28.11.2009

Besucher

Ich bin immer noch fasziniert davon, welche Stichwörter meinen Blog bei google finden. Nach wie vor rangiert Das gesprenkelte Band mit dazu. Topp-Suchbegriff ist Sinnentnehmendes Lesen, dicht gefolgt von Charakterisierung Beispiel.
Der Link zum Semantischen Gedächtnis arbeitet sich nach und nach auch zu den Spitzenplätzen vor. Etwas abgeschlagen dagegen sind in den letzten drei Wochen Winnenden und School Shooter.

Heute wurden unter anderem gesucht: subscriptio literatur; permissio rhetorik; bauchgefühl metapher; grammatik wozu?; gewalt aus systemischer sicht; luhmann strukturalist; charakterisierung einer person beispiel.


24.11.2009

deutsch

Wenn ich mir eine Art Mensch ausdenke, die allen meinen Instinkten zuwiderläuft, so wird immer ein Deutscher daraus.
Nietzsche, Friedrich: Ecce homo, Der Fall Wagner



20.11.2009

Claude Lévi-Strauss III

»Der Begriff der ›Struktur‹ ist vermutlich nichts weiter als ein Zugeständnis an die Mode: ein Begriff mit klar umrissenem Sinn übt plötzlich für ein Dutzend Jahre eine einzigartige Anziehungskraft aus - so wie das Wort ›Aerodynamik‹: man fängt an, es zu verwenden, ob es passt oder nicht, nur weil es angenehm klingt. Ohne Zweifel kann eine typische Persönlichkeit unter dem Gesichtspunkt ihrer Struktur betrachtet werden. Aber man verwendet den Ausdruck auch für einen physiologischen Befund, für einen Orga­nismus, für irgendeine beliebige Gesellschaft oder Kultur, für einen Kristall oder eine Maschine. Alles mögliche - sofern es nicht völlig amorph ist - besitzt eine Struktur. Daher scheint es, als füge der Begriff ›Struktur‹, wenn wir ihn verwenden, dem, was wir in unserer Vorstellung haben, absolut nichts hinzu, außer einem angenehmen Kitzel.«
Kroeber, zitiert bei Lévi-Strauss, Claude: Strukturale Anthropologie I, S. 300

17.11.2009

Claude Lévi-Strauss II

Die  von  uns  zitierten  Beispiele  zeigen, wie  vergeblich es ist, eine Prioritätsbeziehung zwischen den Speiseverboten und den Vorschriften der Exogamie festlegen zu wollen. Die Verbindung zwischen beiden ist nicht kausal, sondern metaphorisch. Sexuelle Beziehung und Nahrungsbeziehung werden unmittelbar als ähnliche gedacht, auch heute noch: um sich davon zu überzeugen, braucht man sich nur an Argot-Ausdrücke zu erinnern wie etwa »faire frire« oder »passer à la casserole« usw. Aber welches ist der Grund für diese Tatsache und für ihre Universalität?
Auch hier bedingt der Gewinn auf logischer Ebene einen Verlust auf semantischer: der »kleinste« gemeinsame Nenner für die Vereinigung der Geschlechter und die von Essendem und Gegessenem ist, dass beide eine Verbindung durch Komplementarität eingehen:
Was sich nicht bewegen kann, dient den Wesen, die sich fortbewegen können, als Nahrung; die Tiere ohne Reißzahn dienen den Tieren mit Reißzahn als Nahrung, die ohne Greifwerkzeuge denen mit Greifwerkzeugen, und der Zaghafte wird vom Mutigen gefressen. (The Laws of Manu, V, 30)
Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken


12.11.2009

gegensätzliches ...

Oder ist es eine ZITTERWUT eine ZITIERWUT also daß man sich nur noch zeigen kann in der WORTVERKLEIDUNG : in der Sprache anderer, weil man sich zurückgenommen hat in die äußerste Lautlosigkeit Sprachlosigkeit Schweigsamkeit, weil man sich zurückgezogen hat in diesen äußersten Winkel aus welchem man nur noch hervorzulugen vermag, schon beinahe teilnahmslos das Geschehen ringsum betrachtend, die Vielzahl der Standpunkte der vibrierenden Welt usw.
Ist es eine ENTFLEISCHUNG frage ich mich frage ich dich, eine SELBSTAUFLÖSUNG, eine Zeit der Wirklichkeitsferne, ein treibender Schreibtisch mitten im Ozean meines Zimmers - jemand schüttelt plötzlich Pelztiere Pelztücher aus, ein milchiger Tag mit Schneepflügen in den Wolken, ein Strauch rieselt vorüber, Verstockungen in meinem Kopf / Vertrocknungen, die Umhüllungen sind abgefallen von meinem Korb eigentlich Kopf oder Korpus der nicht mehr zusammenhält sondern gemergelt leergedroschen geschrumpft und verwüstet ist - wie stehe ich

