28.03.2008

ScribeFire

ScribeFire ist ein Texteditor, mit dem man für seinen Blog Texte schreiben und veröffentlichen kann. Er ist ein Bestandteil von Mozilla Firefox, muss aber noch installiert werden. Insgesamt scheint er mit komfortabler als der Texteditor von Blogger zu sein. Hier probiere ich ihn mal aus.

23.03.2008

Zur deleuzianischen Logik II

Wer die etwas seltsamen Texte von Deleuze, die er in der Spätzeit geschrieben hat, nachvollziehen möchte, tut vor allem gut daran, sich mit der Ablehnung der Negation zu beschäftigen.
Deleuze argumentiert folgendermaßen: da die Negation nur dann reine Negation sein kann, wenn das Ding oder der Begriff schon vorher existiert, bleibt die Negation diesen äußerlich. Wenn die Negation aber äußerlich bleibt, kann sie nicht Bestandteil des Dinges oder Bestandteil seiner Verhältnisse sein; es sei denn, es handelt sich um Repräsentationen, die sich einerseits auf eine vorausgehende Identität stützen, sich andererseits von anderen Repräsentationen unterscheiden müssen und schließlich sich selbst in ihrer Eigenständigkeit leugnen.
Wenn aber die Negation gebraucht wird, dann vor allem, um Differenzen plattzuwalzen, die sinnlich, vor allem vielfältig sinnlich sind:
Nicht die Differenz setzt den Gegensatz voraus, sondern der Gegensatz die Differenz; und weit davon entfernt, sie aufzulösen, d. h. auf einen Grund zu führen, entstellt und verfälscht der Gegensatz die Differenz. Wir behaupten nicht nur, die Differenz an sich sei nicht "schon" Widerspruch, wir behaupten vielmehr, sie lasse sich nicht auf den Widerspruch reduzieren und bringen, weil dieser weniger tief, und nicht etwa tiefer ist als sie. Denn unter welcher Bedingung wird die Differenz derart in einen ebenen Raum überführt und projiziert? Eben dann, wenn man sie gewaltsam in eine vorgängige Identität gezwängt hat, wenn man sie auf jenen Abhang des Identischen gestellt hat, der sie notwendig dorthin trägt und sie sich dort reflektieren lässt, wo das Identische sie haben will, nämlich im Negativen. [...] Dasselbe geschieht jedesmal in der Vermittlung oder Repräsentation. Der Repräsentant sagt: "Alle Welt anerkennt, dass ...", aber es gibt stets eine nichtrepräsentierte Singularität, die nicht anerkennt, eben weil sie nicht alle Welt oder das Universale ist. "Alle Welt" anerkennt das Universale, da sie ja selbst das Universale ist, das Singuläre aber erkennt es nicht an, das tiefe sinnliche Bewusstsein nämlich, das jedoch dessen Unkosten tragen soll. Das Unglück beim Sprechen besteht nicht im Sprechen, sondern darin, für die anderen zu sprechen oder etwas zu repräsentieren. Das sinnliche Bewusstsein [...] bleibt verstockt. Man kann stets vermitteln, zur Antithese übergehen, die Synthese arrangieren, die These aber folgt nicht, verharrt in ihrer Unmittelbarkeit, in ihrer Differenz, die an sich die wahre Bewegung vollzieht. Die Differenz ist der wahre Inhalt der These, die Eigensinnigkeit der These. Das Negative, die Negativität fängt nicht einmal das Phänomen der Differenz ein, sondern erhält bloß deren Phantom oder Epiphänomen, und die gesamte 'Phänomenologie' ist eine Epiphänomenologie.
Gilles Deleuze: Differenz und Wiederholung

21.03.2008

Krimiaufgabe: Peter wird entführt

Und jetzt mal was ganz anderes: hier bekommt ihr, liebe Blogleser, den Anfang eines Krimis, und dürft euch ausdenken, und fertigschreiben, wie dieser Krimi weitergeht und endet:
  1. Peter kommt gerade von seiner Freundin. Er ist ein fleißiger und netter Vierzehnjähriger, zwar vaterlos, aber mit einer toleranten und aufgeschlossenen Mutter, die hinreichend viel Geld verdient, um beiden ein gutes Leben zu ermöglichen. Es ist schon dunkel. Kurz bevor er nach Hause kommt, kurvt ein Lieferwagen mit quietschenden Rädern um die Ecke, hält dicht bei ihm, und bevor Peter sich versehen kann, wird er betäubt und verschleppt.
  2. Als er aufwacht, liegt er in einem kleinen, fensterlosen Raum. Er wird tagtäglich von einem maskierten Mann mit Essen versorgt. Manchmal hört er Kinderrufe, manchmal Streit in einer fremden Sprache. Oft ist es vollkommen still draußen. Als er am dritten Tag einen kleinen Schraubenzieher ergattern kann, befreit Peter sich, entkommt aus dem Haus, in dem er gefangen gehalten wurde und rennt zur Polizei.
  3. Dort erwartet er, dass die Polizei schon nach ihm sucht. Schließlich ist es fast vier Tage her, seit er entführt wurde. Doch die Polizei schaut ihn nur verwundert an: seine Mutter habe keine Meldung gemacht. Als er von den Polizisten nach Hause gebracht wird, melden sich bereits die Kollegen, die das Haus überprüft haben: es wurde in großer Hektik verlassen.
  4. Und auch in Peters Haus wartet eine Überraschung auf ihn. Seine Mutter ist verschwunden. Offensichtlich fehlt nichts, und selbst der Wagen seiner Mutter steht noch da.
  5. Warum wurde Peter entführt? Von wem? Und wohin ist seine Mutter verschwunden?
Jetzt seid ihr an der Reihe. Fertige Geschichten bitte an: Peter wird entführt

Spunk - mitmachen erwünscht!

Eines Morgens kamen Thomas und Annika wie gewöhnlich in Pippis Küche gerannt und riefen: "Guten Morgen!" Aber sie bekamen keine Antwort. Pippi saß mitten auf dem Küchentisch mit Herrn Nilsson, dem kleinen Affen, im Arm und einem glücklichen Lächeln auf den Lippen.
"Guten Morgen", sagten Thomas und Annika noch einmal.
"Stellt euch vor", sagte Pippi verträumt, "stellt euch bloß mal vor, dass ich es gefunden habe! Gerade ich und niemand anders!"
"Was hast du gefunden?", fragten Thomas und Annika. Sie wunderten sich nicht im Geringsten darüber, dass Pippi etwas gefunden hatte, denn sie fand immer etwas. Aber sie wollten wissen, was es war. "Was hast du eigentlich gefunden, Pippi?"
"Ein neues Wort", sagte Pippi und sie schaute Thomas und Annika glücklich an. "Ein funkelnagelneues Wort!"
"Was für ein Wort?", fragte Thomas.
"Ein wunderschönes Wort", sagte Pippi. "Eins der besten, die ich je gehört habe."
"Dann sag es doch", sagte Annika.
"Spunk!", sagte Pippi triumphierend.
"Spunk?", fragte Thomas. "Was bedeutet das?"
"Wenn ich das bloß wüsste", sagte Pippi. "Das Einzige, was ich weiß, ist, dass es nicht Staubsauger bedeutet."
Thomas und Annika überlegten eine Weile. Schließlich sagte Annika:
"Aber wenn du nicht weißt, was es bedeutet, dann nützt es ja nichts!"
"Nein, das ist es ja, was mich ärgert", sagte Pippi.
"Wer hat eigentlich zuerst herausgefunden, was die Wörter alle bedeuten sollen?", fragte Thomas.
"Vermutlich ein Haufen alter Professoren", sagte Pippi. "Und man kann wirklich sagen, dass die Leute komisch sind. Was für Wörter die sich ausgedacht haben! Wanne und Holzpflock und Schnur und all so was - kein Mensch kann begreifen, wo sie das herhaben. Aber Spunk, was wirklich ein schönes Wort ist, darauf kommen sie nicht. Was für ein Glück, dass ich es gefunden habe! Und ich werde schon noch rauskriegen, was es bedeutet."
Sie dachte eine Weile nach.
Astrid Lindgren: Pippi im Taka-Tuka-Land
Man kann hier sehen, dass Pippi Langstrumpf viel von Sprache versteht. Dazu eine Stelle zu Lacan:
De Saussure spricht von Signifikant und Signifikat; Freud hat in ähnlicher Weise von Wort- und Sachvorstellungen gesprochen. De Saussure hat die Sprache als ein differentielles Netz von Signifikanten und Signifikaten aufgefasst, die sich, paarweise zu Zeichen gebündelt, gegenseitig ausgrenzen; jedes definiert sich als das, was die andern nicht sind. Diesem Gedanken entsprechend lässt sich Sprache nicht als Substanz, sondern als Form begreifen. Lacan geht über de Saussures Auffassung der Zeichen hinaus, indem er diese als abkünftig von der Bewegung der Signifikanten auffasst. Signifikate bilden sich im Gefolge der Artikulation der Signifikanten; es gibt keine vorweg definierte Zuordnung von Signifikanten zu Signifikaten in Zeichen. Lacans Stil macht dieses differentielle Gefüge der signifikanten Artikulation erfahrbar. Liest man einen Text von ihm, stößt man auf die Unmöglichkeit, am Anfang einer Abhandlung Definitionen zu geben; erst aus dem Kontext heraus ergeben sich Bedeutungen. Das Definitorische steht somit nicht am Anfang, sondern, wenn schon, am Ende eines Textes. Lacan übernahm weder de Saussures Auffassung der Sprache, noch Freuds Metapsychologie oder Hegels Dialektik integral. Er verwendet sie. So wird aus dem Konzept de Saussures die Theorie des Signifikanten. Mit ihr übersteigt er den Bereich der Linguistik. Er stellt den Signifikanten der Signifikanten ins Zentrum: den Phallus. Mit diesem Konzept bezeichnet er in erster Linie nicht das körperliche Organ, sondern die Instanz des Bedeutungs-Schaffens. Dadurch räumt Lacan dem Signifikanten das Primat vor dem Signifikat ein. Er kehrt so die vorherrschende abendländische Tradition um, die davon ausgeht, dass Sprache der Bezeichnung von an sich sprachlosen Gedanken dient, die also dem Signifikat, dem Bezeichneten, Priorität gibt. Ohne Sprache ist für Lacan nichts; die Realität - zu unterscheiden vom Realen - ist aus Sprache gebaut, das menschliche Wesen nennt er »parlêtre«.
Peter Widmer: Subversion des Begehrens
Wie Lacan vom Primat des Signifikanten ausgeht, so auch Pippi. Insofern bedeutet Spunk auch nicht - wie Pippi später feststellt - einen Käfer, sondern auch die Suche nach dem Spunk. Nicht der Käfer, die Geschichte des Bedeutens ist wichtig (und witzig).
So findet die Sprache ihren "Ursprung" im Neologismus (den man besser Neomorphismus nennen sollte, denn es handelt sich zunächst um eine Gestalt, während die Bedeutung einen Ambisemismus, eine gespaltene oder schwankende Sinnkonstruktion vorführt).
Barthes jedenfalls schreibt zu Brillat-Savarin:
Den Neologismus (oder das sehr ausgefallene Wort) gibt es bei B.-S. in großer Zahl; er setzt ihn ungehemmt ein, und jedes dieser unerwarteten Wörter (irrorateur, garrulité, esculent, gulturation, sopo­reux, comessation usw.) ist die Spur einer tiefen Lust, die auf das Begehren nach der Sprache verweist: B.-S. begehrt das Wort, wie er Trüffeln begehrt, ein Thunfischomelett oder ein Fischragout; wie jeder Neologe unterhält er nur zum einzelnen, von seiner Sin­gularität umstellten Wort eine fetischistische Beziehung. Und da diese fetischisierten Wörter in eine sehr reine Syntax eingelassen sind, die die Lust am Neologismus in den Rahmen einer klassi­schen, aus Zwängen und Vorschriften bestehenden Kunst fasst, kann man sagen, dass die Sprache von B.-S. buchstäblich schlem­merhaft ist: schlemmerhaft mit den Wörtern umgeht, die sie ein­setzt, und mit den Gerichten, auf die sie sich bezieht; eine Ver­schmelzung oder Mehrdeutigkeit, die B.-S. selbst herausstreicht, wenn er wohlwollend jene Schlemmer erwähnt, deren Leiden­schaft und Sachverstand man schon allein daran erkennt, wie ­schlemmerhaft - sie das Wort »gut« aussprechen.
Roland Barthes: Brillat-Savarin-Lektüre, in ders.: Das Rauschen der Sprache
Bringen wir also ein wenig Bewegung in die Sprache. Schaffen wir neue Wörter, ambisememische, unverständige, solche, die uns noch auf eine Reise schicken.
Vielleicht ist dies auch eine der schönsten Arten und Weisen, mit anderen Sprachen umzugehen: hier Vermischungen zu schaffen - ich denke zum Beispiel an das Türkische, was ja naheliegend ist. - Meine Versuche, hier mal ein paar Neologismen zu erschaffen, sind allerdings wegen der morgendlichen Frische gescheitert. Vielleicht fällt euch etwas ein.
Günlük deyis (deyisch gesprochen, wegen des gehakten s am Ende) heißt: frisches Wort.

