31.01.2022

Böhmermann und die Ratten

Und weil sich gerade wieder mal ein gewisses politisches Spektrum über Jan Böhmermann aufregt: dieser habe nämlich, so ihrer Aussage nach, Kinder mit Ratten verglichen.
Sieht man sich aber diesen Vergleich an, stellt man fest, dass es sich um eine Verhältnisgleichheit handelt, also gerade nicht darum, dass Kinder wie Ratten seien, sondern dass sie ein gleiches Verhältnis einnehmen. Gleich aber ist eben nur das Verhältnis, bzw. gleichgesetzt. Logisch gesehen ist dies eine Analogie (= Verhältnisgleichheit), ein für den Humor wichtiges rhetorisches Mittel. Von der Logik her gesehen ist die Analogie allerdings eine schwache und kritisierenswerte Form des Schlusses.
Kinder also durchseuchen derzeit die Gesellschaft mit Covid, wie einstmals die Ratten mit Pest.
Würde man diese etwas widersinnige Logik der Böhmermann-Gegner auf andere Analogien anwenden, dann wäre die Taube Kants von diesem mit dem Bewusstsein gleichgesetzt worden; und wenn sich die Beine zum Hund wie die Räder zum Auto verhalten, dann doch nicht, weil irgendjemand auf die (idiotische) Idee kommt, dass Beine genau dasselbe wie Räder seien. Ansonsten müssten gewisse Herren aus der Welt-Redaktion damit zufrieden sein, wenn man ihnen statt eines Autos einen Hund in die Tiefgarage stellt.
Aber es gehört wohl zu einem gewissen politischen Spektrum auch dazu, logische Haarspaltereien dann zu betreiben, wenn es dienlich ist, und diese komplett zu vergessen, wenn es ebenfalls dienlich ist. Dann mag man immerhin das eine noch logisch nennen, auch wenn es haarspalterisch ist, doch die Idee der Logik, die subjektiven Interessen aus der Argumentation herauszuhalten, wird damit komplett ad absurdum geführt.
Mindestens wird aber diese Art von „Kulturkampf“ nie aufhören, ist doch jedes dichterische Werk, sei es tragisch, sei es komödiantisch, eine subjektive Betrachtung; und dort, wo dies noch in die Politik hineinspielt, bei der subjektive Interessen objektiv vermittelt werden müssen, stößt dies auf besonders umständliche und zum Teil auch schwer zu erfassende Bedingungen. Satire ist darin ein Freiraum, der sich in gewisser Weise von der Komplexität einer umsichtigen politischen Diskussion befreien darf; tragisch dagegen ist, wenn dieser Freiraum auf so unsinnige Weise in die politische Diskussionskultur hineingetragen wird. Dass sich eine Zeitung wie die Welt, vornehmlich auch ein solch politischer Stoffel wie Rainer Meyer (genannt: Don Alphonso), auch die ganzen, sonst nie um eine Herabwürdigung verlegenen AfD-Politiker*innen in gleichem Maße empört geben, zeigt vor allem, wer hier um echte Argumente verlegen ist und mit Gegenpositionen nicht umgehen kann.

30.01.2022

Ideologie

Ideologie ist zu einem abwertenden Begriff geworden, meist auch nur noch zu einer ausschließenden Floskel, die man dem Gegner vorwirft. Ursprünglich bedeutet Ideologie die Lehre von den Ideen. Ideen sind neben den Begriffen und den Urteilen Bestandteile des Bewusstseins. Begriffe werden durch Abstraktion vom Sinnlichen gewonnen. Sie haben immer einen sinnlichen Gehalt. Urteile verknüpfen das Allgemeine mit dem Besonderen, bzw. den Begriff mit der Anschauung. Ideen dagegen können nicht durch Abstraktion gewonnen werden; sie verwirklichen sich in Beispielen.