aus: Mayröcker, Friederike: Entfachung (in: Magische Blätter)


Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Täter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Täter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte tätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin entladen kann: denn die Affekt-Entladung ist der größte Erleichterungs- nämlich Betäubungs-Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narkoticum gegen Qual irgend welcher Art.

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral

deux manières d'être sublime

Die gegenwärtige Welt eröffnet uns einen so unermesslichen Schauplatz von Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zweckmäßigkeit und Schönheit, man mag diese nun in der Unendlichkeit des Raumes, oder in der unbegrenzten Teilung desselben verfolgen, dass selbst nach den Kenntnissen, welche unser schwache Verstand davon hat erwerben können, alle Sprache, über so viele und unabsehlich große Wunder, ihren Nachdruck, alle Zahlen ihre Kraft zu messen, und Selbst unsere Gedanken alle Begrenzung vermissen, so, dass sich unser Urteil vom Ganzen in ein sprachloses, aber desto beredteres Erstaunen auflösen muss. Allerwärts sehen wir eine Kette der Wirkungen und Ursachen, von Zwecken und den Mitteln, Regelmäßigkeit im Entstehen oder Vergehen, und, indem nichts von selbst in den Zustand getreten ist, darin es sich befindet, so weist er immer weiter hin nach einem anderen Dinge, als seiner Ursache, welche gerade eben dieselbe weitere Nachfrage notwendig macht, so, dass auf solche Weise das ganze All im Abgrunde des Nichts versinken müsste, nähme man nicht etwas an, das außerhalb diesem unendlichen Zufälligen, für sich selbst ursprünglich und unabhängig bestehend, dasselbe hielte, und als die Ursache seines Ursprungs ihm zugleich seine Fortdauer sicherte.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft

Die Energie - und vor allem die sprachliche Energie - macht mich sprachlos: es ist für mich wie ein Zeichen von Wahnsinn.
Tatsächlich scheint mir, dass die Konversation den immerwährenden Charakter der Sprache vergegenwärtigt (ewige Anbetung): Kraft einer Form, auf der Ebene der Gattung: monströse Kraft, von der ich mich als einzelner ausgeschlossen fühle (es sei denn, ich machte mich selbst zum Schwätzer!). Um mich hingegen aus einer Situation herauszuziehen, mich zu retten, in der ich einem Gespräch ausgesetzt bin: nicht mehr zuhören, nur noch hören: es auf einer anderen Ebene als einen Romandialog, als ein Stück Sprechtheater aufnehmen, in künstlerischer Distanz zu mir. Deshalb ist die Konversation von Unbekannten (in einem Zug etwa) weniger ermüdend (für mich) als Gespräche von Freunden: Ich kann das Tableau von außen betrachten und dadurch mein Ausgeschlossensein wiedergewinnen.
Barthes, Roland: Das Neutrum

Zwei Arten, erhaben zu sein, um die Überschrift zu übersetzen.
Das Erstaunliche daran ist auch, dass nach neueren systemrelativen Zeitbegriffen die Zeit als eine Mannigfaltigkeit ansehen kann, in der Gegenwarten so lange andauern, wie diese wiederherstellbar sind. Erst wenn eine Gegenwart durch ein Ereignis irreversibel wird, wird sie Vergangenheit. Man kann nicht zweimal sterben. So durchkreuzen zahlreiche Gegenwarten unser Leben und muten uns zu, diejenigen auszuwählen, die wir durch Handlungen oder Gedanken in Vergangenheit verwandeln. Esse ich das Brötchen oder den Joghurt? Kaufe ich mir den Hegel oder den Derrida? Für die Semiologie formulierte ein Studienkollege den mit Zeichen überladenen Raum als erhaben. Für die Systemtheorie kann man die mit Gegenwarten durchsponnenen Systeme als erhaben bezeichnen.
Barthes Sprachlosigkeit kann man mit dem Eintritt in den Ödipus-Komplex parallelisieren. Sprachlosigkeit angesichts des Momentes, in dem dem Kind die Mutter nicht mehr ganz gehört. Zugleich ist dies der Beginn, in dem die Eigenmächtigkeit des Handelns in Erscheinung tritt, die Gedanken sich aus der Welt in den Kopf zurückziehen, die Welt beginnt, sich aus dem jungen Menschen zurückzuziehen und ihn azentrisch zu dem Geschehen zu positionieren. Wir erleben im beginnenden Ödipus-Komplex die Geburt des Erhabenen.