20.03.2008

Zur deleuzianischen Logik

Ich hatte schon vor längerer Zeit kritisiert, dass die Logik von Gilles Deleuze wenig in der deutschen Literatur aufgearbeitet wird (hier). Dabei muss man sich hier garnicht so sehr verbiegen und völlig Ungedachtes denken. Eigentlich ist Deleuze sogar ganz einfach.

Produktion

Deleuze geht von der universellen Produktion aus. Alles ist Produktion, alles funktioniert: das sind die Maschinen, von denen im Anti-Ödipus gesprochen wird, das sind die Gefüge in Tausend Plateaus.
Der Witz dabei ist eindeutig, dass sich die Produktion in drei verschiedene Formen des Produzierens aufteilt: die Produktion, die Konsumption und die Distribution.

Produktion.

Die Produktion verbindet Ströme mit Partialobjekten (Konnexionstypus der Produktion). Jeder Strom agiert lokal mit unspezifischen Partialobjekten. Um dies zu verdeutlichen, greife ich das Beispiel des Lesens (siehe oben) nochmal auf: Wenn ich einen Text lese, lese ich nicht das Ganze, sondern immer lokale Bruchstücke eines solchen Textes, Partialobjekte eben. Diese Partialobjekte sind universell. Es lässt sich kein spezifisches, globales Objekt daraus ziehen. Insofern ist die Produktion immer von einem dahinströmenden Leser bestimmt, der in einer gewissen Willkürlichkeit den Text aufteilt und einschneidet. Lakonisch sprechen Deleuze und Guattari von einer Wurstabschneidemaschine. - Es gibt natürlich eine Logik, die diese nomadische Produktion nutzt, sie aber ruiniert: das ist die Extrapolation. Diese zieht aus den Partialobjekten, aus den vielfältigen Text-Stücken eine transzendentale Bedeutung heraus, ein globales Objekt; sei dies der Humanismus Goethes, sei dies der Anti-Humanismus Kafkas, sei dies was auch immer. Die Extrapolation beruht immer darauf, dass einem Text, einer Materialität ein verdrängter Repräsentant unterstellt wird: zum Beispiel ein Autorenwille, der hier, durch hermeneutische Gymnastik, hervorinterpretiert werden müsse. Oder zum Beispiel eine faschistisch-kapitalistische Verschwörung, der man habhaft werden könne, wenn man dem Staat seine humanitäre Maske abreißen würde. Dabei ist ein transzendentes Objekt kein falsches Objekt; es stimmt schon, dass man dies genauso lesen kann. Nur die Logik ist falsch: denn es ist nur ein Objekt unter anderen, und kein Objekt über anderen.

Konsumption.

Die Konsumption verbindet die Intensität mit dem Werden (Konjunktionstypus der Produktion). Jede Intensität ist polyvok zu einem nomadischen Werden. Wenn man einen Text liest, dann entstehen intensive Ereignisse, denen der Leser in einer verwundenen Spur folgt. Eher trifft das Ereignis den Leser und zwingt diesen, oder verführt ihn (aber das ist diesmal dasselbe) zu einem offenen, nicht-determinierten, nicht-kausalen, nicht-finalen Weg. Das ist kein Labyrinth, in dem man sich verirrt. Tatsächlich entsteht der Weg, indem man ihn geht, ja, man selbst ist dieser Weg, wird der Weg, wie der Weg man selbst wird, in einer eindeutigen Ununterscheidbarkeit. Kein Ereignis aber ist univok: es determiniert noch nicht den nächsten Schritt; von einem Ereignis, einer Leseerfahrung zum Beispiel, führen zahlreiche Wege weiter. Was die Verkettung von Ereignissen und dem Werden des Lesers in seiner Leseerfahrung angeht, gibt es keine gegenseitige Zwangslage; die Determination, obgleich sie besteht, ist offen. - Der Pseudologismus, der die Konsumption heimsucht, ist die bijektive Applikation. Diese behauptet gerade, dass man, wenn einen ein bestimmtes Ereignis oder eine bestimmte Kette von Ereignissen widerfährt, man auch zu einem bestimmten Etwas wird. Alkoholkranke Eltern verursachen alkoholkranke Kinder (wenn auch über zeitliche Distanzen hinweg), so der Aberglaube. Und selbst wenn die Kinder später auch Alkoholiker werden: weshalb sollten sie die Abstammung ihrer Eltern repräsentieren, weshalb nur diese, zur Freude einiger Familientherapeuten?
Schließlich ist es die bijektive Applikation, die die Realität einem Modell unterwirft, die Abweichung als Abweichung brandmarkt und auf die Norm zurückzuführen sucht. Dabei ist ein Modell ein Werkzeug, um Neues zu erzeugen, ein kreatives Instrument; und nie etwas so Lapidares und Langweiliges wie die Abbildung der Realität. Ich liebe die Schriftsteller, die sagen, die Realität sei langweilig. Nur die Modelle sind spannend, und wenn ein Modell in Form eines Romans vorliegt, umso besser. Mit ihm kann man neue Realitäten erzeugen. Nie ist ein Modell falsch, allerhöchstens despotisch. Wenn man die Kinder in die ödipalen Modelle presst, die Kommunikation in das von Thunsche Kommunikationsquadrat, die Arbeiten der Schüler in die Benotung, die künstlerischen Ausdrucksformen in den Avantgardismus (oder, noch schlimmer, in das Völkische). Selbst die Astrologie ist nützlich, solange man sie als Transmissionsriemen nutzt.
Das meinen Deleuze und Guattari auch, wenn sie verlangen, man müsse ein Hund werden, damit der Hund etwas anderes werden könne. Nicht, dass man tatsächlich ein Hund werden solle (wir sind keine Zauberer). Der intensive Gebrauch des Hunde"modells" treibt das Vielstimmige des realen Hundes hervor; das Modell konsumiert den Hund in der Art und Weise, dass sich der Hund als unkonsumierbar erweist. Und natürlich geht es hier nicht um Hunde. Indem ich dem Text, dem Roman ein Modell abtrotze und dieses anwende, treibe ich den Text in ein Werden hinein, in ein Anders-Werden, das sich umso mehr beschleunigt, je intensiver ich mit dem Text agiere. - All die neuen und bizarren Berufsbezeichnungen, die Deleuze und Guattari erfinden, sollen vor allem eines verdeutlichen: in der Aktion entfaltet sich ein ganz neues Bild, eine ganz neue Rolle des eigenen Tuns; man hat es mit ganz neuen Laborbedingungen zu tun; man schafft ganz neue Produkte, ja schießt die alten Produkte buchstäblich in den Wind.

Distribution

Die Distribution verteilt die Singularitäten gemäß ihren Differenzen (Disjunktionstypus der Produktion). Die Singularitäten, Einzelheiten, sind keine Dinge, die aus einer Abfolge von produktiven Plänen heraus entstehen. Vielmehr wird ihr Entstehen aus dem Spiel der Bejahungen deutlich, den Bejahungen, die ihre Kräfte auf eine Einzelheit ausüben, und diese in eine Wandlung hineintreiben. Selbst die Verneinung ist noch eine Bejahung, ein Zu-tun-haben-mit, und nicht ein Unberührtsein. Gerade die Verneinung berührt, zieht aus der Interaktion eine Grenze, die nur weitere Interaktion impliziert. So wenn ich einen Text lese, wenn ich ihn ein- und aufteile: die Singularitäten, die ich aus ihm ziehe, sind nicht die Singularitäten des Textes, sondern die Singularitäten des Lesens. Sie bilden keine feststehenden Blöcke, obwohl sie Grenzen besitzen, doch über diese Grenzen besteht ein fortwährendes Spiel mit anderen Textstellen. Indem ich eine Grenze im Text erschaffe, setze ich diese Grenze meinem Lesen aus, und indem ich die Grenze lese, wird diese zu einer weiteren und anderen Singularität, die wieder ihre eigenen Grenzen erschafft, und so weiter.
So schließt die Disjunktion ihr Gegenüber als produktive Kraft mit ein. Selbst der Paranoide kann nicht paranoid sein ohne das Ding, das er zu vermeiden sucht; und dieses Ding wirkt produktiv an der Paranoia mit und entzieht dieser die Kontrolle, weshalb viele Paranoide an einen Animismus des gefürchteten Objekts glauben, obwohl es seine Quasi-Lebendigkeit nur über die Inklusion durch die Paranoia erhält.
Die Disjunktion ist auch deshalb so schwierig zu erfassen, weil sie sich nicht begrenzt, nicht begrenzen kann. Sobald ich eine Grenze ziehe, vermehre ich die Interaktion. - Gerade dies aber versucht der Pseudologismus der Distribution außer Kraft zu setzen: er behauptet die Begrenzung, stellt das Labyrinth wie einen geraden Weg vor, auf dem es nur ein Vor oder Zurück gibt, aber kein Seitwärts. Jede Herkunft wird exklusiv, logisch, einfach: ein Text sei gut aufgrund der überragenden Vernunft seines Autors, ein Geniekult, der außer Acht lässt, wer diesen inszeniert. Diese Logik setzte die Grenzen als absolut, als unhinterfragbar, bleibt despotisch, was den Grenzverkehr betrifft, und zeugt in allem von einem schrecklichen double-bind: erlebe mich, lies mich, erfreue dich an mir, aber nur so wie ich(=man) es dir erlaube. Goethe müsse nicht nur gelesen werden, sondern nur so gelesen werden, dass ein Geniekult entstehe. Anderes, was nicht dem klassischen Kanon gehorcht, sei Unterhaltung, niedere Unterhaltung, als könne man diese nicht intelligent lesen.
Die exklusive Distribution verlangt, dass man lachend ins Verderben rennt. Marxist nur der, der wortgetreu die Parteilinie vertritt, doch müsse dies frei und aus seinem eigenen gesunden Menschenverstand heraus geschehen; Frau nur die, die sich jederzeit und ständig um ihre Kinder kümmert, Feministin nur die, die auf jeden Fall arbeiten will, Karriere machen will; - all dies unbekümmerte Anwendungen einer exklusiven Verteilung, die den Weg zu einer Sackgasse macht, die die Interaktion veröden lässt, die Ereignisse normiert und die Rollen standardisiert. Ihr deutlichstes Zeichen ist die absolute Verneinung.

Zwei Logiken

Sowohl die offene Produktion mit ihren Logiken als auch die geschlossene Produktion mit ihrer Pseudologik bilden Systematisierungen aus.
In der offenen Produktion verbinden sich die Ströme mit den Partialobjekten, und indem die Partialobjekte fortwährend neu erschaffen werden, verteilen sich diese in einem inklusiven Arrangement, das ein vitales Verhältnis zu dem unterhält, was jenseits der Grenze liegt. Dieses vitale Verhältnis, diese Interaktion aber verschiebt die Grenzen fortwährend. So können Produktion, Konsumption und Distribution nicht ohne einander gedacht werden.
In der geschlossenen Produktion wiederum zieht das transzendentale Objekt die Anordnung der empirischen Elemente in ein exklusives Verhältnis, das bestimmte Elemente bejaht, alle anderen aber absolut verneint; und dadurch dünnt es die Interaktion auf ein Minimum aus.
Es ist klar, dass diese geschlossene Produktion nur aufgrund von Behauptungen zustande kommt: dem Vorrang eines Elementes vor allen anderen, ohne sehen zu wollen, dass der Vorrang nur dann möglich ist, wenn die anderen Elemente sich unterordnen lassen; die Absolutheit der Verneinung, die ideell nicht zu einem Objekt gehören darf, obwohl sie doch faktisch in Verbindung stehen; die eindeutige Abbildung, obwohl diese dann nur eine unfruchtbare Verdoppelung wäre und keinesfalls das aktive Produkt eines schöpferischen Subjekts.
Mithin ist diese zweite Logik ein reines Theater bizarrer Behauptungen; und trotzdem hört man auch in ihr den Lärm einer ganz anderen, kreativen Logik. Zum Beispiel ist der behauptete Vorrang eines Elementes vor allen anderen ein Element neben allen anderen. Man muss nur die Verbindung zwischen dem realen Element und der Behauptung als vielstimmig produktiv fassen, und nicht als eindeutig repräsentativ. Die Subversion missachtet bestimmte Formen der Logik beziehungsweise die Pseudologik, nicht aber die Elemente. Jedes Ereignis ist gut, solange man es in eine offene Produktion einspannen kann.