Vernunft

Laut Kant ist es die Vernunft, die die Ideen erschafft. Die Vernunft ist noch nichts besonderes, das einzelne Menschen mehr oder weniger auszeichnet (so jedenfalls im alten Gebrauch, nicht, wie heute die Vernunft willkürlich einem Menschen zu- oder abgesprochen wird). Sie ist jedem Menschen eigen; man kann aber die Vernunft gut oder schlecht, d. i. die Ideen gut oder schlecht gebrauchen.

Ausdruck

Die Idee lasse sich nur durch Beispiele ausdrücken; sie zeigt sich, wie sich ein Naturgesetz zeigt. Der Apfel fällt nicht vom Baum, weil ihn die Schwerkraft dazu veranlasst, sondern im Fallen des Apfels drückt sich die Schwerkraft aus. Und so verursacht eine Idee nicht ein bestimmtes Phänomen oder eine Situation, sondern diese drückt sich darin aus: Sie artikuliert und verwirklicht sich darin. Weil sie sich darin verwirklicht, weil sie immer wieder neu in anderen Situationen verwirklicht werden kann, ist die Idee unendlich. Weder weil sie angeboren, noch weil sie göttlich ist, ist eine Idee unendlich; hier widerspricht Kant älteren Ideenlehre.

Die konsequente Denkungsart

Die Vernunft, und somit die Ideen gut zu gebrauchen, weist Kant der dritten Denkungsart zu, die er konsequente Denkungsart nennt. Sie beruht auf den beiden anderen Denkungsarten, der vorurteilsfreien Denkungsart, d. i. die Denkungsart des Verstandes und der Begriffe, der erweiterten Denkungsart, d. i. die Denkungsart der Urteilskraft und der Urteile; und diese
»kann auch nur durch die Verbindung beider ersten, und nach einer zur Fertigkeit gewordenen öfteren Befolgung desselben, erreicht werden.« (KU A 158)
Konsequent bedeutet bei Kant nun gründlich und fest, sich nämlich nicht mit dem ersten Augenschein begnügen zu lassen, und auch nicht mit dem ersten Beispiel. Gründlichkeit meint, sich jedes Beispiel (exemplum) aufs genaueste anzuschauen; da sich die Idee nämlich nur im Material ausdrückt, nicht aber selbst als materielles Element darin enthalten ist, bedarf es der Auslegung, d. i. der Erläuterung, warum dieses oder jenes Beispiel eine Idee gut oder schlecht oder auf halbem Wege ausdrückt. Diese Darstellung (Hypotypose) ist, wenn sie sich auf Ideen bezieht, analogisch, also durch eine Verhältnisgleichheit, nicht also dem Inhalte nach.

Das Exemplum

Wenn Kant den Verstand im Verhältnis zu Sinnlichkeit mit einer Taube vergleicht, die im luftleeren Raum nicht fliegen könne, da ihr der Widerstand unter den Flügeln fehle, so will er nicht damit sagen, dass der Verstand wie eine Taube sei, sondern dass die Sinnlichkeit auf der einen Seite im Verstande widersteht, ihm auf der anderen Seite aber erst zum Aufschwung verhelfe.
So plastisch dieses Beispiel auch ist, so irreführend ist es: Ideen verwirklichen sich nicht nur ausnahmsweise, sondern immer; sie sind ein integraler Bestandteil des Denkens – und insofern ist die Ideologie gar nicht politisch gemeint, sondern schlichtweg ein Teil der Selbstaufklärung und des guten Gebrauches seines Denkens. Die Vernunft allerdings erzeugt und reproduziert die Ideen spontan; Spontanität: d. i. bei Kant die Aktivität des Bewusstseins, die immer schon vor dem Bewusstwerden geschieht, also nur im Nachhinein bewusst gefasst werden kann; insofern bleibt vieles im Bewusstsein vorbewusst, nicht reflektiert. So ist es auch mit den Ideen. Sich über sich selbst aufzuklären heißt damit auch, sich seiner Ideen und ihres Gebrauches bewusst zu werden.

