07.03.2008

Alice Gabathuler: Schlechte Karten

Seit einigen Tagen habe ich Alices zweites Buch Schlechte Karten fertig gelesen. Wie das erste Buch ist es hervorragend. Was ich an Alice besonders schätze: man verliert als Leser trotz zahlreicher Verwicklungen nicht die Orientierung.
Gerade habe ich wieder in der Bibliothek gestöbert und mir einen deutschen Autoren herausgegriffen (Name habe ich vergessen). Die Szenen funktionieren deshalb nicht, weil sie schlecht voneinander abgegrenzt sind. Das macht das Lesen mühsam. Zum einen, weil man sich ständig fragt, wo sich die Personen gerade befinden, zum anderen, weil man nicht genau weiß, welche Motivation die Personen treibt. Wird zudem bei der Motivation viel im Text behauptet, aber wenig szenisch dramatisiert, ist diese Motivation immer mal wieder genau gegenteilig zu dem, was eine Seite vorher stand, dann hat man nur noch ein heilloses Durcheinander. Und solche Bücher liest man nicht.
Nun, Alice zeigt, dass man einen komplexen Plot an den Mann oder den Jugendlichen bringen kann. Wer sich ihr Buch genauer ansieht, wird feststellen, dass die Geschichte Kernpunkte systematisch wiederholt. Wiederholt, aber immer leicht variiert, und die Wiederholung stützt sich meist so auf das erste Mal, dass das zweite Mal ohne Erläuterungen von Seiten des Autors kommt.

Erläuternde und dramatisierende Szenen

Man kann hier so etwas wie eine Formel aufstellen. Die erste Szene hat immer mehrere Einsprengsel, in denen sich der Autor in den Vordergrund schiebt. Die zweite, wiederholende Szene lässt diese Einsprengsel weg.
Hier sage ich übrigens ganz bewusst Einsprengsel. Solche Autorenkommentare sind wie kleine Splitter eines helleren Steins in einer kompakten Masse eines dunklen Felses. Würden sich die Autorenkommentare in den Vordergrund schieben, hätte man eine Psychostudie, einen sozialpädagogischen Fall, und meist einen vollkommen schwachen und unintelligiblen dazu.

Um ein Beispiel aus Schlechte Karten zu geben:
Jay, die Hauptperson, hat eine alkoholkranke Mutter. In der ersten Szene, in der diese Mutter auftaucht, "zoomt" die Autorin von außen an die Küchenszene heran:
Jays Oberschenkel fühlten sich taub an und als er versuchte, seine Finger zu bewegen, gehorchten sie ihm nicht. Total durchgefroren erreichte er die Sackgasse, an deren Ende er mit seiner Mutter und seinem Bruder wohnte. (19)
Hier kommt ein erstes Zwischenspiel. Der Nachbar macht Jay dumm an, weil Jays Mutter den Müll nicht ordnungsgemäß abstellt. Damit wird, ohne ein Wort über den Zustand der Mutter zu verlieren, mindestens eines gesagt: die Mutter ist unordentlich, schlampig. - Und hier haben wir gleich einen weiteren narrativen Trick. Es gibt zwei Arten, in Geschichten zu "zoomen". Die eine führt über verschiedene Orte zum Kernort des Geschehens, wie hier, wo die "Kamera" von der Sackgasse über den Hausflur in die Küche fährt. Es gibt aber noch eine andere Art des Zoomens, die über Andeutungen und kleine, vorbereitende Szenen zur Kernszene kommt. Da wir schon vorher wissen, dass Jay ein Problemjugendlicher ist, haben wir damit auch perspektivisch eine erste Einstellung auf die Mutter. Hier stellt der Streit mit Gerlacher eine Zwischenstation dar. Jay ist nicht einfach so schwierig, er hat ein schwieriges Elternhaus. Erst wenn diese knappe Einstellung vorüber ist, schwenkt die Autorin zu der Mutter selbst.
Ein Vorteil dieses Zoomens, dieses doppelten Zoomens ist, dass es den Leser aus seinem vertrauten Bereich in eine fremde Welt holen kann, und dass es Anlässe bietet, das Ganze szenisch zu dramatisieren. Wer sich Filme ansieht, wird genau dies immer wieder finden. Man nehme den Beginn des Weißen Hai. Von der Strandparty aus führt uns das Geschehens ans Meer, und dort sofort in die Konfrontation mit dem Horror. Horrorfilme arbeiten gerne mit Schockeffekten, und damit überspringen sie gerne Szenen, die Krimis und Thriller ausführlicher behandeln. Aber auch Horrorfilme bauen gerne eine Idylle auf, die sie dann lustvoll zerstören. Man sehe sich zum Beispiel Alien vs. Predator II an, oder die ganzen Horrorfilme aus den achtziger Jahren.
Weiter oben (d. h. hier: unten) habe ich die Verankerung als ein wichtiges Element des Erzählens vorgestellt. Das Zoomen ist im Prinzip nichts anderes, nur dass hier nicht durch Sätze, sondern durch Szenen verankert wird, und dass hier nicht ein einfaches Element sondern ein komplexes Element eingeführt wird.