Schizoanalyse

An diesem Punkt kann man die Schizoanalyse ansprechen. Die Schizoanalyse ist die Arbeit an den verschiedenen Formen der offenen Logik. Sie vermeidet auf jeden Fall eine Einheit, ein Endergebnis, denn dieses käme dem transzendentalen Objekt gleich, ja würde es wieder in eine Tätigkeit einführen, die zu vermeiden man trachtet.
Deshalb geht die Schizoanalyse von einer Vielfalt der Ergebnisse aus, und eher noch von einer Vielfalt der Zwischenergebnisse. Sie verzeichnet Karten, in der das eine Objekt mit dem anderen interagiert, natürlich nur so lange, wie diese Interaktion interessant ist, intensiv ist und nicht zu einer anderen, neuen Interaktion wird.
Ich kann mich zum Beispiel einige Zeit mit der Zielgerichtetheit der Sherlock-Holmes-Geschichten befassen. Die Zielgerichtetheit interagiert in einer gewissen Weise mit dem Ziel, geht aber nicht in diesem auf. Natürlich gibt es einen einheitlichen Zug in solchen Geschichten wie Das gesprenkelte Band. Alle Indizien weisen auf den Mordplan hin, den Holmes dann vereitelt. Doch das Ende, der Tod des Mörders, ist kein exklusives Ende, sondern ein inklusives. Nicht nur hätte man sich ein anderes Ende vorstellen können, es führt die ganze Geschichte auch aus dem Genre des Whodunnit heraus zu den Schauerromanen und den Geschichten der göttlichen Strafe, ohne deren Genregesetze zu erfüllen.
Andererseits ist die Erläuterung, die Holmes für seine Schlussfolgerungen gibt, später, als er Watson über seine Vermutungen aufklärt, nicht direkt mit der Untersuchung korrespondierend. Während Holmes das Zimmer von Dr. Roylott und seiner Stieftochter untersucht, werden zwar Elemente angesprochen, aber noch nicht verbunden: so der nutzlose Glockenstrang, so das festgeschraubte Bett, so die seltsam zusammengeknotete Reitpeitsche. Wie Doyle nicht müde wird zu betonen, handelt es sich hier um Beobachtungen.
Erst im Nachhinein gibt Holmes dann seine Kombinationen preis. Die diffuse Verteilung der Elemente, Glockenstrang, Bett, Peitsche, ist noch in einer offenen Logik gehalten, die den Leser mobilisiert, während die Erklärung dieses Arrangements den Mordplan als einen despotischen Mechanismus offenbart; kein Sammelsurium von Absonderlichkeiten, sondern ein exklusives, tödliches Arrangement. Die Inklusivität wandert von hier aus in die letzten Ereignisse: die Abwehr der Schlange, der Schrei Dr. Roylotts, der bizarre Kopfschmuck. Wiederum sind diese diffus verbunden, auch wenn Holmes sie codiert: "Wahrhaftig, Gewalt fällt auf den zurück, der Gewalt übt, und der Ränkeschmied stürzt in die Grube, die er einem anderen gegraben hat."
Die Erklärung des Mordplans selbst ist ein Element in diesem offenen Arrangement. So verändert sich die Geschichte bis zum Schluss, birgt auch da noch die Abenteuer der offenen Interpretation und vereinnahmt die limitierende Erklärung als Teil eines nicht-limitativen Ganzen. Gerade die Erklärung ironisiert Doyle am Ende von Die Liga der Rotschöpfe, wenn Holmes sagt: "Ich verbringe mein Leben in einem einzigen großen Versuch, den Gemeinplätzen des Daseins zu entrinnen. Diese kleinen Probleme helfen mir dabei."
Die Zielgerichtetheit ist ein Element unter anderen. Schon alleine weil Erzählungen auch Charaktere darstellen und diese Charaktere nicht in ein Ziel münden - sowohl Holmes Charakter wie der von Dr. Roylott erweisen sich gegen die Geschichte selbst resistent -, schon deshalb kann und muss man von einem Gefüge ausgehen. Und wer sich einmal die Arbeit gemacht hat, sich eine Szene aus einem Roman zu ziehen und diese auf eine ganz andere Weise fortzuschreiben, kann auch einzelne Textabschnitte nicht mehr als Notwendigkeit einer Geschichte begreifen. Vielmehr erzeugen sich hier die Wirkungen, indem sie bejahen: eine Szene erklärt sich nicht in ihrem Recht, in einer Geschichte zu stehen (sie re-flektiert nicht, sie bildet keine Ressentiments gegen den Leser), sondern sie existiert, in einer lockeren Verteilung zu anderen Szenen.
Mit der Schizoanalyse werden diese einzelnen Elemente, ihre Verteilung und Verbindung modelliert. Und auch wenn der Text zunächst eine Notwendigkeit hat, ist diese Notwendigkeit keine Zwangsläufigkeit, sondern ein Bejahen, das den Singularitäten des Textes die Möglichkeit gibt, andernorts etwas ganz anderes zu sein.

Lyrischer Rassismus

Doudou Diène - UNO-Berichterstatter über Rassismus - hat gestern über den zunehmenden Rassismus in den westlichen Ländern und vor allem in der westlichen Politik gewarnt. Dort werde der Rassismus zunehmend durch die Beschränkung auf Sicherheitsfragen zugleich ausgeblendet und legitimiert.
Von den logischen Operationen her gesehen zieht diese Beschränkung aus Sicherheitsfragen ein transzendentes Objekt: sie extrapoliert die Sicherheit aus einem instabilen Gefüge von Machtverhältnissen. So gesehen ist es übrigens nicht richtig, wenn man sagt, die Politik instrumentalisiere die Sicherheitsfrage, um den Rassismus zu legitimieren. Genau das umgekehrte gilt nämlich auch. Der Rassismus legitimiert die Sicherheitsfrage. Dieses Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung entsteht aus einem Netz von vielfältigen Vorteilen, die man aus einer angespannten Situation ziehen kann. Die Extrapolation schneidet an dieser Stelle das Mikrogefüge aus der Wahrnehmung aus und inszeniert einen universellen Kampf, ein Duell. Dieses Duell kann kaum mehr als ein tödliches Verhältnis zwischen Sicherheit und zum Beispiel Islamismus bezeichnet werden. Transzendent ist es allemal, da es der empirischen Vielfalt widerspricht, beziehungsweise die empirische Vielfalt als Spielarten einer transzendenten Norm begreift: der Moslem, um es mal auf krude Art und Weise zu sagen, der noch nicht Terrorist ist, ist eben eine Abweichung von dieser Norm.
Das alles hat übrigens auch nichts mit Ideologie zu tun (ich huldige keinem Marxismus, nicht einmal einem Marxismus, der Marx noch kennt):
Ideologie ist ein ganz mieser Begriff, der alle tatsächlich funktionierenden gesellschaftlichen Maschinen verdeckt. (Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, S. 96)
Die Ideologie selbst ist eine weitere Transzendenz, mit der sich der Stalinismus/Linksterrorismus versorgt, um gegen eine genauso abstrakte kapitalistische Maschinerie anzukämpfen.
Das Problem, das mit jeglichem Rassismus oder mit der Ideologie einhergeht, ist ein eindeutig ödipales Problem: das Kind, welches mit dem Spielzeug-Zug in eine Höhle fährt, inszeniert kein ödipales Drama, keinen symbolischen Ich-will-mit-meiner-Mutter-schlafen-Wunsch. Die Extrapolationen, die hier manche Psychoanalytiker vorgenommen haben, sind zwar glücklicherweise als lächerlich gebrandmarkt. Doch spricht die Spielhandlung des Kindes weder für noch gegen diese Deutung. Ob ich hier einen Ödipus entdecke oder einen Ödipus ablehne, spielt gar keine Rolle. Einziges Problem bei diesem Beispiel ist, ob ich eine transzendente Bedeutung im Spiel des Kindes entdecke, sei dies eine psychoanalytische oder eine anti-psychoanalytische, oder ob diese Bedeutung einem lokalen, unspezifischen Gefüge entspringt, ob ich also meine Deutung als Teil des Spiels begreife.
Wenn ich nun aus dem Verhalten von Moslems eine Art Fundamentalismus ziehe, wenn ich aus dem Verhalten von Politikern eine Art instrumentalisierten Rassismus ziehe, dann versuche ich mich genau an einer solchen ödipalen Interpretation.
Dabei ist das größte Wunder der Zeichen, dass sie hier so hübsch redundant sind: ihr größter Erfolg und ihr größter Despotismus.
Gäbe es ein Heilungsmittel? Vielleicht. - Zumindest kann man hier eines sagen: statt den Rassismus, den Anti-Islamismus auf reine Aussagen zu begrenzen, ihnen den Kampf anzusagen, das natürlich auch, muss man ihnen ihren strukturellen Lyrismus nachweisen, ihre Zufälligkeiten, ihre Auch-noch-Verbindungen über den reinen Rassismus hinaus, ihre Gelegenheiten, ihre Abfallprodukte, die am Rande mitschwimmen, ihre Narzismen, ihren Schwulst. Der Lyrismus bedient sich der uneigentlichen Sprechweise, deutet an, verschiebt und verstellt, indem er falsch gelesen wird, nicht mehr als Lyrismus begriffen wird. Man kann ihm nicht mit einem Anti-Lyrismus begegnen, denn dies würde genau zu der Position führen, dass es neben einem komplexen Sprechen ein einfaches Sprechen gäbe, neben dem immanenten Bedeuten eine reinere, transzendente Position. Nein, man kann den Lyrismus hier nur überbieten, ihn aufschäumen lassen, ihn in die irrwitzigsten Richtungen mitspielen, die die Empirie noch zulässt (und sei es als Unterstellung). All dies ist kein Kampf gegen den Rassismus (das auch), sondern ein Kampf gegen die Extrapolation.

Statt also von einem Signifikanten auf ein Signifikat zu schließen, lese man ein seltsames Wechselverhältnis zwischen einer Ereignisebene und einer Materialebene.
Man nehme zum Beispiel einen Text als Material, das Lesen als eine Wolke von Ereignissen. Weder ist der Text durch das Lesen zu definieren, noch das Lesen durch den Text. Das liegt daran, dass der Text zwar viele, aber nicht beliebige Verbindungen zulässt. Da jeder Text mit anderen Texten, mit anderen Objekten in Verbindung gebracht werden kann, entstehen unzählige, nicht-beliebige Aussagen und Sinnzusammenhänge. Umgekehrt wird das Lesen nicht als ein Reflektieren des Textes besorgt (siehe oben), sondern als ein Produzieren von Ereignissen. Materialebene und Ereignisebene, Text und Lesen können nicht eindeutig aufeinander abgebildet werden; es handelt sich nicht um eine bijektive Applikation.
Genau so aber muss man mit allen Materialebenen umgehen, handelt es sich nun um die moslemische Bevölkerung, einer rassistischen Gruppierung, einem politischen Komitee gegen Rassismus. Auf der Ereignisebene geschehen Sachen, die sich nicht rational aus der Materialität ableiten lassen. - Foucault hat dies zum Beispiel sehr deutlich für die Formen der Delinquenz und Strafverfolgung (Ereignisebene) und dem Gefängnis (Materialebene) herausgestellt (Michel Foucault: Überwachen und Strafen).

