28.04.2008

Zur deleuzianischen Logik III

Geht man von einer bestimmten klassischen Logik aus, dann beginnt und endet diese mit der Negation. Die Negation ist Grund und Ziel der logischen Operationen, Grund, indem alles mit den Individuen und Individualitäten beginnt, die die anderen logischen Operationen möglich macht, die Addition, die Subtraktion, die Verknüpfung im Allgemeinen; Ziel, weil die größtmögliche Geschiedenheit durch den aufteilenden, trennenden Geist zustande kommt, und der Geist sich setzt, indem er sich von allem anderen verneint.
Deleuze geht hier einen anderen Weg.

Die Individuation
Es gibt zahlreiche rätselhafte Formulierungen bei Deleuze, die dem Leser kryptisch erscheinen: die ewige Wiederkehr, die er den Schriften Nietzsches entnommen hat, der organlosen Körper, den er dem Gemurmel der Schizophrenen abgelauscht hat, das Aufsteigen des Untergrunds, den er bei Leibniz, den Stoikern und Lewis Caroll findet.
Doch genau hier kann man auch eine Art zentralen Gedanken bei Deleuze finden.
Denn Deleuze stellt ein transzendentales Prinzip vor, dass zugleich unergründet und doch vollständig immanent ist. Dieses Prinzip nennt er die Individuation. Man muss das Sein als ein (Sich) Individuieren denken; und mithin ist das Sein kein großes Ganzes, das sich nur teilweise in den Dingen verwirklicht, es ist auch nicht das vollkommen Geordnete und noch weniger das vollkommen Ungeordnete. Das Sein ist jenes absolute Moment der Bewegung, dass die Individuen schafft, ohne selbst individuell zu sein. Das Sein spaltet und verschmilzt, ohne selbst gespalten und verschmolzen zu sein. Das Sein zeigt sich im Werden eines Kontrastes, aber der Kontrast selbst ist nur noch der Unterschied zwischen zwei Dingen.
Genau dies aber liest Deleuze aus der ewigen Wiederkehr Nietzsches heraus: die ewige Wiederkehr ist nicht das Wiedererscheinen, die Wiederholung, sondern das Identisch-Werden des Werdens mit sich selbst. Reines Werden, ohne Individualität. Dieses Werden tritt nie in Erscheinung, ist nicht phänomenal, es sei denn als erloschenes (man denke hier an die archè und Urschrift bei Derrida).
Genau in diesem Sinne muss man die Individuation verstehen. Sie ist das allgemeinste, das kosmogonische Prinzip bei Deleuze.