Sprachlosigkeit

Nach Enkes Tod also raisonnieren die Medien, mal wieder, über Sprachlosigkeit. Wie nach Winnenden, nur dass diesmal kein Amoklauf, sondern ein Selbstmord Anlass gibt. Da mittlerweile auch zahlreiche 'kritische' Beobachter über die Unkultur der wortstarken Sprachlosigkeitsbeschwörung plappern, erspare ich mir hier die Medienschelte. Wie immer beobachten wir hier die Eigendynamik der Massenmedien.
Statt dessen Adorno.
Sprache wird als physei, nicht als thesei erfahren, >taken for granted<; am Anfang ist der Fetischismus, und dem bleibt die Jagd nach dem Anfang stets untertan. Freilich ist jener Fetischismus kaum zu durchschauen, weil schlechterdings alles Gedachte auch sprachlich ist, der besinnungslose Nominalismus so falsch wie der Realismus, der der fehlbaren Sprache die Attribute der geoffenbarten erteilt. Heidegger hat für sich, dass es kein sprachloses An sich gibt; dass also Sprache in der Wahrheit ist, nicht diese in der Sprache als ein von ihr bloß Bezeichnetes. Aber der konstitutive Anteil der Sprache an der Wahrheit stiftet keine Identität beider. Die Kraft der Sprache bewährt sich darin, dass in der Reflexion Ausdruck und Sache auseinander treten. Sprache wird zur Instanz von Wahrheit nur am Bewusstsein der Unidentität des Ausdrucks mit dem Gemeinten.
Adorno, Theodor: Negative Dialektik

Schamanismus heute

Die Omaha-Indianer sehen einen der Hauptunterschiede zwischen den Weißen und sich selbst darin, daß »die Indianer keine Blumen pflücken«, das heißt: aus reinem Vergnügen; in der Tat, »die Pflanzen haben sakrale Verwendungen, die nur den Meistern der Geheimgesellschaften bekannt sind«. Selbst das Seifenkraut (»soapweed«), das jeder für das Dampfbad verwendet, um Zahn- und Ohrenschmerzen oder Rheumatismus zu heilen, pflückte man, als wäre es eine heilige Wurzel:
... In das Loch, das die Wurzel hinterlassen hatte, legte man eine Prise Tabak, zuweilen auch ein Messer oder Geldstücke, und der Sammler sagte ein kurzes Gebet: Ich habe genommen, was du mir gegeben hast, und ich lasse dir dafür dieses. Ich wünsche mir ein langes Leben und dass mir und den Meinen nichts zustößt.
Lévi-Strauss, Claude: Das wilde Denken, S. 57

Heute nachmittag versuchte ich der Kassiererin bei ALDI das Geld für meinen Einkauf in die Hand zu drücken, indem ich sagte, ich befriede den postmodernen Geist des Supermarkts. Daraufhin weissagte mir die holde Dame, dass ich immer verrückter werde.
Tja!