Tugenden

Mit Einschränkung ersetzen hier die Ideen die antike Tugendlehre: war diese noch stärker von äußeren Handlungen geprägt, d. h. zum Teil ritualisiert, wird bei Kant jede Handlung den Ideen gemäß prüfbar und der Prüfung verpflichtend. Dies ist aber zunächst eine Prüfung des eigenen Denkens, also eine Aufgabe der Selbstdisziplin. Die Tugend zeigt sich damit als gründlich durchdacht und in ihrer Ausführung fest.
Dies ist dann auch der Umgang mit Ideen: Gründlichkeit und Festigkeit.

Gründlichkeit

Gründlichkeit meint, nicht nur eine, sondern viele Erscheinungen und Situationen nach einer Idee zu durchdenken und ihre Verwirklichung wertzuschätzen. Festigkeit dagegen ist weniger eine Hartnäckigkeit, aus der leicht eine Hartherzigkeit werden mag, sondern sich weder durch Widerstände noch durch die eigene Bequemlichkeit von der Interpretation der Phänomene abbringen lassen; man mag das so verstehen, dass dies zunächst ein schonungsloser Blick auf sich selbst und den eigenen Gebrauch der Ideen sei.
Nun gibt es zwei Formen der Gründlichkeit. Da jegliche Situation, jegliches Verhalten eine Idee nur ausdrückt, dies aber nie in materieller Form, lässt sich auch jede Situation oder Verhalten nach verschiedenen Ideen durchmessen. So ist die eine Form der Gründlichkeit, eine Idee auf vieles und Verschiedenes anzuwenden; die andere aber, viele Ideen auf das eine und gleiche als Maßstab zu legen. Dass dies nicht ungewöhnlich ist, sondern etwas alltägliches, sieht man überall dort, wo Menschen durch den menschlichen Verkehr in Konflikt miteinander geraten. Doch der Konflikt ist schon etwas Sekundäres; die eigentliche Anwendung der Ideen auf ein Phänomen mag auseinanderstrebend oder zusammenführend verlaufen, ist aber von einem Vorrang oder einem Machtinteresse befreit. So mag man die Waldstein-Sonate Beethovens nach ihrer Schönheit oder nach ihrer musikgeschichtlichen Bedeutung beurteilen; die Ergebnisse müssen sich nicht notwendig ausschließen, ja noch nicht einmal für einander eine große Bedeutung haben – was man an all den Musikstücken sieht, die Menschen zwar als schön empfinden, die für die Musikgeschichte aber eine unbedeutende Rolle spielen.
Trotzdem gebührt die Betrachtung mehrerer Ideen am gleichen Sachverhalt insofern ein Vorrang, als sich hier nicht einfach nur das Maß der Verwirklichung diskutieren lässt, sondern die Ideen einander beeinflussen, kooperieren oder im Widerstreit stehen. Auch wo der Mensch sich nur auf eine einzelne Idee beruft, setzt er diese als absolut, d. i. eine fixe Idee.

Das Trügerische der Ideen

Insofern bleibt die Reflexion auf die Ideen auf doppelte Weise schwierig; sie ist, ihren Verwirklichungen nach, unendlich, diesem Zusammenhang nach, also ihrer empirischen Erscheinung nach, trügerisch, scheinhaft. Denn die Aussagen der Empirie führen immer nur zu Begriffen, die durch Abstraktion gewonnen sind, nicht zu Ideen, die durch Analogie erschlossen werden können. Hier spielt auch mit hinein, dass die Analogie ein schwacher und missbräuchlicher Schluss ist, also gerade nicht der Strenge eines rationalen Denkens zuträglich und deshalb der besonders strengen Beobachtung nötig.