Ein Anti-Rassismus kann deshalb nicht im Verbot von Rassismen bestehen, auch nicht in einem Brandmarken, sondern in der lyrischen Subversion aller "vernünftigen" Aussagen, das heißt, in der Misshandlung von ihnen. Schafft es der lyrische Rassismus, zwischen Ereignisebene und Materialebene eine Eindeutigkeit herzustellen, entgrenzt und zerstört die lyrische Subversion genau diese Einheit wieder. Ihr vorrangiges Angriffsziel ist dabei das transzendentale Objekt (als Quasi-Material) und die Extrapolation (als pseudo-logisches Ereignis).
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin 1997
Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main 1991

19.03.2008

Die gefiederte Schlange

So heißt eine Geschichte von mir, die jetzt doch mal veröffentlicht wird. Seltsamerweise ist es eine der Geschichten, in denen ich stärker experimentiert habe, mit Stilmitteln und mit Wortwiederholungen; und obwohl sie eine Pointe hat, sie hat nicht den Humor, den ich sonst gerne in meinen Geschichten gebrauche. Sie ist eher melodramatisch.
Wie dem auch sei: sie wird nun veröffentlicht.
Peter Gura, der sich für die Anthologie verantwortlich zeichnet, hat die Geschichte hervorragend lektoriert. Ich musste mich fast einen Monat lang an seinen Anmerkungen zu Stilmitteln und Erzählwirkung reiben. Dafür kann ich Peter nur danken: denn ein so sensibles, achtsames Lesen erfährt man selten, eine so klare und konstruktive Kritik ebenso wenig. Dass Peter all dies scheinbar leichtfüßig vereint - wer es selbst mal getan hat, weiß, wie mühevoll es eigentlich ist -, zeugt von einem großen Verstand und einem noch größeren Respekt vor der schreibenden Zunft.

18.03.2008

Venezianisches Finale

So heißt das erste Buch aus der Brunetti-Reihe von Donna Leon.
Gerade lese ich es wieder. Eine Rezension wird folgen. Zunächst fasse ich die Kapitel unter bestimmten Gesichtspunkten zusammen. Besonders interessant ist, dass Leon sich den Exkursen widmet, so den Exkursen in die Familie Brunettis, wenn es um die Kinder, um die Ehefrau geht. Diese Exkurse sind geschwätzig und ihr Sinn für den Krimi nicht einsehbar.
In den Exkursen findet man eine private, fast unsoziale Neigung wieder; der Leser wird hier zum Voyeur von Nichtigkeiten. Brunettis Sohn etwa gibt sich dem Antikapitalismus hin, doch bedeutet dieser Sohn nichts. Und da er sich mit seinem Vater nicht unterhält, da dieses Verhältnis von Vater und Sohn nicht auf den Kriminalfall abzielt, wird die ganze Szene, in der die Familie Brunetti Monopoly spielt, und der Sohn vor allem, zu einem störenden Einsprengsel in einer Geschichte, die von störenden Einsprengseln voll ist. Schon alleine, dass Leon dieses Verhältnis referiert, statt es szenisch umzusetzen, macht die ganze Passage träge.
Um hier nicht noch einmal Alices Buch herbeizuzitieren, sehe man sich Grangés Das Herz der Hölle an. Obwohl es ein oppulentes Bild einer Ermittlung abliefert, wird hier kaum herumgeschnörkelt. Die Szenen sind jede für sich in dem Gesamtgefüge notwendig. Grangé erspart uns platte Betrachtungen, spart mit Erläuterungen, entdramatisiert nicht die Konflikte.
Oder man nehme Camilleri. Camilleri führt durchaus soapartige Elemente in seinen Montalbano-Krimis mit. Doch diese Elemente drehen und wenden die Hauptgeschichte; und sie werden nicht ausgeschlachtet: so hat der Autor in späteren Büchern immer wieder die Gelegenheit, ähnliche Szenen zu wiederholen und darüber die einzelnen Figuren zu profilieren. So ist Catarè ein unverbesserlicher Dummkopf mit einem gehörigen Maß an Loyalität und Bauernschläue. Wenn Catarè auftaucht, erwartet man als Leser eine dieser typischen Unmöglichkeiten dieser prägnanten Figur. Und Camilleri streut diese Szenen in seinem Roman aus, ohne die Hauptgeschichte aus den Augen zu verlieren.
Damit ergibt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen Leon und Camilleri. Während Leon zusammenfasst und bündelt, verteilt Camilleri. Genau hier wird aber die Wiederholung möglich und durch diese Wiederholung wird die szenische Dramatisierung zum gestalterischen Prinzip. Bei Leon wirken einige der Figuren platt, papieren; Camilleri dagegen kann gerade dadurch, dass er nicht alles sagt, dass er vieles implizit sagt, eine enorme Lebendigkeit bei seinen Figuren erzeugen.
Hier erweist sich noch einmal, dass eine Vollständigkeit beim erzählenden Schreiben nicht erreicht werden darf, sondern bewusst umgangen werden muss. Die Auswahl dessen, was man dem Leser an Informationen an die Hand geben will, sollte bewusst umgesetzt werden. Szenen, die dicht an der Realität arbeiten und Deutungen, Zusammenfassungen so spärlich wie möglich einsetzen, solche Szenen können an ihrem Rand Fragen aufwerfen, neugierig machen.
Wer sich ans Plotten macht, überlege sich also nebenher, wie er den Gang der Geschichte möglichst in Szenen darstellen kann.
Donna Leon jedenfalls liest sich streckenweise wie eine sehr bizarre Auswahl von Informationen in einem Reiseführer. Und damit ist noch kein Blumentopf gewonnen (obwohl, wenn man den Erfolg der Serie ansieht, wohl irgendwie doch).

17.03.2008

Beowulf

Gestern habe ich mir Beowulf angesehen; auf DVD. Zunächst war es nur ein müßiger Anlass, dann aber fand ich den Film großartig.
Der Film ist weitestgehend wie eine Computeranimation gedreht, und vieles davon ist wohl auch Computeranimation. Selbst die Schauspieler, Anthony Hopkins etwa oder Angelina Jolie, erscheinen wie aus einem Pixelkasten. Doch gerade das macht den Film auch so großartig. Die Künstlichkeit distanziert den Zuschauer und lässt ihn unbeteiligter die Geschichte erleben. Das hätte natürlich stark nach hinten losgehen können, denn je unbeteiligter man als Zuschauer ist, umso mehr rückt die rhetorische Sprache des Films in den Vordergrund, desto mehr entzaubert sich der Film. Doch genau das scheint Zemeckis zu wollen. Inhalt und rhetorische Sprache ergänzen sich, und schließlich ist die Verführung, die Beowulf duldet, die Verführung durch ein Traumgeschöpf (gespielt von Angelina Jolie), eine Allegorie des Kinos. Man muss also die ganze Personenriege, den König, seine Männer, die Frauen, nicht als die mythischen Figuren verstehen, sondern als Verkleidungen einer Regiearbeit. Der König mimt den Regisseur, die Männer den Stab und die Schauspieler.
Letzten Endes ist es wohl das innerliche Drama, der Kampf zwischen dem dämonischen Rausch und der apollinischen Führung, der die kreative Arbeit so fruchtbar und so zerrissen erscheinen lässt. Das Unfertige genauso wie das Überrealistische erreicht Zemeckis durch die Computeranimation. Auch die zahlreichen blutigen Szenen entbehren jeglicher identifizierenden Dramatik: sie bleiben genauso kühl und artifiziell wie der ganze Film. Sie wirken teilweise wie das Durchspielen eines Handlungsablaufes, der sich in der Variation eines Themas erschöpft, dann dieses Variieren abbricht und mit der Handlung weitergeht.

16.03.2008

Sinnentnehmendes Lesen

Man macht sich ja so seine Gedanken. Seit Jahren suche ich nach einer knappen und guten Definition für das sinnentnehmende Lesen.

Warum? - Nun, ich habe ja mal Pädagogik studiert mit dem Schwerpunkt Deutsch. Dann, noch während meiner Studienzeit, kam der PISA-Schock. Was das ist? Betrachtet man nicht den ersten Schein, dann folgendes: hier wurde rasch über den Haufen geworfen, was man an der deutschen Schule so glorifiziert hat. Der deutsche Schüler sei nicht in der Lage, sinnentnehmend zu lesen. Und nebenbei wurde der deutschen Schule Integrationsmüdigkeit vorgeworfen.
Ich mag hier nicht betrachten, ob beides zusammenhängt, obwohl ich das stark vermute.

Da ich in meinem Referendariat damit konfrontiert wurde, sinnentnehmendes Lesen zu fördern, mir aber nicht klar war, wie man dies überprüfen könne, machte ich mich auf die Suche. Dabei war nicht mein Problem, wie man es fördert. Denn da zeigen die Unterrichtsmaterialien eindeutig den richtigen Weg: durch ein Umsetzen oder Übersetzen in eine andere Form entsteht nebenher eine Art von Sinn. Das ist nie der vollständige Sinn, weshalb man mit vielfältigen Übersetzungen arbeiten muss, um einen differenzierteren Sinn zu bekommen. Das war auch eine der für mich notwendigen Ersetzungen. Statt vollständig sage ich differenziert. Dabei lasse ich offen, was alles noch mit einem Text geschehen kann. Beim Übersetzen geht es um die sogenannte intralinguale Übersetzung. Bei ihr wird die Sprache nicht verlassen. Verändert aber wird das Medium. Man kann also davon ausgehen, dass sinnentnehmendes Lesen immer mit einer medialen Veränderung einher geht, mit einer Transmedialisierung.
Transmedialisierung; das ist für sich ein Problembegriff. Denn erstens muss man sich fragen, ob zum Beispiel ein Text nur aus einem Medium besteht; zweitens muss man sich fragen, ob ein Text, der in einen anderen Text übersetzt wird, ein anderes Medium darstellt.

Was einen Text angeht, so kann man ihn als die Einheit von zwei Differenzen von wiederum zwei Differenzen beschreiben.
Die eine Differenz ist die Differenz von Element und Form. Dabei sind die Elemente die bedeutungstragenden Einheiten, also die Morpheme. Sie sind quasi-materiell. Quasi-materiell deshalb, weil sie sich nicht als Tinte oder Druckerschwärze beschreiben lassen, sondern als Formen, die eine Unterscheidung von anderen Formen desselben Typus zulassen; mithin: Buchstaben in einer gewissen Anordnung. Hand und Hund unterscheiden sich; zwar ist das distinkte Merkmal nur ein einzelner Buchstabe. Dieses distinkte Merkmal aber prägt zwei unterschiedliche Morpheme.
Nun bilden diese Elemente zusammen ein Geflecht, so wie sich die Wörter zu Sätzen und die Sätze zu Texten zusammensetzen. Die Elemente sind also in eine Form gebracht, die in gewisser Weise ein schlichtes Gewohnheitsrecht hat. Anders gesagt: ich kann Morpheme nicht in einer beliebigen Art und Weise zu Sätzen und Texten zusammensetzen. Ich liest Bucht ist kein wohlgeformter Satz; ja, das Morphem t am Ende von Bucht wird vollkommen falsch verstanden, bildet ein anderes Wort, da es zu dem Morphem Buch nicht passt.
Anders verhält es sich mit der zweiten Differenz, der von Sinn und Struktur. Sinn und Struktur erfassen sich gegenseitig als Ermöglichungsbedingungen. Wie ermöglichen sich die beiden? Nun, Sinn ist eine Art von Gleiten, ein kognitiver Zusammenhang zwischen einzelnen Elementen. Da jedes Element mit einem anderen zusammengedacht werden kann, ist dieses Gleiten undifferenziert, unendlich, rücksichtslos. Der Sinn verschwindet, indem er gemacht wird, und ist nichts weiter als ein jähes Aufblitzen, ein flüchtiges Phänomen. Überdifferenziert, da es zu allem Verbindung hat, bleibt es undifferenziert, weil es nicht auswählen kann. Die Struktur beschränkt dieses Gleiten, bündelt es, täuscht seine Wiederholbarkeit vor; vor allem aber gießt es den Sinn in größere Formen, die sich in Variationen erneut ausspielen lassen. Dies vor allem ist die Leistung der Struktur: indem sie den Sinn einschränkt, ermöglicht sie eine gewisse Stabilität bestimmter Sinnzusammenhänge. Die Struktur ermöglicht es, dass ich bei Hund an ein vierbeiniges, fleischfressendes Säugetier denke, bei Hand an den fünffingrigen Körperteil eines Menschen.
Damit bildet die Struktur in sich ein Paradox: gerade weil sie Sinn ausschließt, ermöglicht sie Sinn. In die diffusen Wolken ewigen Gleitens meißelt sie festgelegte Bahnen.