09.11.2009

Rudolf Dreikurs

Rudolf Dreikurs galt und gilt als einer der maßgeblichen Individualpsychologen, die auf dem Gebiet der Kindererziehung gearbeitet haben. Derzeit lese ich (mal wieder) sein zusammen mit Vicki Soltz geschriebenes Buch Kinder fordern uns heraus. Dieses Buch ist gut, hervorragend, möchte man sagen, wenn es nicht ein wenig altbacken daher kommt.
Ich hatte letzten Winter, noch vor der Zeit, als Winnenden zu einem massenmedial gepflegten Ort wurde, mit der Umformulierung einer Semantik der Gewalt begonnen. Dabei bin ich, durch Peter Fuchs angestoßen, rasch an dem Begriff der strukturellen Kopplung und der Adressabilität hängen geblieben. Zur strukturellen Kopplung hatte ich mich schon ausführlicher geäußert.
Auch Dreikurs lässt sich über diesen Begriff gut umschreiben. Insgesamt nämlich findet man in jeglichem Buch über Jugendgewalt, über Traumatisierung, Mobbing, etc. eine doppelte Erzählstruktur: einmal die des Erzählens selbst (was ungefähr in den Bereich der Rhetorik gehört) und einmal die des Erzählten (was man mit sehr viel Mühe und Blindheit als Logik bezeichnen könnte). Hinweisen möchte ich hier nochmal auf das wunderbare Buch von Christian Klein und Matías Martínez, Wirklichkeitserzählungen, und dort vor allem auf den von Klein geschriebenen Artikel zur Moral und dem von Andreas von Arnauld geschriebenen Artikel zum juristischen Diskurs.
Von Arnauld erläutert sehr schön, dass es sogar drei Schichten der Narratio (=Erzählung) gibt: Gérard Genette folgend sind dies récit (wer erzählt wem?), discours (wie wird erzählt?) und histoire (was wird erzählt?) (siehe dazu Von Arnauld, Andreas: Erzählen im juristischen Diskurs, Angaben hier). Der récit ist zwar interessant, doch auch die fragilste Schicht, wenn man einen an Eltern geschriebenen Text durch ein gewisses literaturwissenschaftliches Vokabular schleift. Dreikurs hat sicherlich nicht seine Bücher geschrieben, um das 'Opfer' von Sprachanalysen zu werden.

Imaginäre Grenzen

Wie fast alle Ratgeberbücher (z.B. Langer, Inghard: Überlebenskampf im Klassenzimmer, Freiburg im Breisgau 1994; Gebauer, Karl: "Ich habe sie ja nur leicht gewürgt", Stuttgart 1996) beginnt Dreikurs - übrigens schon 1964 - mit einer quasi-apokalyptischen Schilderung. Die Eltern seien ratlos und die Kinder werden immer schlimmer.
Und ob dies nun ausgesprochen wird oder nicht: fast automatisch konstruiert diese Schilderung eine imaginäre Grenze, eine Art Scheide, an der sich diese Schwierigkeiten in individuelles, dann in allgemeines Chaos verwandeln.
Nebenbei stellt sich so eine Bedrohungssituation ein, die zwar nicht genau sagt, was passiert, aber man stellt es sich allemal schrecklich vor (nun gut, Wissenschaftler sind davon gerne ausgenommen).
Man kann hier so etwas wie ein 'pädagogisches Textmuster' herausdestillieren. Diese ist besetzt von zwei Aktanten. Der eine Aktant, die Eltern, werden durch Unwissen nach und nach passiv. Ihre Aktivität äußert sich, wenn, dann in ungekonnten Einsätzen für und gegen das Kind. Der andere Aktant, das Kind, ist aktiv, hat aber aus seiner natürlichen Entwicklung heraus noch nicht das entsprechende Wissen, um gekonnt zu handeln.
Daraus ergibt sich so etwas wie ein Prozess. Gekennzeichnet wird dies durch ein Prädikat, das einen Beginn markiert (durch sog. ingressive Verben, wie 'erblicken', 'einschlafen', 'sich bilden', etc.), dann ein steigerndes Prädikat (augmentative Prädikate wie 'verschlimmern'), dem ein andauerndes oder ebenfalls steigerndes Prädikat gegenüber steht ('sich immer hilfloser fühlen', 'ratlos sein'). Interessant bei diesem Textmuster ist allerdings auch, dass der mögliche Zustand der 'Verschlimmerung' nicht immer generell benannt wird, sondern exemplarisch. Während sich also der allgemeine Prozess der Nicht-Erziehung gleichsam an jeden richtet, ist der Adressat des Exemplums zunächst nur die Person, der das dann angeblich oder wirklich passiert ist. Beinahe könnte man behaupten, dass die Gesellschaft und die Erziehung in der Gesellschaft nicht von schwer erziehbaren Kindern bedroht wird, sondern vom Beispiel.
Faszinierend ist auch, dass die Geschichten, die erzählt werden, immer Geschichten der Grenzüberschreitung sind. Klassisch gesehen sind dies auch Abenteuergeschichten. Es gibt hier zum einen die Unwissenden (die daheim Gebliebenen), den nach Wissen Suchenden (der Reisende, der Abenteurer), den Beginn der Reise, die Entfremdung (die im klassischen Abenteuer räumlich strukturiert ist und nicht, wie bei den pädagogischen Geschichten von schwer erziehbaren Jugendlichen, aufgrund von Bildung, bzw. Wissen). Hier scheiden sich dann die Geschichten. Während in der Abenteuergeschichte die Monster besiegt, die Jungfrauen gerettet, die Schätze geborgen werden, hält die pädagogische Geschichte nur den Gang zu einer Erziehungsberatungsstelle oder einem Therapeuten bereit. Ein recht armseliges Äquivalent.
Überspitzt kann man hier zwei Textmuster gegeneinander stellen, die aber doch so etwas wie eine heimliche Komplizenschaft aufweisen. Die Abenteuergeschichte versorgt uns mit glücklichen Enden (oder, folgt man Peter Nusser, heute der Thriller).  Im Gegensatz dazu kann diese von mir anvisierte Art der pädagogischen Geschichte zunächst nicht mit einem glücklichen Ende aufwarten. Im Gegenteil: wie wir an Winnenden und einigen anderen Ereignissen beobachten konnten, enden diese in Mord und Totschlag.
Gerade die Differenz aber scheint hier wesentlich zu sein. Ohne dies weiter ausführen zu können, als es bloß zu behaupten, kann der unglückliche Ausgang einer Erziehung nur durch den Kontrast zum glücklichen Ausgang seine Schärfe gewinnen. Und indem man die Geschichte von schwierigen Jugendlichen mal zu Ende erzählt, mal nicht zu Ende erzählt, evoziert man doch jene Grenze, an der die Heimkehr des wagemutigen Abenteurers nicht mehr möglich ist.
Damit ist, mal wieder, nur ein vages Programm umrissen. Dies müsste hier und dort weiter auszuführen sein, eventuell in einer peniblen Analyse von der allemal populärwissenschaftlichen Literatur zum Umgang mit Jugendgewalt.