Der schlechte Gebrauch der Ideen

Den schlechten Gebrauch der Ideen kann man wie folgt einteilen: durch unklare, monotone oder falsche Ideen. Die unklaren sind jene, die man nicht gründlich diskutiert, die monotonen jene, die man nicht in ein Wechselspiel mit anderen Ideen gesetzt hat. Von den falschen Ideen gibt es zweierlei; die ersten beruhen auf der empirischen Verwechslung. Ein schönes Bild drückt zwar die Schönheit aus, ist aber nicht die Idee selbst, so wie ein Verhalten aus Nächstenliebe noch nicht die Idee der Nächstenliebe selbst ist. Diese Verwechslung ist allerdings von minderem Schaden, solange sie sich in der Wirklichkeit als solche nützlich erweist.

Die theologische Verwechslung

Die andere beruht auf der theologischen Verwechslung; so sind Weltbilder, seien diese christlich, muslimisch oder säkularisiert, keineswegs Ideen, sondern Ideenspender. Wie sich das Christentum durchaus in sehr unterschiedlichen Ideen zeigt, zum Teil auch widersprüchlichen, so kann generell den Weltbildern keine Einheitlichkeit zugesprochen werden, da diese in der Benennung nur zusammenfassend, nicht aber definierend sind. Dies gilt für fast alle Ismen, sei es die Nationalismen, der Feminismus oder der Kommunismus. Wer also Gebrauch von diesen Weltbildern macht, hat wenig gesagt, wenn er nicht die Ideen benennt, die er sich daraus entnimmt.

Innere Freiheit

Freiheit nimmt unter den Ideen eine besondere Stellung ein. Zwar muss man bei Kant zwischen einer äußeren und einer inneren Freiheit unterscheiden, und gemeint ist hier nur die innere, d. i. intellektuale Freiheit, doch ist diese die Voraussetzung für die äußere, d. i. gesellige.
Freiheit sei a priori und die einzige Idee, die a priori sei. Um etwas konsequent zu durchdenken, muss ich dies wollen. Um etwas zu wollen, muss ich wählen können; dazu aber brauche ich die Freiheit (die innere, wohl gemerkt). Die Freiheit ist damit die Bedingung der Ideen und damit die einzige Idee, die nicht in Konkurrenz oder Kooperation mit anderen Ideen besteht, sondern die Bedingung ihrer freien, d. i. gewählten Anwendung.
Aber die Freiheit kann nur dann geklärt werden, wenn 1.) Ideen konsequent, d. i. gründlich und hartnäckig bedacht werden, und 2.) die Ideen sich aneinander gegenseitig beschränken und einschärfen. Nimmt man das erstere nicht ernst, so nutzt man seinen Willen nur auf schwache Weise, d. h. man bricht ab, bevor man die fiktionale Totalität der Idee erreicht hat, und bleibt inkonsequent; und im zweiten setzt man die eine Idee, die man gewählt hat, an die Stelle der Freiheit und wird damit unfrei.
Die beiden Tendenzen sind widerstrebig: einmal die fiktive Ganzheit der Idee, die nie erreicht und nie zu Ende gedacht werden kann, und einmal die „Absolutheit“ der Idee, die nur existieren kann, wenn sie sich von anderen konsequenten Denkweisen, also anderen Ideen absetzt.

Kritik

Kritik ist die Verneinung am Leitfaden einer Idee; hier zuvorgegangen sein muss die gute Einübung, die gründliche Diskussion. Da immer eine Mehrzahl an Ideen auf ein Phänomen anwendbar sind, ist auch die Kritik mehrfach; so wie sich die Ideen in ihrem positiven Gebrauch nicht ausschließen, so schließen Kritiken einander nicht aus, gleichwohl sie sich gegenseitig erhellen können. Verneinung bedeutet, dass ein Sachverhalt eine Idee schlecht oder gar nicht verwirklicht; sie ist von der empirische Verneinung abzugrenzen, die besagt, dass ein Sachverhalt nicht vorliegt oder zwei Sachverhalte zueinander anders stehen, als bisher angenommen. Von Interesse sind solche ideellen Verneinungen, also Kritiken, allerdings erst, wenn sie zugleich eine Klärung ermöglichen, d. i. sie vergleichend, begründet, gründlich und umsichtig sind.

