutschen" gebärden. Nichts, was diese Menschen dort vorleben, erscheint attraktiv. Dieses Geplärre, diese Ein-Satz-Argumentationen, dieses beschränkte Vokabular, diese verwaschenen Begriffe. Und wenn das wirklich Deutschland wäre, dann wäre es tatsächlich sinnvoll, dass es sich abschafft.
Bei Lidl werden gerade bei jedem Einkauf Sticker-Bilder zur Fußball-EM verschenkt. Meines habe ich einem kleinen Jungen gegeben. Er hat sich gefreut. Ob das ein arabisches Kind war (ich wohne am Rande eines vorzugsweise arabischen Viertels), war mir so was von egal. Dass so etwas in Deutschland noch ohne Hintergedanke passieren darf, ist mir dagegen nicht egal.

01.05.2016

Eine Art Ritual

In meinem Leben gibt es so eine Art Frühjahrsritual, eines, dem ich dieses Jahr frühzeitig vorweggreifen wollte.
Immer, wenn der Mai sich nähert, hole ich mir die Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff heraus. Dann lese ich darin, lese neu, lese, blättere, denke nach. Und seit Jahren trage ich mich mit dem Gedanken, mal wieder etwas über sie zu schreiben, einer der großen Wortkunstschaffenden im deutschsprachigen Raum.
Es gelingt mir nicht. Ich sammle, stelle gegenüber, vergleiche, liste auf, gruppiere. Aber je mehr ich mich darein versenke, umso weniger sehe ich eine Einheit. Ich habe also frühzeitig zu schreiben versucht, und bin gescheitert. Die Interpretation liegt in vielfältige Trümmer geschlagen vor mir da.
Neulich habe ich mich mit der Etymologie des Wortes scheit beschäftigt. Zu finden ist dies in Die Mergelgrube:
Stoß deinen Scheit drei Spannen in den Sand,
Gesteine siehst du aus dem Schnitte ragen,
...
scheit, so wie es im Grimmschen Wörterbuch steht, ist doppeldeutig. Es ist Werkzeug, Instrument und Abfall:
Werkzeug
als grabscheit (Spaten), knetscheit (wohl eine Art Holzrolle), und in ähnlichen Komposita
Instrument
als Span zum Anzünden von Feuer (siehe scheiterhauffen), auch als Holzstück, um etwas zu verkeilen
Abfall
scheiter (im Unterschied zu scheit) als gewaltsam zersplitterte trümmer, siehe: in scheiter gehen
Weiters gibt es eine metaphorische Übertragung, deren Verbindung seltsam, nicht ganz genau zu bestimmen ist:
Unbeweglichkeit
scheit, steifer scheit, dürrer scheit, zur charakterisierung einer trägen unbeweglichkeit
Alle vier Bedeutungen strahlen in das Gedicht aus:
Trümmer
Vor mir, um mich der graue Mergel nur,
Was drüber sah ich nicht; doch die Natur 
Schien mir verödet, und ein Bild erstand
Von einer Erde, mürbe, ausgebrannt; ...
Es gibt zwei Werkzeuge im Gedicht, die zusammen mit anderen semantischen Differenzen (von Oppositionen kann man nicht sprechen) das Gedicht strukturieren: der Scheit selbst (Z. 1) und die Nadel, also: Stricknadel (Z. 86). Diese stellen sich in ein unbestimmtes Verhältnis zum Beispiel zu Bertuchs Naturgeschichte (welches der Hirte liest) und den Anspielungen auf das erste Buch Mose, der Genesis, ebenso zu dem scharfen und dem lauen Wind, den zusammengewürfelten Steinen und dem Medusenstein, usw.
Ebenso lassen sich Instrumente finden, dem göttlichen der Sintflut, dem mythischen des Byssusknäuels (byssos --> Stoff des Leichentuchs).
Vor allem der Hirte wird durch eine Trägheit charakterisiert:
  • wie er bedächtig seine Socken strickt
  • so sacht und schläfrig, wie die Lüfte streifen
Aber ganz so einfach ist das alles nicht. Vor allem ist es jeweils anstrengend, die eigenen kulturellen Kodierungen, mit denen Leser die Lücken in der Bedeutung aufzufüllen geneigt sind, herauszuheben und abzuweisen. Interpretation ist wesentlich Selbstreflexion und Selbsterkenntnis.

Ich halte mich zurück mit all meinen kleinen Bruchstücken. (O welch' ein Waisenhaus ist diese Heide, ...)
Dafür hier noch die wunderbare erste Strophe aus der Ballade Der Fundator:
Im Westen schwimmt ein falber Strich,
Der Abendstern entzündet sich
Grad' über'm Sankt Georg am Tore;
Schwer haucht der Dunst vom nahen Moore.
Schlaftrunkne Schwäne kreisen sacht
Um's Eiland, wo die graue Wacht
Sich hebt aus Wasserbins' und Rohre.