Kommen wir zum Text zurück:
Sätze wie
Derselbe muffige Geruch, den Jay schon als Kind nicht gemocht hatte, drang in seine Nase. (19)
und
Mit so einer Sache meinte sie die Tankstellenüberfäl­le, die Luca mit seinen Kumpels durchgezogen hatte. Die Sache war aufgeflogen und Luca musste ein paar Monate absitzen. (20)
sind stärkere Wortmeldungen des Autors. Dem Leser werden Hintergrundinformationen gegeben, die atmosphärisch oder erklärend sind, aber nicht direkt die Innenperspektive von Jay wiedergeben. (Fachlich gesehen wird hier vom auktorialen Erzähler innerhalb einer personalen Erzählsituation Gebrauch gemacht. Galt das früher als Pfui, hat die Theorie mittlerweile eingesehen, dass ein rein personaler Erzähler ein Traum - oder eher ein Albtraum - ist.)
Wer Alices Buch liest, wird aber auch sehen, dass diese Wortmeldungen sparsam und pointiert eingesetzt werden. Der unbekannte Autor, den ich in der Bibliothek gelesen habe, hatte sehr eindeutig das Problem, dass er alles auf einmal erzählen wollte. Eine Erzählung ist aber weder eine psychoanalytische Fallstudie, noch ein Enzyklopädie-Artikel.

Es gibt noch eine dritte Wortmeldung der Autorin in dieser Szene:
»Luca ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen«, sagte sie weinerlich. (20)
Hier ist das Adjektiv weinerlich nicht vom Kontext vorbereitet. Psychologisch ist es zwar motiviert; wer alkoholkranke Menschen kennt, kennt auch diese weinerlichen, mitleiderheischenden Sätze. Aber während andere Adjektive zu ihrer Umgebung passen, fällt dieses heraus. - Dieses Beispiel habe ich extra an den Rand gestellt, weil es natürlich zu der Psychologie des Alkoholismus passt und auch ein Licht auf die Seele des Alkoholikers wirft: sie ist wenig mit der Umgebung verknüpft. - Das Beispiel zeigt aber auch, wie wichtig es ist, mit Adjektiven vorsichtig umzugehen. Denn zahlreiche Adjektive funktionieren wie kleine Kerben, die der Autor in den Fluss des Erzählens schlägt. Man kippt - wenn diese Adjektive zu zahlreich sind - mitten im Satz plötzlich in eine andere Erzählsituation und sofort wieder zurück. Alice nennt diesen Missstand Adjektivitis. Barthes nennt die Adjektive gefräßig (Das Neutrum, 102ff). Auch der Alkoholismus ist ein gefräßiger Zeitgenosse. Man vermeide also das Adjektiv, soweit es geht, vor allem das Adjektiv, das keine sinnliche Qualität (wie rot, kühl, windig, laut) ausdrückt.

Der Rest dieser ersten Szene, die sich von Seite 19 bis Seite 21 erstreckt, bleibt dem szenischen Erzählen treu: hier wird die Wahrnehmung zeitlich abgelichtet und der Autor greift vor allem dadurch ein, dass er alles Unwichtige weglässt.

Die zweite Szene, in der Jays Mutter auftaucht, - von Seite 55 bis Seite 59 - wird vom Autoren nicht mehr kommentiert.
Übrigens gibt es auch hier zwischendrin Textstellen, in denen die Mutter eine Rolle spielt, darunter eine stark zusammenfassende auf Seite 33, und die Szene zwischen Luca und Jay ab Seite 42. Insofern stimmt meine Formel nicht so ganz.
Trotzdem: über Umwege, durch das Heranzoomen und Verankern kann die Geschichte handlungsorientiert bleiben und je stärker diese Verankerung gesetzt ist, umso weniger muss der Autor erläuternd eingreifen und kann sich ganz auf das Ablichten dessen, was ist, konzentrieren.