Am Ende möchte ich noch auf zwei weitere Aspekte hinweisen:
1. Es gibt bei den Erzählungen von schwer erziehbaren Jugendlichen nicht nur eine Evokation einer imaginären Grenze, an der die Rückkehr nicht mehr möglich ist, sondern auch die Evokation einer Heilung oder Säuberung, mithin ein ganzes Arsenal an Metaphern der Vergiftens und Entgiftens, der Droge, der Verklärung, des gefährlichen Rausches.
2. Die imaginäre Grenze wird immer wieder in signifikanter Weise durch Normen flankiert. Es ist recht billig, hier zu sagen, dass die Normen die imaginäre Grenze stabilisieren. Normen bezeichnen ja gerade die Grenzen, ab denen Sanktionen gebilligt werden können. Interessant dabei ist, dass Bedrohungsgeschichten sozusagen die Normübertretung auskleiden, während der normkonforme Innenraum diffus bleibt (an dieser Stelle müssten Werte, d.h. Verhaltensvorlieben greifen). Der vage normkonforme Innenraum konstituiert aus semantischer Sicht so etwas wie ein Panoptikum, jene Art der Architektur, in der ein Gefangenenwärter aus seinem Beobachtungsraum aus alle Gefangenen beobachten kann, ohne selbst beobachtet werden zu können (was diesem Platz gestattet, leer zu bleiben).
Um dies etwas deutlicher zu machen: ein mir bekannter Mensch fordert und fordert und fordert. Er will dies wissen, er unterstellt jenes. Immer setzt er einen in die Position, etwas zu haben oder zu sein, was Aufklärung erfordert. Dagegen bleiben seine Motive, warum er dies wissen will, weitestgehend im Unklaren. Manchmal kommen irgendwelche Vorwürfe auf den Tisch, deren Zusammenhang mit der aktuellen Situation nicht nachzuvollziehen ist. Der Andere (ich, bzw. auch andere Menschen) sind in der Situation, ein nie versiegendes Wissen zu haben, das es fortdauernd zu kontrollieren und zu manipulieren gilt. Dagegen ist die betreffende Person - jedenfalls ihrer Ansicht nach - völlig plastisch und klar. Einmal sagte dieser Mensch zu mir, als ich nach dem Grund einer seiner Aussagen fragte, wenn ich das nicht wisse, sei ich dumm.
Solche panoptischen Menschen sind äußerst unangenehm. Sie erscheinen wie ein Wetter, das durch den geringsten Flügelschlag eines Schmetterlings umkippen kann, sind aber auch berühmt für ihre langanhaltenden Regenperioden und ihre zur Verzweiflung bringenden Flauten.
Anscheinend spielen hier Normen eine große Rolle, und, im Zuge dessen, der Erzählerstandpunkt. Man müsste also neben dem récit (wer erzählt wem?) auch untersuchen, wie die Erzählung den Erzähler und den Zuhörer konstruiert. Der panoptische Mensch ist einer, der scheinbar in der miserablen Lage ist, ständig auf ein Abenteuer ins Unbekannte gehen zu müssen, aber keinen Ort besitzt, den er verlassen könnte.