Die Selektion I
In diesem Sinne verstanden ist die Individuation noch qualitätslos. Sie wird es auch weiterhin bleiben, versteht man Qualität im üblichen Sinne. Die Individuation verwirklicht sich aber nicht allgemein, sondern immer in einer spezifischen Individuierung, in einer Membran, die die Macht zur Selektion besitzt.
Das ist das zweite, abgeleitete Prinzip, will man der Differenz bei Deleuze nachgehen.
Man muss hier sehen, dass dies immer noch nicht der Kontrast ist. Der Kontrast ist eine vermittelnde Funktion im Auge, und hat daher mit ganz anderen Differenzen zu tun als mit Differenzen zwischen den Dingen. Die Differenzen zwischen den Dingen bestehen zwar auch aus Beobachtungen, aber diese Beobachtungen sind unmenschlich. Nur deshalb kann man sagen, dass der Stein seine Umwelt beobachtet, indem er verwittert. Und genau deshalb kann man sagen, dass der Zucker das ihn umgebende Wasser beobachtet, indem er sich löst. Man muss hier zu den Formen der Beobachtung kommen, die von einer zur anderen Seite "passieren". Und mit Sicherheit hat man, wenn man Stein und Zucker als Beispiele nutzt, keine sonderlich glücklichen Beispiele gefunden. Sie sind immer noch anthropomorph. Man kann dies leicht nachvollziehen, indem man eine vollständige, gleichwertige Umkehr eines Satzes herstellt: So wie der Stein seine Umwelt beobachtet, indem er verwittert, so beobachtet die Umwelt den Stein, indem sie ihn verwittern lässt.
Hier fehlt eine Membran, die die beiden Seiten voneinander trennt, und das Hin und Her mit der Macht einer unterschiedlichen Selektion belegt. Die Selektion ist keine Kooperation. Sie ist immer ein Gewaltverhältnis, so sehr dieses sich auch in einer Interaktion ausdrückt. Man sehe sich hier andere Beispiele Deleuzes an, vielleicht eins seiner berühmtesten: Hummel und Orchidee.
Die Hummel und die Orchidee sind in einem Ökosystem eng aneinander gebunden. Die Hummel findet ihre Nahrung in den Orchideenblüten und bestäubt gleichzeitig die Blüten untereinander. Es findet eine vielfältige Selektion statt. Die Macht der Selektion ist eine recht komplexe. Die Orchidee wird, indem sie den Hummelkörper "einfängt"; die Blüte ahmt diesen nach. Sie selegiert also gerade nicht die Nahrungsaufnahme, sondern die Sexualität der Hummel. Umgekehrt selegiert die Hummel gerade nicht die Sexualität, sondern den Nektar der Orchidee, partizipiert aber auf sehr asexuelle Art an der Sexualität der Orchidee.
So bildet sich zwischen Hummel und Orchidee eine Art Membran, die sich in der Macht der Selektion ausdrückt. Diese Selektion ist nicht vernünftig; sie hat sich nicht gewählt, um diese Interaktion zwischen Insekt und Pflanze zu sein. Sie ist geworden, vor jedem Ergebnis, vor jener Individualität, die wir in unseren Naturbüchern aufbewahren. Sie ist unmenschlich und aus dem gleichen Grunde auch unorganisch. Denn die Selektion entsteht aus den lokalen Ausprägungen der Individuation. Sie schafft Hummel und Orchidee erst, und setzt diese nicht voraus.

Der organlose Körper
Von hier aus lässt sich auch der organlose Körper besser verstehen. Bei Deleuze findet man eine oft rätselhafte, vielfältige Umdrehung zwischen der Tiefe und der Oberfläche. Tatsächlich ist der organlose Körper der lärmende Untergrund, der beim Schizophrenen aufsteigt und beim Neurotiker, mit ein wenig psychoanalytischer Hilfe, hinter die Kulissen des Theaters verbannt wird. Doch man versteht den organlosen Körper schlecht, wenn man ihn tatsächlich in eine Tiefe denkt oder verdrängt, sooft auch Deleuze Untergrund, Tiefe oder Hintergrund sagt.
Der organlose Körper sitzt in der Membran, ist diese Membran, ist diese Macht der Selektion, dieses Werden der Selektion genauso, wie ihr Zustand. Von dieser Selektion aus komponieren sich die Organismen, die Seelen in ihrem phänomenalen Dasein. Man muss sich also nicht fragen, wie der Organismus oder die Seele funktioniert. Das natürlich auch, aber das ist nur ein Zwischenschritt. Man muss eher fragen, welche Selektionen haben sich dieses oder jenes Phänomen gewählt. Welche unmenschliche Selektion hat zu der menschlichen Hand geführt? Welche untergründige Selektion hat die Bilder Cezannes ermöglicht? Welche organlose Membran hat diesen oder jenen Krieg hervorgebracht, dieses oder jenes Gedicht?
In dem Sinne ist die Seele eines Menschen auch kein Inneres oder Tiefes. Sie ist nicht das, was ein Gefäß ausfüllt (den Körper). Die Seele ist die Macht zur spezifischen Selektion; sie sitzt an den Grenzen des Charakters, nicht in dessen Tiefen oder - wie ein Puppenspieler - im Hintergrund. Der Charakter, der gesunde oder neurotische oder schizophrene Charakter, ist das Phänomen, das eine selegierende Haut, nicht einen persistierenden Kern anzeigt.
Deshalb kann Deleuze aber auch schreiben, dass auf dem organlosen Körper Anziehungs- und Abstoßungsprozesse stattfinden. Die Selektionen verwirklichen sich immer in Phänomenen, und in diesen Phänomenen verraumzeitlichen sie sich. Die Membranen selbst sind, obwohl lokale Ausprägungen der Individuation, nicht räumlich. Lokal, nicht räumlich, auch wenn dies zunächst wie ein Widerspruch erscheint.
Die Verwirklichung ist kein Ineinanderfallen der Selektion und des Phänomens. So wie die menschliche Hand eine gewisse Selektion der Umwelt verwirklicht, als berührbar, taktil und manipulierbar, kann dies nicht als Wahrheit, als Ende eines Prozesses gedacht werden. Das Erscheinen der Greifhand mit dem antagonistischen Daumen hat vielmehr den Körper des Frühmenschen in ein ganz neues Werden hineingetrieben, die Selektionen der Umwelt verändert, die ganzen unmenschlichen Membranen, die den Menschen ermöglicht haben, mit einem anderen Lärm, mit anderen Zonen des Problematischen ausgestattet. Die Aktualisierungen einer Selektion können deshalb kein Endstadium sein, weil genau diese Aktualisierungen die Selektionen verändern. Die lokalen Membranen als Individuationen und die räumlichen Phänomene als Aktualisierungen wirken zwar aufeinander ein, bleiben aber vollständig getrennt. In den Aktualisierungen werden Räumlichkeiten angezogen, andere abgestoßen, und deshalb organisiert sich ständig etwas Neues. Zugleich aber verschieben sich die Bedingungen dieser Verräumlichung.