Nun hatte ich oben geschrieben, dass sinnentnehmendes Lesen mit einer Transmedialisierung einher geht. Dieses Übersetzen ist an Handlungen gebunden. Dabei ist allerdings eine ähnliche Schwierigkeit wie beim Sinn selbst zu beachten. Handlungen sind nicht einfach Körperbewegungen. Eine Handlung ist abgegrenzt von anderen Handlungen. Sie hat eine Einheit. Fragt man aber nach der Herkunft dieser Einheit, muss man sich aus der Handlung selbst herausbegeben. Die Einheit einer Handlung wird verliehen, indem sie wahrgenommen wird; und wahrnehmbar wird sie dadurch, dass sie nicht einen beliebigen Sinn ergibt, sondern nur einen bestimmten.
Handlungsorientierung ist demnach Sinnorientierung; Sinnorientierung ist Strukturorientierung; und Strukturorientierung ist das Einschleifen von Grenzen und Verbindungen.

Handlungsorientierter Unterricht müsste also als strukturorientierter Unterricht gedacht werden, als einer, der vieles ausschließt und bestimmtes einschleift. Der den Schülern neue Pfade so lange eröffnet, bis daraus Trampelpfade geworden sind.

Was aber ist nun sinnentnehmendes Lesen?
Wie einer meiner Ausbilder zurecht bemerkte, ist sinnentnehmendes Lesen eine Tautologie. Ohne Lesen keine Sinnentnahme, und keine Sinnentnahme ohne Lesen; oder, wenn man dies allgemeiner ausdrücken will, Wahrnehmen und Sinnentnahme sind dasselbe.
In diesem Fall handelt man sich ein anderes Problem ein, dem viele Pädagogen unverständig gegenüber stehen: so allgemein formuliert wird ständig Sinn entnommen. Man kann also garnicht anders, als zu sagen, dass Schüler immer Sinn entnehmen. Wo aber bleibt dann der Lernfortschritt?
Der Zusammenhang ist aber einfach. Der Sinn, der entnommen wird, ist zunächst der Sinnzusammenhang, den ich nicht wählen konnte. Er ergibt sich einfach, in einem - wie Adorno dies sagte - automatischen Erkennen. Die Wahl des Sinnzusammenhangs ist das, was den Sinn zu einem Ereignis macht, in das man handelnd eingreifen kann.
Nicht, dass damit das automatische Erkennen umgangen werden kann. Das ist ständig vorhanden. Aber ich kann mich dagegen wenden, noch einmal lesen und etwas anderes wahrnehmen und lesen. Sinnentnahme ist auch das Umstülpen eines automatischen Zusammenhangs. Lesen in seiner reifen Form anerkennt die Vielfalt des Sinns, verweigert sich aber auch der Beliebigkeit.
Die Beliebigkeit würde zurück in die Undifferenziertheit führen, die die unendliche Differenziertheit letzten Endes ist. Gerade das aber macht den Sinn unmöglich und würde dem ganzen Spiel des Übersetzens seinen Halt nehmen.

Zentrum allen sinnentnehmenden Lesens - vom Menschen aus - kann deshalb nur die Einheit einer formgebenden Handlung sein. Diese ist selbst Automatismus, zunächst, wird aber zur Wahl dessen, was noch an möglichen Automatismen vorhanden ist. Das Lesen nutzt die Struktur. Aber es lässt sich nicht von dieser beherrschen.
Sieht man sich die formgebende Handlung, bzw. dessen Einheit an, dann sind es die aktiven Verben, die dies ausdrücken. Das aktive Verb zieht bestimmte Elemente zusammen und bringt sie in eine Konstellation, einen Satz. Repräsentiert wird dieses Konstellieren von der propositionalen Relation. Damit ist das kognitive Abbild gemeint, das aus einem Satz wie Ich schreibe einen Text eine Formel macht: schreiben [wer?: ich, was?: Text, wann?: Gegenwart].
Schreiben selbst hat eine Struktur, die bestimmte Möglichkeiten eröffnet, viele aber verschließt. Wer schreibt, der singt nicht, schwimmt nicht, bellt nicht, kocht nicht. Schreiben ist eine vage Einheit, die Variationen zulässt, aber keine Beliebigkeiten. Diese Variationen werden darin ausgedrückt, dass die propositionale Relation verschiedene Möglichkeiten bietet, aber nicht unendlich viele. Ich kann sinnvoll sagen: Ich schreibe ein Buch; Rolf schreibt für Tanja; Die Mönche schreiben täglich; und so fort. Ich kann aber nicht sinnvoll sagen: Ich schreibe einen Baum; Rolf schreibt für Blumen; Die Häuser schreiben täglich; und so fort.

Texte bestehen nun aus solchen propositionalen Relationen. Sie reihen Satz an Satz; und viele Sätze bestehen aus einer oder mehrerer propositionaler Relationen. Da sie vom Autor so vorgegeben werden, sind sie explizit. Diesen expliziten propositionalen Relationen zu folgen, ist eine Form von Lesen.
Andererseits aber kann jeder Leser - und muss es sogar - in einen Text seine eigenen Strukturen einschleifen. Ansonsten reihen sich Sätze aneinander und ergeben keinen größeren Zusammenhang. Neben den expliziten propositionalen Relationen muss es also implizite geben: implizit, was nicht heißt, dass sie nicht expliziert werden können. Jede Zusammenfassung eines Textes, jede Interpretation macht nichts anderes. Sie liefert Zusammenhänge, die Sinn machen.

Sinnentnehmendes Lesen ist deshalb vor allem nicht das Erfassen expliziter propositionaler Relationen, sondern dem Nachfolgen von impliziten propositionalen Relationen. Weitergehend muss damit auch deren Ordnen bezeichnet werden.
Um dies nicht ganz so abstrakt werden zu lassen: Wenn ich Harry Potter lese, mache ich dies Satz für Satz. Aber die Sätze liefern mir bestimmte Elemente, aus denen ich Verbindungen über den Satz hinaus herstelle. Dazu gehören zum Beispiel Personen und Orte. Dadurch kann ich aus Harry Potter eine ständig wiederkehrende Figur machen, die sich als roter Faden durch die Harry-Potter-Romane zieht. Als Leser jongliere ich mit zahlreichen solcher Elemente: dem Ligusterweg und den Dursleys, den Eulen und der Post, Hagrid und dem verbotenen Wald, und so weiter und so fort. Diese Elemente sind konventionelle Ordnungsfaktoren. Natürlich kann ich auch weniger konventionelle Ordnungsfaktoren nehmen, wie zum Beispiel Szenen, Textoide oder Textfiguren. Ganz ins Blaue hinausdehnen kann man das allerdings nicht: ein wenig Konventionalität muss schon sein.

Sinnentnehmendes Lesen ist also:
  • das Konstellieren von expliziten propositionalen Relationen;
  • das Explizieren von impliziten propositionalen Relationen;
  • das Ordnen von propositionalen Relationen entlang von Ordnungsfaktoren.
Die Förderung von sinnentnehmendem Lesen lässt sich dann folgendermaßen abstufen:
  1. das Ermöglichen des Lesens (mechanische Lesefähigkeit);
  2. das Erfassen von je einem Satz in seiner Konstellation, bzw. das Übersetzen eines Satzes in eine propositionale Relation (basale Lesefähigkeit);
  3. das Erfassen von impliziten propositionalen Relationen entlang gewöhnlicher Ordnungen, wie zum Beispiel Personen, Orten, Ereignissen (konventionelle Lesefähigkeit);
  4. das Erfassen von impliziten propositionalen Relationen entlang von möglichen Ordnungen, wie zum Beispiel Ausdruck, Stilmittel, Atmosphären (kontingente Lesefähigkeit);
  5. das Systematisieren dieses Erfassens, angefangen von dem Erfassen von Sätzen, zu den konventionellen und von dort aus zu den möglichen Ordnungen (systematische Lesefähigkeit);
  6. schließlich das Einbinden dieser verschiedenen Lesefähigkeiten in die eigene Kultur und die eigenen Lebensumstände (reflektierende Lesefähigkeit).
Was nun jene andere Einheit eines Textes angeht, die Differenz Element/Form, so bildet diese eine notwendige Prothese für die Einheit Sinn/Struktur. Die Transmedialisierung als das handelnde Übersetzen zum Beispiel eines Textes in eine andere Form ist in seiner ganzen Art ein Hilfsmittel des sinnentnehmenden Lesens, nicht aber dieses selbst.
Trotzdem ist es wichtig. Ob die Schüler nun Bilder zu Geschichten malen, diese Geschichte zusammenfassen, eine Person aus einer Geschichte beschreiben oder das Ganze in ein Theaterstück umsetzen: stets wird aus den Zusammenhängen eine andere Form in einer anderen Materialität destilliert. Die Transmedialisierung macht die Übersetzung wahrnehmbar, macht das Lesen wahrnehmbar. Gelesen wird, indem geschrieben wird; Lesen und Schreiben hier im weitesten Sinne als Wahrnehmen und Handeln genommen.
An diesem Punkt kann man dann gut mit Roland Barthes sprechen:
Wie soll man den Wert eines Textes darlegen? Wie soll man eine erste Typologie der Texte erstellen? Die grundlegende Bewertung von Texten kann nicht von der Wissenschaft kommen, denn die Wissenschaft bewertet nicht, noch kann sie [die Bewertung] von der Ideologie kommen, denn der ideologische Wert eines Textes (sei dieser moralisch, ästhetisch, politisch, begrifflich) ist ein repräsentierender Wert, kein produzierender (die Ideologie "spiegelt", sie erarbeitet nicht).
Unsere Bewertung kann an nichts anderes als an eine Praxis gebunden sein, und diese Praxis ist eine Praxis des Schreibens. Sie ist auf der einen Seite das, was zu schreiben möglich ist, auf der anderen Seite das, was nicht mehr zu schreiben möglich ist: das, was in der Tätigkeit des Schriftstellers liegt und dem, was diese Tätigkeit verlassen hat: welchen Texten erlaube ich, geschrieben (beschrieben) zu werden, begehrt zu sein, einzudringen in diese Welt, die meine ist?
Was die Bewertung findet, ist folgender Wert: das, was heute geschrieben werden kann: das Schreibbare. Warum ist das Schreibbare unser Wert? Weil das Einspielen der literarischen Arbeit (der Literatur als Arbeit) aus dem Leser etwas macht: nicht mehr den Konsumenten eines Textes, sondern den Erschaffer von Texten.
Unsere Literatur ist durch die unbarmherzige Kluft einer literarischen Institution gezeichnet, zwischen den Herstellern und den Nutzern von Texten, dem Eigentümer und dem Kunden, dem Autor und seinem Leser. Dieser Leser also taucht in eine Art Müßiggang , in eine Objektlosigkeit, und, ernst gesprochen: anstelle des eigenen Spiels, frei in die Verzauberung durch die Signifikanten einzutreten, in die Wollust des Schreibens, bleibt diesem Leser nichts als die armselige Freiheit, einen Text anzunehmen oder zu verwerfen: das Lesen ist nicht mehr als ein Entscheid.
Angesichts des schreibbaren Textes tischt sich sein Gegenteil auf, als negativer, reaktiver Wert, als Gegenwert: das, was gelesen, aber nicht geschrieben werden kann: das Lesbare. Wir nennen alle lesbaren Texte klassisch. (Roland Barthes: S/Z, p. 10 - Übersetzung und Absätze von mir)
Das Schreibbare also, dasjenige, was sich im Text umsetzen und übersetzen lässt; gleich welcher Art geschrieben wird, ob mit dem Stift, der Zeichenfeder oder dem Pinsel, ob mit dem Körper, ob als neuer Text, als Zeichnung oder Bild, als Theater oder Tanz: im Schreibbaren eignet sich der Mensch die Produktionsweisen an, macht aus dem Text ein Objekt, das sich bearbeiten lässt.
Letzten Endes ist sinnentnehmendes Lesen also das: an einem Text zu arbeiten, ihn umzugestalten, ihn zu verändern, zu parodieren, ihn zu verwittern nach der eigenen, inneren Klimalage: der tiefsten Lust an Zerstörung und Schöpfung.