Schluss

Diese Zusammenstellung ist als Übersicht gedacht. Sie ist dogmatisch formuliert, um sie knapp zu halten; aber auch, weil ein wesentlicher Teil ihrer Begründung auf eine umfassendere Darstellung Kants referieren müsste, insbesondere auf die sehr hintersinnige Verbindung der Begriffe und der Ideen (die Kant auch Verstandes- und Vernunftbegriffe nennt, weil die empirischen Begriffe dem Verstand, die ideellen Begriffe oder Ideen der Vernunft zugehören).

02.01.2022

Selbstdenken

»Jeder trägt einen Prüfstein bei sich, den er nur anzuwenden braucht, um Wahrheit und Schein zu sondern.«
(J. Locke, Über den richtigen Gebrauch des Verstandes, Leipzig 1920, S. 8)
»Gestrauchelt bin ich hier; denn jeder trägt / Den leidgen Stein zum Anstoß in sich selbst.«
(Kleist, Heinrich von: Der zerbrochene Krug, Z. 5-6)

Selbstdenken bei Kant

Jüngst ist der Begriff des ›Selbstdenkens‹ wo nicht zu einem Miss-, so doch zu einem sehr einfältigen Gebrauche gekommen. Blind aber, wer per se anderen Menschen überhaupt Gedanken abspricht. Denn mit dem Selbstdenken ist nicht das Denken-können gemeint, sondern letzten Endes das Verhältnis der Gedanken zu sich selbst, zu denen anderer Menschen, schließlich der Menschheit insgesamt.
Dabei ist der Begriff nicht unschuldig, denn im ersten Moment möchte man glauben, dass es neben dem Selbstdenken auch ein Nicht-Selbstdenken gäbe. Immanuel Kant jedoch hat dazu eine ganz andere Erläuterung. Es lohnt sich, diese genauer anzuschauen. In einem Einschub in seiner Kritik der Urteilskraft, genauer: § 40, legt Kant zunächst dar, was er unter dem gemeinen, bzw. gesunden Menschenverstand versteht, um dann auf drei Maximen zu verweisen, die diesen gesunden Menschenverstand ausmachen. Wohl gemerkt handelt es sich hier um Maximen, also »praktischen Grundsätzen«; diese Feinheit lässt aufhorchen: das Selbstdenken ist demnach weder eine allgemeingültige Beschreibung, noch eine Art Begabung, die dem einen mehr, dem anderen weniger zukommt, sondern etwas, um das man sich aktiv kümmern muss.
Selbstdenken ist also nur ein Emblem; wichtiger ist die Erläuterung, die Kant dann dazu gibt.
Kant teilt zunächst den ›gemeine Menschenverstand‹ auf:
»1. Selbstdenken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken.« (KU 226)

Die Maxime des Selbstdenkens

Die erste Maxime, die uns hier insbesondere interessiert, führt Kant auch unter dem Begriff der vorurteilfreien Denkungsart auf. Nun ist der ganze Witz an dieser Stelle, dass uns Kant nie die Maxime direkt sagt, sondern diese nur umschreibt:
»Die erste ist die Maxime einer niemals passiven Vernunft.«
Dieser Satz lässt sich zweifach lesen, bzw. auf zweierlei Arten in eine Maxime umwandeln. Die erste ist »Denke stets aktiv« oder auch »Nutze deine Vernunft stets aktiv«; die zweite dagegen »Beachte, dass du immer (und ausschließlich) aktiv denkst« – ein passives Denken wäre demnach eine Selbsttäuschung, oder, wenn es von anderen vorgeworfen wird, eine Fremdtäuschung. Obwohl die folgenden Sätze dann zunächst die erste Lesart zu bevorzugen scheinen, wird die zweite nicht ausgeschlossen.
Kant definiert dann das Vorurteil und den Aberglaube, bevor er zur (Nicht-) Erläuterung der zweiten Maxime kommt. Er bleibt also bei seiner indirekten Definition des ›Selbstdenkens‹.