Betrachtet man sich das Buch in seinem gesamten Aufbau, dann bilden die ersten neun Kapitel - abgesehen von dem ersten Kapitel und den letzten zwei Seiten des neunten Kapitels - eine Abfolge von Verankerungen. Man wird in die Welt von Jay und Sarah eingeführt. Darin finden sich zwar immer wieder Andeutungen des Kommenden, aber die Konflikte der beiden sind Alltagskonflikte. Für eine enorme Spannung genügt das. - Andere Bücher, wie zum Beispiel Die Schattenweberin von Monika Felton, wollen von Anfang an pointierte, höchstdramatische, zentrale Konflikte. Das ist jedoch die beste Art, den Leser vor den Kopf zu stoßen und das Werkzeug lange vor der Zeit abzustumpfen.

Zusammenfassend kann man also folgende Schreibtipps aus Alice Buch ziehen (unter vielen anderen):
1. Man vermeide Autorenkommentare, wo man mit dem Mittel des Zoomens und der szenischen Darstellung arbeiten kann.
2. Man vermeide vor allem unsinnliche Adjektive.
3. Der zentrale Konflikt soll sich aus dem Alltag heraus entwickeln. Dabei kann der Alltag durchaus konfliktreich sein. Diese Alltagskonflikte haben jedoch eine andere Qualität als der Kernkonflikt der Geschichte.
4. Man verankere die Personen hinreichend gut in einem Alltag, der auch dem Leser vertraut ist. Damit gibt man dem Leser und der Geschichte eine Plattform, von der dann die dramatische Situation abspringen kann.

Alice und der Weiße Hai

Im übrigen habe ich nicht ohne Hintergedanken den Film Der weiße Hai zitiert. Wie Schlechte Karten beginnt auch der Weiße Hai mit einem Teaser. Danach zieht sich der Film in seiner Dramatik zurück. Auch Chief Brody - eine der Hauptpersonen - hat einen Alltag, zum Beispiel Hunde, die gefüttert werden müssen (obwohl man diese Hunde kein einziges Mal zu sehen bekommt). Auch dieser Alltag ist konfliktreich und von zahlreichen Personen bestimmt: man sehe nur die Sekretärin an, die nach einem dreiviertel Jahr immer noch nicht auf das Ablagesystem für die Akten achtet, ein zwar banaler Konflikt, aber einer, der ein kleines hübsches Element ist, um diesen Alltag zu charakterisieren.
Oder: Harry Potter und der Stein der Weisen. Hier haben wir das erste Kapitel, rätselhaft und magisch, mit dem langen Weg von Vernon Dursley durch Pulks von feiernden Zauberern und Eulenschauern und seltsamen Katzen auf der Gartenmauer - ein klassischer Zoom; und dann dem ersten "Knall", der Begegnung zwischen McGonagall, Dumbledore und Hagrid. Und was im ersten Kapitel in Kurzform gezeigt wird, wiederholt sich dann im Buch selbst in den nächsten zwei Kapiteln, ein Zoom von der anti-idyllischen Welt der Dursleys, bis mit einem "BOOM BOOM" die Zaubererwelt, in Form von Hagrid, an Harrys Tür klopft. - Harry Potter lässt sich so natürlich nicht mit Schlechte Karten vergleichen. Hier gibt es nur einen schmalen Berührungspunkt. Trotzdem: Verankerung, szenisches Dramatisieren, Zoomen.

Diese Technik habe ich unter einem anderen Gesichtspunkt in meinem kleinen Kommentar zu Der weiße Hai als animistische Erzählstrategie bezeichnet. Linguistisch gesehen spielen hier Metonymien auf der Erzählebene eine große Rolle.

Jetzt habe ich natürlich nur einen Teil geschrieben. Eigentlich wollte ich noch zu typischen Szenen kommen, aber das wird wohl bis heute Abend warten müssen. Ich gehe jetzt duschen und dann zur Arbeit.

2 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

Hallo, ich finde diesen text sehr gut gelungen! Danke dafür. Welche Stelle ist den Ihre Lieblingsstelle?
Lg

Frederik Weitz hat gesagt…

Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Vermutlich kann ich aber dazu wenig sagen, da ich eine Geschichte eher als Ganzheit sehe. Natürlich gibt es auch Bücher mit besonders gelungenen Szenen, aber dann ist der Autor selbst noch schwankend in seinen schriftstellerischen Fähigkeiten. Und das kann man Frau Gabathuler nun nicht unterstellen. Sie schreibt mit einem gleichbleibend hohen Niveau.