Verriss

Meine letzte Rezension ist erschienen. Es handelt sich um diesen einen Liebesroman, der in der letzten Zeit mein Lesevergnügen heftigst beschränkt hat. HIER.

Andere meiner Verrisse finden sich zu einem Horrorfilm, einem Horrorbuch und - etwas netter - zu zwei Fantasyromanen: ein Buch von Kai Meyer, und ein Buch von Monika Felten.

15.03.2008

Alice und das Moorhuhnsyndrom

Ich habe es geschafft: an meiner Arbeitsstelle liegen die ersten Bücher von Alice herum. Ich hatte zwar den Kollegen angeboten, ihnen meine auszuleihen, aber nachdem das erste von einer Kollegin gekauft war, folgte das zweite. Sogar unsere Chefin ist schon aufmerksam geworden, denn Alice erzeugt so etwas wie ein Moorhuhnsyndrom: die Kolleginnen arbeiten nicht. Sie lesen. Recht haben sie.

Mittlerweile ist auch meine Rezension von Schlechte Karten auf media-mania veröffentlicht. HIER.

Gerade habe ich vier Bücher von Donna Leon gelesen, die ersten vier Fälle von Commissario Brunetti. Die sind leider etwas schwerfällig. Mal schreibt Leon zu wenig, mal zu viel. Beschreiben will eben gelernt sein. Und zu beschreiben, dass die Geschichte in Gang kommt, der Haken gesetzt wird und der Leser angespannt auf die nächsten Schritte wartet, ist noch schwerer. Nein, leicht fällt das der Autorin nicht. - Dazu später mal mehr.

Faszinierend finde ich jedenfalls, dass die Leon-Krimis und die Camilleri-Krimis mit einem ähnlichen Figurenarsenal arbeiten. Während aber Leon eher einen romatic suspense abliefert, fällt die ganze Sache bei Camilleri slapstickartig aus. - Auch hier dürfte sich ein genauerer Vergleich lohnen.

Und wo wir bei romatic suspense sind: vor drei Tagen habe ich nach einem langen und qualvollen Lesen endlich Erica Spindlers Roman Entscheidung einer Sommernacht abgeschlossen. Das Buch hat mir vom Stil so wenig bis garnicht zugesagt, dass ich nur abschnittsweise lesen konnte. Stellenweise musste ich sogar aufhören, so elend war mir zumute.
Dabei ist es garnicht die Geschichte, die diesen Text so schlecht macht, sondern dass Spindler genau die Abschnitte der Geschichte aufbläht, die sich in ewiger Wiederholung um die Protagonisten drehen. Hätte sie das Drumherum ausgebaut und dem anderen Hauptfaden der Erzählung die ihm zustehende Hälfte gegönnt, statt höchsten ein Zehntel, dann wäre vielleicht ein besserer Roman entstanden.
Liebesromane scheinen sich heute generell um zwei Menschen und selten um mehr zu drehen. Man kann aber genauso generell sagen, dass zwei Menschen für einen Roman nicht genügen, um diesem Tiefe zu geben. Die Figuren werden flach und langweilig, die Verwicklungen werden wie Kaninchen aus dem Hut gezaubert, nur weiß man als Leser, dass dieser Hut eine Notmaßnahme des Autors ist. Kurz: man fühlt sich veralbert.
Das andere Problem von Liebesromanen ist, dass sie inhaltlich zur Sexbesessenheit neigen, stilistisch aber zur Prüderie: wie sonst sollte man sich erklären, dass der Sex in solch einem Schwulst an indirekten Umschreibungen geschildert wird? Jedenfalls waren das dann die Stellen, an denen ich mir schnell etwas anderes zu lesen gesucht habe.

Meine Rezension von einem anderen Liebesroman ist HIER zu finden.

Mit großem Vergnügen lese ich die Romane Fontanes. Wer es elektronisch mag, findet sie HIER.

Lieblingsblog

Ein neuer Lieblingsblog bereitet mit gerade viel Freude: Zelle mit Ausblick. Sehr lesenswert.

Wundervoll ist auch der Blog von Frau H., mit viel seltsamer, schöner, seltsam schöner und schön seltsamer Musik.

Ganz und gar bizarr, aber berauschend sind die Texte von Frozenturtle.

11.03.2008

Zum Schluss

Fragt mich eine Kollegin: Schreibt man Mannheim mit einem oder mit zwei M?
Sage ich: Kommt drauf an, ob du's richtig oder falsch schreiben willst.

Und wo wir sowieso gerade bei Intoleranz sind ...

In Friedrichshain / Berlin hat ein Acarkan E. eine Frau vor ihrem Freund begrapscht. Als dieser wütend wurde, hat der junge Mann dem Freund mit einem Messer in den Kopf gestochen.
Angesichts solcher Taten ist es fast schon wohltuend, dass das Epitheton Türke weggelassen wird. Lesen werden es die Leute trotzdem. Der Name ordnet ja sehr eindeutig zu. Schade allerdings, dass in diesem Fall nie über jene türkischen Mitbürger berichtet wird, die sich seit Jahren unter schwierigen Bedingungen und am Rande der Armut herumschlagen und der deutschen Gesellschaft so wenig wie möglich zur Last fallen wollen.
Erst heute habe ich mit einer Frau telefoniert, deren Mann nach einer kriminellen Karriere die Familie verlassen hat (insofern noch kein gutes Beispiel). Sie hat jetzt, obwohl sie mir sehr gebildet erschien, einen Job als Küchenhilfe, erzieht ihre beiden Kinder alleine. Die ältere Tochter, sechzehn, will Jura studieren. Ziel: Richterin, um die Kriminalität zu senken (na, das ist wohl etwas naiv).
Sage ich zu der Frau (aus Hamburg): Na, nicht, dass Ihre Tochter den Schill nachahmt.
Lacht sie und sagt: Ne, das ist doch ein Riesen..., ach, so was sagt man nicht.
Auf türkisch heißt das dann wortwörtlich göt herif.

Übrigens hat die Frau noch keine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis. Eine ziemliche Schande.

Jesus in der Toilette

Vor dem obersten Gerichtshof in Kalifornien wird demnächst entschieden, ob das Verbot homosexueller Ehen verfassungswidrig ist.
Bei einer Demonstration gegen die gleichgeschlechtliche Ehe plakatierte ein wohl bibelfester Mann "Jesus is the standard - Truth not tolerance". Erstens dürfte man Jesus wohl kaum als Standard nehmen können, denn wenn alle Christen der fleischlichen Liebe abschwören, wäre es um die Christenheit geschehen. Zweitens steht in der Bibel lediglich, es solle kein Mann beim anderen liegen. Angesichts der Enge von Toilettenkabinen dürfte das sowieso schwer fallen.

Schill out!

Ach, was muss man oft von bösen / Buben hören oder lesen, / wie zum Beispiel hier von diesen, ...
Dem Roland Schill nämlich, ehemaliger Innensenator von Hamburg und jetzt wohnhaft mit Richterpension in Rio de Janeiro.
A guades Fleckerl hat er sich da ausg'sucht, der Roland, mag er doch, wie er jetzt auf einem unautorisierten Video bekanntgab, keine Schwarzen, weil er sie nicht möge. Und da haben wir ja Glück, dass er so in Rio de Janeiro wohnt, wo es bestimmt nur so von Weißen wimmelt und kein Schwarzer in Sicht ist. Wunderbar ist dann auch, dass eine Hure nur acht bis zehn Euro kostet; auch die sind sicherlich sehr weiß, wie der Schnee, und dass man sich hier so richtig als Saubermann fühlen darf, ist nur legitim.
Was gibt es noch zu berichten? Ach ja, da gab es ja noch die Anklage wegen Kokain-Konsums. Die war ja bekanntlich negativ, bei dem Herrn Schill. Doch was müssen wir auf dem Video hören oder lesen? Na, war ja gefälscht, das Ergebnis. War positiv, nur eben dann doch nicht mehr, als man vor die Presse trat. Sauber!
Gestürzt ist dann der gute Herr Schill nicht über Kokain (auch weiß!), nicht über verurteilte Schwarze, und nicht über nicht verurteilte Polizisten, sondern darüber, dass er Ole von Beust, den Bürgermeister von Hamburg, mit dessen Homosexualität zu erpressen versuchte. Wie er das wohl gemacht hat? Vermutlich ist er zu dem Ole hingegangen und hat gesagt: Du, wenn du jetzt nicht sofort was machst, was ich dir sage, dann werde ich auch schwul. - Und da hat sich der Ole so bedroht gefühlt, dass er den Roland über die Latte springen ließ, äh ... Klinge.

10.03.2008

Metaphern, überall Metaphern

Was man sich nicht alles für das Rezensionsportal antut. Zum Beispiel Liebesromane.
Da lese ich gerade einen Liebesroman, der sich an den anzüglichen Stellen in solch abstrusen Metaphern ergeht, dass man sich nur schütteln kann. Vorzugsweise werden die Metaphern aus dem Bereich der Vulkanologie (Heiße Liebesglut floss durch ihre Adern.), der Geologie und Mechanik (Er tastete sich zu ihrer Liebesgrotte vor und fand den richtigen Schalter.) oder der Kriegsführung (Mit einem Stöhnen eroberte er ihren Mund.)
Metaphern hätte ich aber auch gerne aus folgenden Bereichen gehabt: der Ornithologie, der Phrenologie und der Philatelie; und vielleicht noch der Dialektologie, der Bakteriologie und der Populationsökologie. Das hätte die Liebesszenen erst so richtig aufgepeppt.

Das gesprenkelte Band (und anderes zu Sherlock Holmes)

So heißt eine der besseren Erzählungen von Conan Doyle. Heute habe ich es Cedric vorgelesen und er fand sie überaus spannend.
Ich erinnere mich, dass wir sie im Englischunterricht behandelt haben. Da war ich weniger begeistert. Das lag aber vermutlich auch daran, dass ich die Geschichte nicht verstanden habe.

Übrigens ist Doyle noch ein Schriftsteller von altem Schrot und Korn. Das heißt: er schreibt ziemlich lange Sätze.
Wenn ich meine Notizen zu mehr als siebzig Fällen überfliege, in denen ich während der letzten acht Jahre die Methoden meines Freundes Sherlock Holmes studiert habe, so stelle ich fest, dass viele tragisch waren, einige komisch, eine große Anzahl schlichtweg seltsam, aber keine gewöhnlich; da er nämlich eher aus Liebe zu seiner Kunst arbeitete, denn um Reichtum zu erwerben, lehnte er es stets ab, Teil an einer Nachforschung zu haben, die nicht in den Bereich des Ungewöhnlichen oder gar des Phantastischen fiel. (Das gesprenkelte Band)
Lachen musste ich, als ich folgende Sätze bei Doyle fand:
Kein Franzose oder Russe könnte das geschrieben haben. Nur der Deutsche ist seinen Verben gegenüber so unhöflich. (Ein Skandal in Böhmen)
Holmes Lieblingswort ist deduzieren. Die Deduktion leitet aus einem Phänomen oder einer Menge an Phänomenen ein Gesetz oder einer Zusammenhang ab. Nun gibt es natürlich Zusammenhänge, die stark wiederholend sind, und dazu gehört zum Beispiel der Kreislauf zwischen Füchsen und Kaninchen. Wenn die Kaninchen sich stark vermehren, vermehren sich auch die Füchse rasch, denn sie finden genügend Futter. Dezimiert sich dann die Zahl der Kaninchen wieder, werden auch die Füchse wieder, wodurch ... und so weiter.
Wie aber kann man aus einem staubigen Hut deduzieren, dass die Ehefrau in einem schlechten Verhältnis zu ihrem Manne, dem Hutträger, steht? Eigentlich garnicht. Holmes macht es dennoch. Eco hat recht, wenn er diese Art der Schlussfolgerung eine Abduktion nennt. Eine Abduktion ist so etwas wie eine gewagte Deduktion (U. Eco: Die Grenzen der Interpretation).