Vorurteil und Aberglaube

Das Vorurteil sei »der Hang […] zur passiven Vernunft«, also gerade nicht aktiv zu denken. Nun gibt es ein zweites Missverständnis, welches wir hinreichend klären müssen, um den Unterschied zwischen einer passiven und einer aktiven Vernunft zu verstehen. Etwas weiter unten korrigiert Kant sich nämlich und nennt die erste Maxime die Maxime des Verstandes. Der Verstand ist nun das Vermögen eines Menschen, Wahrnehmungen zu Begriffen zusammenzufassen; und auf der Rückseite bedeutet dies, dass der Verstand in der Lage ist, Einzelheiten wegzulassen, also zu abstrahieren. Erst dadurch ist es möglich, solche Begriffe zu bilden, die mehrere Objekte zu einer gleichen Menge ordnen. Der Kern dieser Tätigkeit besteht allerdings in der (durchaus naiven) Wahrnehmung alldessen, was die Sinne einem zu bieten haben.

Aktive und passive Vernunft

So gewendet bildet die aktive Vernunft auch aktiv Begriffe, während die passive Vernunft nur Begriffe von anderen übernimmt. Die passive Vernunft kümmert sich also, so lässt sich zwischen den Zeilen lesen, zu wenig um die sinnliche Wahrnehmung; dies erinnert an Kants wohl berühmtesten Satz
»Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« (KrV A 51),
um daran anzuschließen:
»Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als, seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).«
Damit ist dann aber eine doppelte Aufgabe bestimmt: die Begriffe zu versinnlichen, die sinnlichen Anschauungen zu verbegrifflichen.
Dadurch erklärt sich auch, warum die passive Vernunft als Quelle der Vorurteile gesehen wird: denn wenn sich die passive Vernunft weder um Veranschaulichung noch um Verbegrifflichung kümmert, entleert sie die Gedanken und wird blind für die reale, vor einem sinnlich und greifbar liegende Welt. Die Begriffe, so sie einfach übernommen werden, bezeichnen nichts mehr. Sie werden unbrauchbar. Schlimmer noch bezeichnen sie nicht mehr das, was ein Mensch durch aktives Denken erschaffen hat. Wozu ein solcher, freilich doch unangenehmer Zustand nützlich sein sollte, liefert Kant dann gleich mit:
»… indem die Blindheit, worin der Aberglaube versetzt, ja sie wohl gar als Obliegenheit fordert, das Bedürfnis, von anderen angeleitet zu werden, mithin den Zustand einer passiven Vernunft vorzüglich kenntlich macht.«

Anschaulichkeit und mediale Vermittlung

Man kann, als Zwischenhalt, festhalten, dass die mediale Vermittlung von Wirklichkeit, also Zeitungen, Fernsehen, Blogs und Video-Kanäle, trügerisch ist. Sie vermittelt uns die Wirklichkeit durch die Augen anderer, und leider auch allzu oft durch deren Rhetorik und der darin liegenden Zweckentfremdung. Zweifelsohne lässt sich die Komplexität der Welt von einem einzelnen schlecht erfassen, oder, um es mit Kant zu sagen, gibt es so viele Begriffe, dass wir uns dazu zu selten zu einer gründlichen Anschauung verhelfen können.
Gehen wir auf die aktuelle Situation zurück, so lässt sich zunächst nur sagen, dass die Erkenntnisse zu den Auswirkungen von Corona nur von den wenigsten anschaulich erschlossen werden kann. Den Bürger*innen liegen im allgemeinen nur medial vermittelte Sachverhalte vor, also ›leere Gedanken‹; und dies gilt sowohl für all diejenigen, die die gravierenden Folgen von Corona-Erkrankungen leugnen, wie diejenigen, die auf sie hinweisen. Bedenkt man nun, dass es sich ja eigentlich um eine wachsende Kluft zwischen Begriff und Anschauung handelt, kommt man nicht umhin, in den verhärteten Parteien der ›Leugner‹ und ›Befürworter‹ genau jenes Auseinanderdriften wiederzufinden. –
Es ist hier nicht Sinn und Zweck, einen Ausgang aus diesem Konflikt aufzuzeigen; ganz allgemein sei aber angemerkt, dass die Gesellschaft zwei Möglichkeiten anbietet: dies ist einmal der Sachverstand, zu dem sich jeder Mensch selbst verhelfen möge, hier also das Wissen um Virologie, Epidemiologie und Evolution im allgemeinen, zum anderen das geprüfte Vertrauen. Geprüft ist ein Vertrauen dann, wenn es auf vielfältige, unterschiedliche Quellen zurückgreifen und diese sachverständig beurteilen kann, sodass die Ergebnisse der Prüfung auf jene Menschen zurückfällt, denen wir unser Vertrauen schenken oder entziehen möchten. So bleibt als Fundament nichts anderes übrig, als seinen Sachverstand zu bilden; und erst darauf kann man, zumindest vorläufig, eine Parteilichkeit begründen. Dass es derzeit oftmals umgekehrt läuft, ja dass sich dieser Konflikt durch Beleidigungen und Bedrohungen zunehmend verselbstständigt, bietet zwar alles mögliche, jedenfalls aber nicht eine vorurteilfreie Denkungsart, kein Selbstdenken.