Selektion II
Unter der Bedingung der Selektion sind die Dinge "wirkliche Dinge". Es besteht kein Grund, aus ihnen eine theatrale Repräsentation zu machen. Das liegt nicht nur daran, dass die theatrale Repräsentation selbst die Verwirklichung einer Selektion ist. Das liegt vor allem daran, dass die Verwirklichung kein vorhergehendes Modell hat. Deshalb ist die Verwirklichung einer Phantasie nicht einer vorhergehenden Realität geschuldet und die Phantasie kein Abbild einer Realität; die Phantasie ist eher die Macht zu einer Verwirklichung ohne ein Vorher, ohne ein Urbild. Und schon garnicht ist es ein Urbild, wie es die Psychoanalyse erfindet, ein Urtrauma, ein elterlicher Koitus, der zwar phantasiert sein soll, aber noch in den lächerlichsten Dingen vorzukommen scheint.
Zweifellos steckt in jeder Phantasie auch ein Gemisch. Sie fängt sich aus der Umwelt Codefragmente ein; hier einen Baum, dort sieben Wölfe, dort das Gesicht eines namenlosen Vaters. Aber was in diesem Traumbild lärmt, ist nicht der halluzinierte Missbrauch, sondern die Macht der Selektion, das ganze Getöse des organlosen Körpers, der sich in diesem Bild verwirklicht (es handelt sich hier um den berühmten Traum des Wolfsmannes).
Die Selektion verwirklicht sich nicht in wahren oder falschen Urteilen über die Welt, nicht in gesunden und neurotischen, in realen und wahnhaften. Da die Selektion ohne Urbild verwirklicht, Wirklichkeit schafft, kann diese Wirklichkeit nicht als direkte Ableitung einer noch "echteren Wirklichkeit" verstanden werden. Vielmehr muss man in der Organisation dieser Wirklichkeit eine entsprechende Anzahl von Sätzen sehen, von produktiven Sätzen, die analytisch und synthetisch zugleich sind. (Analytisch und synthetisch zugleich heißt dementsprechend auch, dass diese beiden Vorgänge sich in ihrer Verwirklichung mischen, aber nicht denselben Selektionsprinzipien entspringen. Deshalb wirkt es so unglaubwürdig, wenn man einem anderen Menschen die Fähigkeit zur Analyse oder zur Synthese abspricht. Es gibt nur Analysen und Synthesen, die sich unterschiedlich zu ihrem Milieu verhalten, die angenommen oder abgelehnt werden.) Die produktiven Sätze bestehen aus den echten Dingen, den echten Wörtern, aus den echten Tönen und Melodien. Hier finden wir einen möglichen Übergang zu den Membranen: in der Grammatik der Ausdrücke hallt die Macht zur Selektion nach.