03.11.2009

Claude Lévi-Strauss I

Nun ist wohl auch der letzte der großen Strukturalisten tot, 100jährig wurde er, Claude Lévi-Strauss. Er war einer der ersten in der Riege einer Reihe von großen Wissenschaftlern, die mit dem unachtsamen Wort 'Strukturalist' belegt wurden.

Der Strukturalismus wurde von so illustren Namen mitgetragen wie Jacques Lacan, Roland Barthes, Michel Foucault, Louis Althusser, Jacques Derrida. Man kann weitere Autoren dazuzählen, den frühen Gilles Deleuze, Pierre Bourdieu, Julia Kristeva. Und doch keinen so richtig. Sagte nicht Jean Piaget, Foucault pflege einen Strukturalismus ohne Strukturen? Hatte nicht Barthes zu Zeiten, als der Strukturalismus 'en vogue' war, schon sein 'Le Plaisir du texte' geschrieben, die 'écriture courte' proklamiert?

Und überhaupt: war nicht auch Luhmann Strukturalist? Nein, sagt er, indem er den Kronzeugen des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss, verhört und ablehnt, siehe Soziale Systeme, S. 377-380.
Trotzdem gibt es doch einige recht faszinierende Ähnlichkeiten. Luhmann stützt sich auf das Kalkül von George Spencer Brown. Dieses lautet, in seiner ersten Anweisung: Triff eine Unterscheidung und markiere die eine Seite. Will man sich das plastisch vor Augen führen, dann trifft man zum Beispiel die Unterscheidung zwischen den Tischen und dem Rest der Welt (Jupiter-Monde und Apfeltörtchen) und gibt den Tischen den Namen Tisch. Damit ist die eine Seite durch den Namen markiert und auf der anderen Seite passiert alles übrige. So reduziert gesehen ist das Kalkül natürlich langweilig. Wir benutzen andauernd solche Unterscheidungen und verbinden diese zu den komplexen Formen, die uns das alltägliche Leben möglich machen.
Das Kalkül trifft nun in seiner 'Willkürlichkeit' auf das, was Lévi-Strauss über den Inzest schrieb:

La prohibition de l'inceste, comme l'exogamie qui est son expansion sociale élargie, est une règle de réciprocité. [...] Le contenu de la prohibition de l'inceste n'est pas épuisé dans le fait de la prohibition : celle-ci n'est instaurée que pour garantir et fonder, directement ou indirectement, immédiatement ou médiatement, un échange.
Lévi-Strauss, Claude: Les Structures élémentaires de la parenté, p. 64s.
Und genau so ermöglicht Browns 'distinction' nicht nur ein 'marking' (das Bezeichnen der einen Seite), sondern ein 'crossing' (das Überschreiten der Unterscheidung).
Der Witz also ist sowohl beim mathematischen Kalkül des 'draw a distinction' als auch beim Lévi-Strauss'schen Inzestverbot, dass beide nicht reflexiv, sondern produktiv wirken. Das Inzestverbot hat den Inzest nicht verboten, aber es hat den Tauschhandel mit (Ehe-)Frauen ermöglicht.
Ganz in diesem Sinne ist die Macht bei Foucault nicht etwas, das bereits Bestehendes vernichtet (oder unterdrückt), sondern im Gegenteil produktiv. Die Psychoanalyse hat nicht ein unterdrücktes Unbewusstes entdeckt, müsste man sagen, sondern im Gegenteil eine neue Apparatur entwickelt, das Bewusstsein produktiv zu umgarnen (wie luzide anders Foucault damit umgeht, als manche Foucaultianer denken, mag man aus der längeren Passage zur Parapathologie ersehen, die ich hier zitiert habe).