Abduktionen sind eine feine Sache. Sie sind dadurch, dass sie so unscharf sind - denn was soll schon gewagt anderes heißen? -, hervorragend geeignet, um auch Verbindungen zwischen allen möglichen Textphänomenen zu formulieren. So bekommt man einige hübsche Modelle anhand einiger seltsamer Argumentationen. Merke: um einen Kristall zu erschaffen, muss man erst viel Rauch erzeugen. (Die Abduktion beschäftigt mich schon seit einer Woche. Ein sehr ähnliches Phänomen, wenn nicht das gleiche, hat Roland Barthes mit dem Begriff des Enthymems beschrieben. Möchte man Deleuze folgen, dann ist die Abduktion eine allgemeine Form des Schließens, nomadisch und polyvok und transversal; im Gegensatz dazu extrapoliert der Syllogismus ein transzendentes Objekt, so wie im berühmten Syllogismus um Sokrates das transzendente Objekt Sterblichkeit. Dieser Syllogismus geht so: Alle Menschen sind sterblich; Sokrates ist ein Mensch; Sokrates ist sterblich. - Der Syllogismus geht davon aus, dass der Mensch vollständig in seinen Körper verbannt ist; jedoch ist der Mensch immer auch durch die Phantome fremder Meinungen geprägt. Jeder stirbt auf seine Weise, und überlebt in dieser oder in einer anderen Hinsicht als Gespenst. Sokrates jedenfalls dürfte das berühmteste Gespenst der Philosophie sein.)

08.03.2008

Verankerung (nochmal)

Für alle, die sich jetzt erst dazu schalten: die Verankerung ist das Gewöhnlich-machen eines (Text-)Elementes. Wenn Jolly über das Wasser laufen kann (in Die Wellenreiter von Kai Meyer), dann muss nicht erklärt werden, warum sie über das Wasser laufen kann. Es genügt, diese außergewöhnliche Fähigkeit mit der Umgebung zu verbinden. Die ausführlichere Darstellung findet ihr HIER.
Nun habe ich dieses Phänomen auch das Trivialisieren genannt. Denn durch seinen Platz in der Umwelt bekommt ein solches Phänomen seinen Halt, seinen Ort, seinen Sinn.

Schauen wir uns ein anderes Beispiel an. In seiner Kurzgeschichte Der blaue Karfunkel lässt Conan Doyle seinen Sherlock Holmes die Spuren eines Hutes lesen. Erst später spielt der Hut dann in einem Kriminalfall eine Rolle.
Sehen wir uns aber den Beginn an:
In der Absicht, ihm schöne Festtage zu wünschen, hatte ich meinen Freund, Sherlock Holmes am zweiten Morgen nach Weihnachten besucht. Angetan mit einem purpurroten Schlafrock lag er müßig auf dem Sofa; rechter Hand befand sich ein Pfeifenständer in seiner Reichweite, und gleich daneben lag ein Stapel offensichtlich frisch gelesener, zerknitterter Morgenzeitungen.
Zwei weitere, ähnlich lange Sätze führen die Beschreibung weiter aus.
Hier haben wir eine klassische Trivialisierung: Holmes ruht zwischen seinen Gegenständen, die allesamt zu ihm passen und auf seine Tätigkeit als Detektiv hinweisen. In keiner Weise wird erklärt, warum er gerade so müßig auf seinem Sofa liegt. Erst später findet sich ein Motiv: er denkt nach.
Nun ist die Geschichte so aufgebaut, dass Holmes zunächst seinem Freund Watson ein Beispiel der Deduktion gibt. Das heißt, er stellt die Spuren am Hut vor und zieht daraus Schlüsse. Dies ist natürlich auch ein erzählerischer Trick. Indem Holmes sich vor Watson aufspielt, führt er eine der Personen in die Geschichte ein, die wir Leser noch nicht kennen.
Natürlich ist es auf den ersten Blick klar, dass der Mann überaus intellektuell veranlagt ist, und weiter, dass er vor drei Jahren ganz wohlhabend war, wenn er auch nun schlechte Zeiten durchmacht. Er besaß Weitblick, hat davon aber heute weniger als früher, was auf einen moralischen Rückschritt deutet; dieser wiederum, wenn wir ihn zusammen mit dem Niedergang seiner Lebensumstände betrachten, scheint darauf hinzuweisen, dass bei ihm schlimme Einflüsse am Werk sind - vermutlich Alkohol.
Auch dies ist eine Trivialisierung. So sensationslustig diese Deutung durch Holmes ist, sie verankert den ungewöhnlichen Hut in seiner Umgebung.

Nun ist der Hut nicht der einzige Gegenstand, der an diesem Tag zu Holmes gekommen ist. Peterson, ein Dienstmann, hat den Hut und eine Gans in der Nacht aufgegabelt, und da er die Gans zurückbringen möchte, bringt er Holmes den Hut, um daraus den Besitzer abzuleiten.
Dann kommt die Wende in der Geschichte. Zunächst weiß Holmes nicht, wer der Besitzer ist. Deshalb empfiehlt er Peterson, die Gans zu essen, bevor sie schlecht wird. Als dieser aber die Gans brät und anschneidet, fällt aus dem Hals ein lupenreiner Diamant, eben jener blaue Karfunkel, nach dem die Geschichte benannt ist. Dieser Diamant wurde kurz zuvor gestohlen. Jetzt interessiert sich Holmes natürlich dafür, wie der Karfunkel aus dem Hotelzimmer seiner Besitzerin in den Hals der Gans kommt. - Und hier ist der Besitzer des Hutes gefragt.
Jedenfalls wird über eine typische Detektivmethode nicht nur der Hut in eine soziale Situation eingefügt, sondern zugleich die Person, der Hutträger angekündigt. Und damit ist das Sprungbrett für die Verbrecherjagd vorbereitet. Wenn nun der Mann tatsächlich auftaucht, um seinen Hut zurückzuholen, muss er nur noch Holmes Annahmen bestätigen.

Es ist übrigens naheliegend, dass die Trivialisierung oft über Metonymien läuft.
Sehen wir uns eine solche an:
... ist auf den ersten Blick klar, dass der Mann überaus intellektuell veranlagt ist. ...
und als Begründung gibt Holmes an:
"Das ist eine Frage der Fassungsvermögens", sagte er. "Ein Mann mit einem so großen Kopf muss etwas darin haben."
Diese Begründung mutet natürlich heute lächerlich an. Trotzdem: sie zeigt, dass es früher üblicher war, von der (körperlichen) Verpackung auf den (psychischen) Inhalt zu schließen. Großer Kopf = intellektuelle Veranlagung. Metonymien ersetzen das eigentliche Zeichen, den Hut mit dem großen Fassungsvermögen, durch eine nachbarschaftliche Bedeutung, den großen Kopf in diesem Fall. Genauer: Holmes stellt die Metonymie so dar, als sei sie ein Argument.
Keinesfalls ist damit wissenschaftlich diese Argumentation bewiesen. Sie beruht lediglich auf Nachbarschaften, die gewöhnlicherweise so denkbar sind. Man könnte nämlich auch ableiten, dass der Hutträger einen sehr kleinen Schädel hat, aber einen Turban trägt. Dann müsste Holmes schlussfolgern, dass es sich um einen eher dummen indischen Prinzen handelt, der zudem sehr schamhaft ist, weil er seinen Turban mit einem Hut bedeckt.
Wie dem auch sei. Der Hut und sein Träger bekommen ihre Umweltbezüge und werden dem Leser so vertraut. Auch die Kriminalgeschichte hat damit einige Hinweise zugrunde gelegt bekommen, die den ungewöhnlichen Vorgang nachvollziehbarer werden lassen.

Informationsvergabe
Im Prinzip ersetzen Begriffe wie Trivialisieren und Verankerung den Begriff der Informationsvergabe. Dieser wird öfter in Schreibwerkstätten verwendet und bezeichnet die Informationen, die der Autor dem Leser zukommen lässt. Nun hat dieser Begriff aber einen großen Fehler: er ist sehr abstrakt. Man hat den Eindruck, als müsse man einfach eine Information nach der anderen herausfließen lassen. Aber wie diese Kette aufgebaut sein muss, davon ist selten die Rede.
Verankerung dagegen steht zwar auch für die Informationsvergabe, aber hier wird sehr deutlich auf eine Information in einem Gefüge, das heißt einem Text angespielt. Und genau das macht eine Information ja aus: sie greift in ein bestehendes Geflecht ein.
Natürlich kann man die Begriffe wählen, wie man will.

Hier noch einige schöne Trivialisierungen:
Es war spät abends, als K. ankam. Das Dorf lag in tiefem Schnee. Vom Schlossberg war nichts zu sehen, Nebel und Finsternis umgaben ihn, auch nicht der schwächste Lichtschein deutete das große Schloss an. Lange stand K. auf der Holzbrücke, die von der Landstraße zum Dorf führte, und blickte in die scheinbare Leere empor. (Franz Kafka: Das Schloss)
Im ganzen entsprach das Schloss, wie es sich hier von der Ferne zeigte, K.s Erwartungen. Es war weder eine alte Ritterburg noch ein neuer Prunkbau, sondern eine ausgedehnte Anlage, die aus wenigen zweistöckigen, aber aus vielen eng aneinander stehenden niedrigen Bauten bestand; hätte man nicht gewusst, dass es ein Schloss sei, hätte man es für ein Städtchen halten können. Nur einen Turm sah K., ob er zu einem Wohngebäude oder einer Kirche gehörte, war nicht zu erkennen. Schwärme von Krähen umkreisten ihn. (ebd.)
Er war ein gut gewachsener Bursche mit tiefschwarzem, ziemlich krausem Haar, gesunden Zähnen und einer Haut, um die ihn seine Schwestern beneideten, und er hatte stets ein kindlich-heiteres Lächeln bereit. Er war flink auf den Beinen, tat ordentlich seine Arbeit, und er liebte seine Schwestern, die ihm schön und weltstädtisch vorkamen; er liebte Madrid, das für ihn immer noch etwas Phantasti­sches war, und er liebte seine Arbeit, die er im hellen Lampenlicht tat und die ihm - mit sauberer Tischwäsche, Abendanzug und ausreichendem Essen in der Küche ­- romantisch schön schien. (Ernest Hemingway: Die Hauptstadt der Welt)
Die Turmuhren auf dem Gensdarmenmarkt schlugen elf, als die Gäste der Frau von Carayon auf die Behrenstraße hinaustraten und nach links einbiegend auf die Linden zuschritten. Der Mond hatte sich verschleiert, und die Regenfeuchte, die bereits in der Luft lag und auf Wetterumschlag deutete, tat allen wohl. An der Ecke der Linden empfahl sich Schach, allerhand Dienstliches vorschützend, während Alvensleben, Bülow und Sander übereinkamen, noch eine Stunde zu plaudern.
»Aber wo?« fragte Bülow, der im ganzen nicht wählerisch war, aber doch einen Abscheu gegen Lokale hatte, darin ihm »Aufpasser und Kellner die Kehle zuschnürten«.
»Aber wo?« wiederholte Sander. »Sieh, das Gute liegt so nah«, und wies dabei auf einen Eckladen, über dem in mäßig großen Buchstaben zu lesen stand: Italiener-, Wein- und Delikatessenhandlung von Sala Tarone. (Theodor Fontane: Schach von Wuthenow)
Ein Telefon läutete in der Dunkelheit. Nachdem es dreimal geläutet hatte, knarrten Bettfedern, Finger tasteten auf Holz umher, etwas Kleines, Hartes schlug dumpf auf einen Teppich­boden, Bettfedern knarrten erneut, und die Stimme eines Man­nes ertönte:
»Hallo ... Ja, am Apparat ... Tot? ... ja ... Fünfzehn Minu­ten. Danke.«
Ein Schalter klickte, und eine weiße Schale, die an drei gold­glänzenden Ketten von der Deckenmitte herabhing, füllte das Zimmer mit Licht. Spade, barfuß und in grün-weiß kariertem Schlafanzug, saß auf seiner Bettkante. Er starrte finster das Telefon auf dem Tisch an, während seine Hände nach einem Päckchen Zigarettenpapier und einem Beutel mit Bull-Durham­-Tabak griffen, die daneben lagen. (Dashiell Hammett: Der Malteser Falke)
Man sieht also, dass Trivialisierungen oft ganz gewöhnliche Beschreibungen sind. Während Beschreibung aber die Form bezeichnet, wird mit Trivialisierung die Funktion für den Leser in den Vordergrund gestellt, mit Verankerung die Tätigkeit des Schriftstellers.