Die abstrakte Linie
Der Kontrast schafft immer zwei Identitäten, eine überdeterminierte und eine unterdeterminierte; rotes Viereck, weißer Hintergrund. Wir haben es hier mit den beiden Formen einer Indifferenz zu tun. Zum einen gibt es den undifferenzierten Abgrund, das unbestimmte Lebewesen, die unausgefüllte Leere, das Chaos, zum anderen die ausgefüllte Leere, die ruhig gewordene Oberfläche, auf der die abgetrennten Glieder und Phänomene unverbunden treiben.
Jener unerkannte Lärm des Unbewussten, den die Psychoanalyse prognostiziert, und jene grauenhaften, zerstückelten Körper, die den vorödipalen Charakter heimsuchen, sind keineswegs Krankheitsprozesse, sondern Ausprägungen einer logischen Indifferenz, die den gesunden Menschenverstand ausmachen. Es sei denn, man will damit sagen, dass der gesunde Menschenverstand noch nicht gesund genug ist, und es noch viel zu viel Vorödipales in dieser Kultur gibt. Daran darf man aber zweifeln.
Die Indifferenz findet ihre paralogischen Entsprechungen in dem Undifferenzierten und der Extrapolation.
Tatsächlich markiert sich aber in dem undifferenzierten Abgrund eine Zone des Problematischen, eine Welt, die noch im Werden ist. Keineswegs ist diese Welt verdrängt. Hier muss nichts entschleiert werden. Sie ist noch nicht, und verwirklicht sich, indem die Selektionen sie schaffen - unbewusste Synthese, aber keineswegs unbewusst in der Tiefe der Seele, sondern unbewusst am Rand der Seele, mehr ein Kristallisationspunkt als ein eingegrabener Stein. Überdeterminiert ist diese Zone des Problematischen, als sie zu zahlreichen, unverbundenen Codierungen führt.
Umgekehrt ist die ausgefüllte Leere eine Zone des Unproblematischwerdens, eine sich abschwächende Aufmerksamkeit, ein Versiegen der Codierungen, die man sich einfängt und damit Zeichen für eine erlöschende Selektion, ein Weitertreiben der lokalen Individuationen.
Diese doppelte Bewegung hat Friederike Mayröcker sehr schön für die (eigene) Poesie ausgedrückt:
Die meine Arbeit begleitenden Theorien und Ansichten befinden sich in einem Zustand permanenter Bewegung, die zwar ihr Tempo ändert, sich aber an keinem Punkt fixieren lässt[,] weil dadurch die Arbeit selbst gestört würde. Was ich jetzt zu meiner Arbeit sage, könnte nur eine Aussage über einen fiktiven Fixpunkt sein und müsste womöglich morgen widerrufen werden. Freilich erscheinen solche Fixpunkte mir beinahe ebenso oft, als ich Arbeiten zu Ende führe. Ich kann mich daran vergnügen, wie diese Punkte, in einer Reihe gesehen, einander widersprechen, ein Durcheinander der Stimmen ergeben, nie einen Chor.
MB, S. 9
Die Fixpunkte markieren hier eine Kette hervorbrechender Phänomene, eine Art lineares Archipel, so wie Hawaii durch ein Verschieben untergründiger Platten und einem zeitweise aufsteigenden Lavastrom entstanden ist. Zentrales Merkmal aber ist, dass die Verschiebung der Selektionen selbst nicht der Vernunft gehorcht, sich nicht der Geordnetheit des gesunden Menschenverstandes unterwirft, keinen Fortschritt bildet, sondern zu einem Durcheinander führt: eine Linie zwar, aber keine Reihe; kein Chor, sondern eine "a-"soziale Polyphonie.
Die Linie selbst bildet keine Konkretheit. Das Werk ist nicht die Arbeit. Wenn Nietzsche schreibt: "Der Autor muss beiseite treten, wenn das Werk das Maul aufmacht.", dann soll dies nicht bedeuten, dass der Autor zur Bescheidenheit gemahnt wird, sondern dass das Schreiben und das Lesen zu zwei unterschiedlichen Selektionen gehört, zwei, wenn nicht noch mehr, unterschiedlichen Personen angehört, unterschiedliche Vulkanketten gebiert, unterschiedliche asoziale Polyphonien erzeugt. Das Werk eines Dichters ist nur ein unbestimmter Korpus von Codierungsmöglichkeiten. Das Lesen dieses Werkes ist Selektion, ist Werden, ist eine Verwirklichung an Hand dieses oder jenes Buches. Und auf diese Weise kann man Kleist werden, Goethe, Kafka, ebenso Christie, Doyle, Leon.
Man muss also die Linie von dem Werk unterscheiden, man muss der Linie ihre Macht und ihre Realität lassen, ohne ihr eine Wirklichkeit, eine raumzeitliche Entsprechung zuzuschreiben. Sie ist real, aber abstrakt. Sie "gibt" sich, sie drückt sich aus, aber sie bleibt stets erloschen, verborgen, untergründig weitergewandert. Das also ist die Macht der abstrakten Linie: sie schafft dem Menschen einen Verstand, eine sensible und produktive Haut, entzieht ihm aber die Vernunft und die Kontrolle. Oder vielmehr: Vernunft und Kontrolle sind keine hierarchisch höheren Vermögen, die ihr Reich überblicken und für Ordnung und Wohlgeformtheit sorgen.