Die erweiterte Denkungsart

Deutlicher wird das Verhältnis zwischen Selbstdenken, Begriff und Anschauung, wenn man sich die zweite Maxime vor Augen führt. Kant nennt diese die ›Maxime der erweiterten Denkungsart‹, bzw. ›Maxime der Urteilskraft‹. Nun ist ein Urteil, zumindest das philosophische, zunächst nur eine Merkmalszuweisung, wie etwa ›Die Rose ist rot.‹. Hier wird aber klar, dass das Urteil die Anschauung, hier also die Rose, im Urteil in einen Begriff umwandelt; denn gleich wie die Rose dort auch immer sein mag, das Urteil hat an ihr vieles weggelassen. Erweitert ist diese Denkungsart nun, wenn ein Mensch »sich über die subjektiven Privatbedingungen des Urteils … wegsetzt«. Dazu muss er »aus einem allgemeinen Standpunkte (den er dadurch nur bestimmen kann, dass er sich in den Standpunkt anderer versetzt) über sein eigenes Urteil reflektiert«. Dabei sollte klar sein, dass es sich hier nicht einfach nur um beliebige andere Urteile handelt, sondern um Urteile, die einen bestimmten Sachverhalt betreffen. Wer dieser Maxime nicht folgt, ist nur zu einem bornierten (also beschränkten) Urteil fähig.

Gesunder Menschenverstand

Damit kehrt Kant aber auch zu dem Beginn seines Umweges über die Denkungsarten zurück. Hier definiert er den gesunden Menschenverstand, den er auch Gemeinsinn und gemeinschaftlichen Sinn nennt. Nachdem er zunächst die vulgäre Bedeutung dieses Wortes zurückgewiesen hat, schreibt er:
»Unter dem sensus communis aber muss man die Idee eines gemeinschaftlichen Sinnes, d. i. eines Beurteilungsvermögens verstehen, welches in seiner Reflexion auf die Vorstellungsart jedes anderen in Gedanken … Rücksicht nimmt, um gleichsam an die gesamte Menschenvernunft sein Urteil zu halten, und dadurch der Illusion zu entgehen, die aus subjektiven Privatbedingungen, welche leicht für objektiv gehalten werden könnten, auf das Urteil nachteiligen Einfluss haben würde. Dies geschieht nun dadurch, dass man sein Urteil an anderer, nicht sowohl wirkliche, als vielmehr bloß mögliche Urteile hält, und sich in die Stelle jedes anderen versetzt, in dem man bloß von den Beschränkungen, die unserer eigenen Beurteilung zufälliger Weise anhängen, abstrahiert …« (KU A 155)
Kants Definition birgt nun einige Unsicherheiten. So ist das faktische Urteil eines, welches sich durch Überprüfung und Absicherung objektivieren lässt; dagegen steckt in jedem Urteil auch ein subjektiver Anteil, von dem Kant hier absehen möchte. Da sich aber viele Urteile nur bei genügend Sachverstand von ›subjektiven Privatbedingungen‹ abstrahieren lassen, bei anderen, den rein politischen Urteilen, dies sogar gar nicht möglich ist, denn hier ist die Parteilichkeit geradezu Bedingung des Urteils, kann man zwar das einfache, bornierte Urteil überwinden, den gemeinschaftlichen Sinn vollumfänglich aber nicht erreichen.