Warum ich all das schreibe? Nun, nicht nur als Nachruf, sondern auch als Kommentar auf einen Nachruf, der von Daniel Haas auf Spiegel-Online erschien.
Dort sagt Haas, Lévi-Strauss "nutze" die Psychoanalyse und die Linguistik für eine "neue Wissenschaft". So kurz diese Aussage ist, so problematisch ist sie. Der Psychoanalyse hat Lévi-Strauss meines Wissens zeitlebens distanziert gegenüber gestanden. Und das nicht trotz seiner Freundschaft zu Jacques Lacan (von dem man sagt, er habe die strukturalistische Psychoanalyse 'erfunden'), sondern gerade wegen dieser Freundschaft.
Zudem ist der Strukturalismus kaum als Wissenschaft, sondern eher als Methode zu bezeichnen. Im Laufe seines Aufstiegs hat diese Methode zahlreiche Disziplinen befruchtet. Aber sie ist für sich selbst nichts abgegrenztes.
Daniel Haas schreibt weiter, Lévi-Strauss wendete dieses Verfahren erstmalig auf die Tropen an. Doch erstens erschien sechs Jahre vor dem Buch Traurige Tropen (Tristes tropiques) das eigentlich strukturalistische Buch Lévi-Strauss' - Les Structures élémentaires de la parenté. Keineswegs untersucht Lévi-Strauss hier "die" Tropen, sondern sog. 'primitive Völker' und die Regeln der Verwandtschaft, bzw. des Frauentausches. Zweitens kann man kaum ein Buch von Lévi-Strauss weniger strukturalistisch nennen als Traurige Tropen, ist dieses doch viel eher Reisebericht, Kulturkritik als alle anderen Bücher von ihm. Es beginnt mit den Worten

Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende. Trotzdem stehe ich im Begriff, über meine Expeditionen zu berichten.
Auch biographisch ist Haas unsicher. Lévi-Strauss flüchtete zwar 1941 in die USA, nachdem die Vichy-Regierung 1940 ihre Rassengesetze erlassen hatte, doch schon 1944 kehrte er auf Bitten des französischen Außenministeriums zurück und war 1946-47 Kulturattaché der französischen Botschaft in den Vereinigten Staaten.
Schließlich, um ein letztes zu zitieren, in dem Haas deutlich schludrig vorgegangen ist. Das Totem, so sagt Haas, stehe in der Beziehung einer Differenz zu anderen Totems. Es habe keine metaphysische Orientierung. Nun behauptet Lévi-Strauss aber nicht, dass das Totem keine metaphysische Orientierung habe. Dies zu bezweifeln hieße, die ganze schamanistische Religion zu leugnen. Lévi-Strauss hat hier nur eine wesentlich andere Orientierung gesehen, was das Totem für den Wissenschaftler ist. Wie er in seinem Hauptwerk Mythologica untersucht, sind soziale Phänomene wesentlich eingebunden in zahlreiche Differenzen und Serien (grundlegend dafür aber: Das wilde Denken, S. 258ff.). Tatsächlich etablieren Totems eine Differenz, die deshalb 'funktioniert', weil sie gleichwertig ist und nicht verwechselt werden kann. Die Totems zweier Clans lassen sich nicht hierarchisch oder mimetisch anordnen. Damit steht die Struktur in gewisser Weise 'über' der metaphysischen Orientierung. Trotzdem glauben totemistische Gesellschaften nicht an die Differenz.
Wenn Haas schreibt:

Mit der Wahl eines bestimmten Totemtiers wolle eine Gemeinschaft vor allem Differenz herstellen zu anderen Gemeinschaften.
dann ist dem entgegenzuhalten, dass eine totemistische Gemeinschaft sich gerade nicht an dieses Differenz ausprobiert hat, um sich zu unterscheiden, dass aber der Effekt natürlich ein Effekt der Unterscheidung ist. 'Draw a distinction' eben.