Codefragmente
Es gibt immer involutive Flächen, die sich aufeinander beziehen. So gibt es die Verräumlichung, in der sich der Mensch bewegt. So gibt es die Sprache, die sich mit der Seele in Beziehung setzt. Dieses in Beziehung setzen wird nicht durch materiellen Austausch gewährleistet, sondern indem sich eine Selektion ein Codefragment "herauszieht", ein Bild, ein Zitat, einen Geruch.
Friederike Mayröcker hat dies für die Poesie wundervoll beschrieben:
die im Kosmos der Sprache wildernde Muse trägt auf der Vorderseite einen roten Stempel (mit Kanüle von Auge zu Brust) : Kennzeichen für räuberisches Verhalten, räuberische Leseweise / Lektüre. Sie vollzieht das Wandern durch ein Motiv nämlich ein unablässiges RUPFEN in fremden Gärten / Gefilden, was ihre Leidenschaft ist, und ihre Disziplin. Alles kann Beute sein, [...] Sie schaut ab, sie kopiert, sie exzerpiert, sie übermalt, das Auge funktioniert als automatischer Modifikator : es liest über die alltäglich-vertraute Vokabel hinweg, lässt aber deren innewohnende Magie in Erscheinung treten, indem es Minimalveränderungen vornimmt, z.B. einen Buchstaben eliminiert oder eine Silbe hinzufügt, sich also ganz bewusst verliest.
Im ganzen gesehen pflegt sie ein Schreiben ein Leben von höchst parasitärer Facon.
MB, S. 355
Hier finden wir alles wieder: die Selektion, das Ziehen von Codierungen, das Erschaffen einer Wirklichkeit, die vorher noch nicht da war, die Involution der Selektion, das unmenschliche Auge, das sich nicht beherrscht, sondern ganz automatisch, vorindividuell funktioniert, das Übermalen einer anderen Wirklichkeit als kreativer Akt. Der Parasit: das ist hier die Seele, die sich zwar beständig von ihrer Umwelt unterscheidet, aber von dieser nicht loszulösen ist. Sie verwirklicht sich nicht, indem sie die Umwelt negiert, sondern indem sie sich in einer beständigen Differenzierung begriffen findet, die nicht die Differenzierungen der Umwelt sind.
Indem sich aber - wie hier zum Beispiel - die Verwirklichung verräumlicht, indem Gedichte entstehen, kann sich die Sprache entwickeln, aber unter ihren sehr eigenen Bedingungen. (Tatsächlich ist das Werk Mayröckers für die Sprache weniger einflussreich als das Wirken mancher Subkulturen. Trotzdem ermöglicht diese Sprache wieder Kristallisationspunkte, so selten diese auch auftauchen mögen.)