07.03.2008

Alice Gabathuler: Schlechte Karten

Seit einigen Tagen habe ich Alices zweites Buch Schlechte Karten fertig gelesen. Wie das erste Buch ist es hervorragend. Was ich an Alice besonders schätze: man verliert als Leser trotz zahlreicher Verwicklungen nicht die Orientierung.
Gerade habe ich wieder in der Bibliothek gestöbert und mir einen deutschen Autoren herausgegriffen (Name habe ich vergessen). Die Szenen funktionieren deshalb nicht, weil sie schlecht voneinander abgegrenzt sind. Das macht das Lesen mühsam. Zum einen, weil man sich ständig fragt, wo sich die Personen gerade befinden, zum anderen, weil man nicht genau weiß, welche Motivation die Personen treibt. Wird zudem bei der Motivation viel im Text behauptet, aber wenig szenisch dramatisiert, ist diese Motivation immer mal wieder genau gegenteilig zu dem, was eine Seite vorher stand, dann hat man nur noch ein heilloses Durcheinander. Und solche Bücher liest man nicht.
Nun, Alice zeigt, dass man einen komplexen Plot an den Mann oder den Jugendlichen bringen kann. Wer sich ihr Buch genauer ansieht, wird feststellen, dass die Geschichte Kernpunkte systematisch wiederholt. Wiederholt, aber immer leicht variiert, und die Wiederholung stützt sich meist so auf das erste Mal, dass das zweite Mal ohne Erläuterungen von Seiten des Autors kommt.

Erläuternde und dramatisierende Szenen

Man kann hier so etwas wie eine Formel aufstellen. Die erste Szene hat immer mehrere Einsprengsel, in denen sich der Autor in den Vordergrund schiebt. Die zweite, wiederholende Szene lässt diese Einsprengsel weg.
Hier sage ich übrigens ganz bewusst Einsprengsel. Solche Autorenkommentare sind wie kleine Splitter eines helleren Steins in einer kompakten Masse eines dunklen Felses. Würden sich die Autorenkommentare in den Vordergrund schieben, hätte man eine Psychostudie, einen sozialpädagogischen Fall, und meist einen vollkommen schwachen und unintelligiblen dazu.

Um ein Beispiel aus Schlechte Karten zu geben:
Jay, die Hauptperson, hat eine alkoholkranke Mutter. In der ersten Szene, in der diese Mutter auftaucht, "zoomt" die Autorin von außen an die Küchenszene heran:
Jays Oberschenkel fühlten sich taub an und als er versuchte, seine Finger zu bewegen, gehorchten sie ihm nicht. Total durchgefroren erreichte er die Sackgasse, an deren Ende er mit seiner Mutter und seinem Bruder wohnte. (19)
Hier kommt ein erstes Zwischenspiel. Der Nachbar macht Jay dumm an, weil Jays Mutter den Müll nicht ordnungsgemäß abstellt. Damit wird, ohne ein Wort über den Zustand der Mutter zu verlieren, mindestens eines gesagt: die Mutter ist unordentlich, schlampig. - Und hier haben wir gleich einen weiteren narrativen Trick. Es gibt zwei Arten, in Geschichten zu "zoomen". Die eine führt über verschiedene Orte zum Kernort des Geschehens, wie hier, wo die "Kamera" von der Sackgasse über den Hausflur in die Küche fährt. Es gibt aber noch eine andere Art des Zoomens, die über Andeutungen und kleine, vorbereitende Szenen zur Kernszene kommt. Da wir schon vorher wissen, dass Jay ein Problemjugendlicher ist, haben wir damit auch perspektivisch eine erste Einstellung auf die Mutter. Hier stellt der Streit mit Gerlacher eine Zwischenstation dar. Jay ist nicht einfach so schwierig, er hat ein schwieriges Elternhaus. Erst wenn diese knappe Einstellung vorüber ist, schwenkt die Autorin zu der Mutter selbst.
Ein Vorteil dieses Zoomens, dieses doppelten Zoomens ist, dass es den Leser aus seinem vertrauten Bereich in eine fremde Welt holen kann, und dass es Anlässe bietet, das Ganze szenisch zu dramatisieren. Wer sich Filme ansieht, wird genau dies immer wieder finden. Man nehme den Beginn des Weißen Hai. Von der Strandparty aus führt uns das Geschehens ans Meer, und dort sofort in die Konfrontation mit dem Horror. Horrorfilme arbeiten gerne mit Schockeffekten, und damit überspringen sie gerne Szenen, die Krimis und Thriller ausführlicher behandeln. Aber auch Horrorfilme bauen gerne eine Idylle auf, die sie dann lustvoll zerstören. Man sehe sich zum Beispiel Alien vs. Predator II an, oder die ganzen Horrorfilme aus den achtziger Jahren.
Weiter oben (d. h. hier: unten) habe ich die Verankerung als ein wichtiges Element des Erzählens vorgestellt. Das Zoomen ist im Prinzip nichts anderes, nur dass hier nicht durch Sätze, sondern durch Szenen verankert wird, und dass hier nicht ein einfaches Element sondern ein komplexes Element eingeführt wird.

Kommen wir zum Text zurück:
Sätze wie
Derselbe muffige Geruch, den Jay schon als Kind nicht gemocht hatte, drang in seine Nase. (19)
und
Mit so einer Sache meinte sie die Tankstellenüberfäl­le, die Luca mit seinen Kumpels durchgezogen hatte. Die Sache war aufgeflogen und Luca musste ein paar Monate absitzen. (20)
sind stärkere Wortmeldungen des Autors. Dem Leser werden Hintergrundinformationen gegeben, die atmosphärisch oder erklärend sind, aber nicht direkt die Innenperspektive von Jay wiedergeben. (Fachlich gesehen wird hier vom auktorialen Erzähler innerhalb einer personalen Erzählsituation Gebrauch gemacht. Galt das früher als Pfui, hat die Theorie mittlerweile eingesehen, dass ein rein personaler Erzähler ein Traum - oder eher ein Albtraum - ist.)
Wer Alices Buch liest, wird aber auch sehen, dass diese Wortmeldungen sparsam und pointiert eingesetzt werden. Der unbekannte Autor, den ich in der Bibliothek gelesen habe, hatte sehr eindeutig das Problem, dass er alles auf einmal erzählen wollte. Eine Erzählung ist aber weder eine psychoanalytische Fallstudie, noch ein Enzyklopädie-Artikel.

Es gibt noch eine dritte Wortmeldung der Autorin in dieser Szene:
»Luca ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen«, sagte sie weinerlich. (20)
Hier ist das Adjektiv weinerlich nicht vom Kontext vorbereitet. Psychologisch ist es zwar motiviert; wer alkoholkranke Menschen kennt, kennt auch diese weinerlichen, mitleiderheischenden Sätze. Aber während andere Adjektive zu ihrer Umgebung passen, fällt dieses heraus. - Dieses Beispiel habe ich extra an den Rand gestellt, weil es natürlich zu der Psychologie des Alkoholismus passt und auch ein Licht auf die Seele des Alkoholikers wirft: sie ist wenig mit der Umgebung verknüpft. - Das Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig es ist, mit Adjektiven vorsichtig umzugehen. Denn zahlreiche Adjektive funktionieren wie kleine Kerben, die der Autor in den Fluss des Erzählens schlägt. Man kippt - wenn diese Adjektive zu zahlreich sind - mitten im Satz plötzlich in eine andere Erzählsituation und sofort wieder zurück. Alice nennt diesen Missstand Adjektivitis. Barthes nennt die Adjektive gefräßig (Das Neutrum, 102ff). Auch der Alkoholismus ist ein gefräßiger Zeitgenosse. Man vermeide also das Adjektiv, soweit es geht, vor allem das Adjektiv, das keine sinnliche Qualität (wie rot, kühl, windig, laut) ausdrückt.

Der Rest dieser ersten Szene, die sich von Seite 19 bis Seite 21 erstreckt, bleibt dem szenischen Erzählen treu: hier wird die Wahrnehmung zeitlich abgelichtet und der Autor greift vor allem dadurch ein, dass er alles Unwichtige weglässt.

Die zweite Szene, in der Jays Mutter auftaucht, - von Seite 55 bis Seite 59 - wird vom Autoren nicht mehr kommentiert.
Übrigens gibt es auch hier zwischendrin Textstellen, in denen die Mutter eine Rolle spielt, darunter eine stark zusammenfassende auf Seite 33, und die Szene zwischen Luca und Jay ab Seite 42. Insofern stimmt meine Formel nicht so ganz.
Trotzdem: über Umwege, durch das Heranzoomen und Verankern kann die Geschichte handlungsorientiert bleiben und je stärker diese Verankerung gesetzt ist, umso weniger muss der Autor erläuternd eingreifen und kann sich ganz auf das Ablichten dessen, was ist, konzentrieren.

Betrachtet man sich das Buch in seinem gesamten Aufbau, dann bilden die ersten neun Kapitel - abgesehen von dem ersten Kapitel und den letzten zwei Seiten des neunten Kapitels - eine Abfolge von Verankerungen. Man wird in die Welt von Jay und Sarah eingeführt. Darin finden sich zwar immer wieder Andeutungen des Kommenden, aber die Konflikte der beiden sind Alltagskonflikte. Für eine enorme Spannung genügt das. - Andere Bücher, wie zum Beispiel Die Schattenweberin von Monika Felton, wollen von Anfang an pointierte, höchstdramatische, zentrale Konflikte. Das ist jedoch die beste Art, den Leser vor den Kopf zu stoßen und das Werkzeug lange vor der Zeit abzustumpfen.

Zusammenfassend kann man also folgende Schreibtipps aus Alice Buch ziehen (unter vielen anderen):
1. Man vermeide Autorenkommentare, wo man mit dem Mittel des Zoomens und der szenischen Darstellung arbeiten kann.
2. Man vermeide vor allem unsinnliche Adjektive.
3. Der zentrale Konflikt soll sich aus dem Alltag heraus entwickeln. Dabei kann der Alltag durchaus konfliktreich sein. Diese Alltagskonflikte haben jedoch eine andere Qualität als der Kernkonflikt der Geschichte.
4. Man verankere die Personen hinreichend gut in einem Alltag, der auch dem Leser vertraut ist. Damit gibt man dem Leser und der Geschichte eine Plattform, von der dann die dramatische Situation abspringen kann.

Alice und der Weiße Hai

Im übrigen habe ich nicht ohne Hintergedanken den Film Der weiße Hai zitiert. Wie Schlechte Karten beginnt auch der Weiße Hai mit einem Teaser. Danach zieht sich der Film in seiner Dramatik zurück. Auch Chief Brody - eine der Hauptpersonen - hat einen Alltag, zum Beispiel Hunde, die gefüttert werden müssen (obwohl man diese Hunde kein einziges Mal zu sehen bekommt). Auch dieser Alltag ist konfliktreich und von zahlreichen Personen bestimmt: man sehe nur die Sekretärin an, die nach einem dreiviertel Jahr immer noch nicht auf das Ablagesystem für die Akten achtet, ein zwar banaler Konflikt, aber einer, der ein kleines hübsches Element ist, um diesen Alltag zu charakterisieren.
Oder: Harry Potter und der Stein der Weisen. Hier haben wir das erste Kapitel, rätselhaft und magisch, mit dem langen Weg von Vernon Dursley durch Pulks von feiernden Zauberern und Eulenschauern und seltsamen Katzen auf der Gartenmauer - ein klassischer Zoom; und dann dem ersten "Knall", der Begegnung zwischen McGonagall, Dumbledore und Hagrid. Und was im ersten Kapitel in Kurzform gezeigt wird, wiederholt sich dann im Buch selbst in den nächsten zwei Kapiteln, ein Zoom von der anti-idyllischen Welt der Dursleys, bis mit einem "BOOM BOOM" die Zaubererwelt, in Form von Hagrid, an Harrys Tür klopft. - Harry Potter lässt sich so natürlich nicht mit Schlechte Karten vergleichen. Hier gibt es nur einen schmalen Berührungspunkt. Trotzdem: Verankerung, szenisches Dramatisieren, Zoomen.

Diese Technik habe ich unter einem anderen Gesichtspunkt in meinem kleinen Kommentar zu Der weiße Hai als animistische Erzählstrategie bezeichnet. Linguistisch gesehen spielen hier Metonymien auf der Erzählebene eine große Rolle.

Jetzt habe ich natürlich nur einen Teil geschrieben. Eigentlich wollte ich noch zu typischen Szenen kommen, aber das wird wohl bis heute Abend warten müssen. Ich gehe jetzt duschen und dann zur Arbeit.