Die Mängel der ›Querdenker‹

In der Szene der so benannten ›Querdenker‹ finden sich alle die Merkmale wieder, gegen die Kant hier angeschrieben hat: ein fragloses Übernehmen von Begriffen, ohne diese durch Anschauungen genügend geprüft zu haben; oftmals findet man zwar solche Anschauungen, aber nur als Medium, sodass man eigentlich nur ein Medium ansieht, und hier noch einmal zusätzlich, und bevor man den Inhalten glaubt, dieses Medium selbst überprüfen müsste. Das ungeprüfte, und zum Teil nicht überprüfbare Medium nennt man dann üblicherweise ›Fake News‹.
Der zweite Mangel ist dann der zu enge Bereich der Urteile, die in Betracht gezogen werden. Teilweise geschieht den Urteilen genau dasselbe, wie den Begriffen: Sie werden passiv übernommen; damit gehören sie aber zum Aberglaube, dem Gegenteil der Aufklärung.

Schluss

Kants recht verstreute Ausführungen über die Denkungsarten sind natürlich wesentlich komplexer als hier dargestellt. Es ginge aber auch nicht darum, eine möglichst präzise philologische Analyse zu liefern, sondern das ›Selbstdenken‹ präziser zu fassen; damit wird das abergläubische Denken, welches sich bei den Querdenker findet, hoffentlich konstruktiver kritisierbar. Zur Parteilichkeit möchte ich hier trotzdem nicht aufrufen. Die Corona-Leugner sind zwar aus vielen Gründen politisch weder sachlich noch anständig; dass dies sich aber automatisch bei ihren Gegnern finden ließe, lässt sich daraus nicht schließen. Auch dort ist Kritik, zum Teil deutlich scharfe, angebracht. Aber es wäre eine Kritik, die sich gerade von der der Querdenker deutlich unterscheiden müsste.
Selbstdenken jedenfalls ist die aktive Konstruktion von Begriffen; es steht, im Zusammenhang mit dem ›gesunden Menschenverstand‹, nicht alleine, sondern mit zwei anderen Denkungsarten, von denen ich hier nur eine etwas weiter ausgeführt habe. Das erweiterte Urteil dagegen ist ein anhand anderer Urteile geprüftes eigenes Urteil; dieses erweiterte Urteil bedingt eine bessere Begründung, deren Kern entweder anschaulich ist (also direkt auf ein sinnliches Phänomen hinweist) oder zumindest auf hinreichend geprüfte Quellen verweist (was einer Quellenkritik bedarf).
Meinungen, die hier übrigens gerne ungebührlich hineingemischt werden, können zwar durch gut konstruierte Begriffe abgesichert werden, gehören aber nicht in die Sphäre des Selbstdenkens. Meinungen sind subjektive Einschätzungen, wie ein sozialer Sachverhalt sich auf das eigene Leben einwirkt: sie sind entweder intuitiv (unbegründet) oder rational (begründet). Eine Aussage wie »Covid ist nicht schlimmer als eine Grippe« ist keine Meinung, sondern nur die Vorbereitung einer Meinung. Sie unterliegt deshalb auch nicht der Meinungsfreiheit, sondern ihrer jeweiligen Disziplin und muss deren Gesetzen, Begriffen und Urteilen gehorchen.