Asymmetrie
Die Differenz oder abstrakte Linie oder Selektion oder lokale Individuation wirkt zwar nach zwei Seiten, aber sehr unterschiedlich. Sie ist durch und durch asymmetrisch. Sie erzeugt die Objekte (oder fängt sich Codefragmente ein), und in der Kette der Objekte manifestiert sich das Subjekt. Sie erzeugt aktive und passive Felder, bzw. rasche Abfolgen einer Gegenwart, die langsame Abfolgen einer Gegenwart mit sich reißen (denn aktiv und passiv sind nur relativ zueinander bedingt, aktiv ist beides, aber das aktiv Aktive beschleunigt sich, und verändert sich rasch und erhält dadurch Macht über das, was sich langsam ändert). Sie erzeugt Bejahungen, an deren Rändern Verneinungen mitschwingen; oder, besser, Aufmerksamkeiten, an deren Rändern Unaufmerksamkeiten.
Diese Asymmetrien sind es, die jede Interaktion nomadisch, polyvok werden lassen. Wie die Hummel nicht mit der Orchidee nach einem vernunftgemäßen Gebrauch kommuniziert, so fangen sich zwei Menschen nur aparallel ein. Die Selektionen der einen Seele und die Selektionen der anderen Seele sind gegeneinander inkommensurabel; die eine verwirklicht und aktualisiert die eine Seele und die andere die zweite Seele. Weil die Selektionen aber den Aktualisierungen vorausgehen, lassen sich diese nicht angleichen. Trotzdem findet ein Austausch in dem Sinne statt, dass man sich gegenseitig Codefragmente zukommen lässt, ein Lächeln, eine Geste, einen nichtigen Satz.

Form und Hintergrund
Die Selektion zieht eine Form ein, die asymmetrisch ist. Sie ist aber vor allem aus folgendem Grunde asymmetrisch: während die Selektion eine einseitige Verwirklichung erzeugt, die sich auf der anderen Seite ausdrückt, ist die Selektion zugleich ein allgemeines Prinzip, nämlich die lokale Spezifikation der Individuation, die ewige Wiederkehr der dramatischen Schöpfung. Deshalb ist die Seele eine Aufzeichnungsfläche und der Charakter eine Form, aber diese Form bildet nur auf der Seite der Form eine Bevorzugung. Auf der anderen Seite, vor dem Hintergrund der Individuation verschwindet diese Bevorzugung und gleicht allen anderen Möglichkeiten der Individuation. Anders gesagt: das Individuierte unterscheidet sich von der Individuation, aber die Individuation unterscheidet sich nicht vom Individuierten, sondern drückt sich gerade in diesem aus. Die Differenz existiert so nur von der einen Seite aus, hebt sich aus dem Universum hervor und widersteht diesem durch die Macht der Selektion, während das Universum nur in diesen Individuierten existiert, die Selektionen ermöglicht und sich deshalb nicht von ihnen unterscheidet. Das ist vielleicht das schärfste Paradox in der Logik Deleuze': das Unterschiedene ist das Nicht-Unterschiedene, je nachdem, von welcher Seite man es betrachtet (wobei man Seite hier keinesfalls räumlich verstehen darf, denn dies wäre nur ein Kontrast, der nur durch die beiden Arten des Indifferenten asymmetrisch ist, nicht durch die lokale Individuation).

hier eingearbeitete Werke von Deleuze:
Differenz und Wiederholung
Logik des Sinns
Anti-Ödipus
Tausend Plateaus

MB: Friederike Mayröcker, Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main 2001

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