11.02.2008

Kleiner Zwischenbericht

Seit mehreren Tagen ordne und glätte ich das Material, das ich in den letzten Monaten zusammengesammelt habe. Welches Material? Die Figuren, die ich aus verschiedenen Büchern zusammengetragen habe.
Figuren - das sind kleine Einheiten, die sich auf dem Weg zum Begriff befinden. Ein Begriff besteht ja aus Elementen/Quasi-Objekten und Argumenten/grammatologischen Verkettungen. Ein Begriff ist selbst ein Quasi-Objekt, immateriell und ein reines kognitives Gebilde, aber wir tun so, als sei es real vorhanden.
Eine Figur nun bezeichnet zweierlei, und zweierlei sehr verschiedene Sachen: zum einen werden damit Begriffe im Moment ihres Gebrauchs erfasst, als ob es sich um ein Kochrezept handelt und nicht um einen Begriff (ähnlich findet sich bei Wittgenstein der Begriff Lebensstil als ein Sprachspiel plus seinen nonverbalen Anteilen); zum anderen ist eine Figur ein unscharfer Begriff, einer, der sich noch nicht aus dem impliziten Verstehen gelöst hat und damit noch nicht seine arrogante Schärfe gegenüber der Welt ausgeprägt hat: eine solche Figur ist dann ein fröhliches Werkzeug, bei dem man sich nicht allzuviel Gedanken machen sollte, warum und wie es funktioniert.

Um ein Beispiel zu geben:
Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean. Ihre nackten Füße versanken fingerbreit im Wasser. Unter ihr gähnte der tintenblaue Abgrund der See, bis zum Meeresboden mochten es einige hundert Mannslängen sein.
Jolly konnte seit ihrer Geburt über Wasser gehen. Mit den Jahren hatte sie gelernt, sich mühelos auf der schwankenden Oberfläche zu bewegen. Für sie fühlte es sich an, als liefe sie durch eine Pfütze. Flink sprang sie von einer Woge zur nächsten und wich den schaumigen Wellenkämmen aus, die manchmal zu tückischen Stolperfallen wurden.
(Kai Meyer: Die Wellenläufer)
Trivialisieren: etwas Ungewöhnliches oder Neues so schildern, dass es seinen Platz in seiner Umwelt findet. Etwas seinem Platz zuzuweisen heißt, es gewöhnlich, trivial zu machen.
1. Jolly kann auf dem Wasser gehen. Meyer beginnt hier aber nicht mit dieser Aussage (sie folgt im vierten Satz), sondern mit einer Art Platzierung: dort, an dieser Stelle wird diese ungewöhnliche Fähigkeit getan: „Mit weiten Schritten lief Jolly über den Ozean. Ihre nackten Füße versanken fingerbreit im Wasser. Unter ihr gähnte der tintenblaue Abgrund der See, bis zum Meeresboden mochten es einige hundert Mannslängen sein. ...“
2. Um etwas zu trivialisieren, werden Verbindungen in die Umwelt gezogen. Meyer folgt in den ersten beiden Absätzen einem bestimmten Schema: was wird Ungewöhnliches getan? (Tätigkeit: 1. Satz); wie sieht das genau aus? (Spezifikation: 2. Satz); wo passiert es? (Verortung: 3. Satz); seit wann passiert es? (Herkunft: 4. Satz); wie hat sich die Fähigkeit entwickelt? (Lehre: 5. Satz); welche sinnliche Erfahrung bringt dies für den Tätigen (Gefühl: 6. Satz).
3. Die Trivialisierung „reagiert“ auf Fragen, die der Leser an den Text stellt. Hat der erste Satz ein Ereignis oder Geschehnis eingeführt, das rätselhaft erscheint, so antworten die folgenden Sätze ausweichend. Denn der wahre Grund, warum Jolly über Wasser laufen kann, enthüllt sich erst nach und nach im Roman. Die Trivialisierung erklärt nicht, sondern verankert. Sie weicht aus, indem sie ein Phänomen so in eine Umwelt setzt, dass der Leser dies als normal hinnimmt. (Damit lässt die Trivialisierung zugleich Platz für die Intrige, hier nämlich dem wahren Grund, warum Jolly diese Fähigkeit hat.)
4. Was konkret ist, setzt die Imagination in Gang: und auch das ist eine Funktion der Trivialisierung; sie baut ein Bild für den Leser. Dieses Bild bietet nicht nur Sichtbares, sondern vor allem Anhaltspunkte, was sich der Leser vorzustellen hat. Der tintenblaue Abgrund ist ebenso eine Übertreibung, wie die Herkunft dieser Fähigkeit nur ein undeutlicher Anhaltspunkt bleibt.

Um also eine Figur zu konstruieren, bedarf es kaum einer Anstrengung: ein vorhandenes kleines Muster wird in eine Beschreibung gegossen, und diese Beschreibung analysiert auf der einen Seite dieses Muster und gibt auf der anderen Seite Hilfestellung, dieses Muster in etwa selbst herzustellen.
Auf der anderen Seite gibt es hier trotzdem eine Menge zu tun. Diese Arbeit gründet sich darin, dass solche Figuren wie die Trivialisierung massenhaft im Text auftauchen, und man würde sich ewig wiederholen, wollte man jede einzelne Figur, die ein Text konkret bietet, aufzählen. Man muss also auswählen, und man muss so auswählen, dass die Figuren ineinandergreifen, auf der einen Seite, und genügend abgegrenzt sind, auf der anderen Seite.

Die Arbeit hat mich zu zahlreichen Autoren geführt, insbesondere meine Lieblinge der "Unterhaltungsliteratur", Stephen King, Martha Grimes, Dashiell Hammett, Eoin Colfer, Joan Rowling, Tolkien, Otfried Preußler und Nöstlinger, aber auch zu gewichtigeren Namen wie Gottfried Keller, Thomas Mann, Ernest Hemingway, Handke, Murakami oder Rushdie. Einige unbekanntere Autoren wie von Kayserling oder Klabund finden sich auch dabei.

Ziel und Zweck der ganzen Übung ist, hier eine Art Katalog herzustellen, eben Figuren, aus denen eine Erzählung zum größten Teil besteht, eine Art summa summarum des Narrativen.
Ziel und Zweck des Ganzen ist aber auch, aus diesen Figuren konkrete Übungen zu ziehen, mit denen sich die alltägliche Schreibpraxis herumschlägt. Es geht nicht um die großen Formen, die Abschnitte und das aristotelische Schema des Dramas, sondern um die kleinen Wendungen.
Schreibhilfe, sensible Analyse - und letzten Endes auch eine Schreibwerkstatt, die sich auf das Einüben solcher Figuren stützt, und die ich gerne vorstellen und ausprobieren möchte: an der Volkshochschule vielleicht. Dazu muss jede Figur noch mit Übungen versehen werden und da ich dies in eine "echte" Werkstatt und einen "echten" Werkstattunterricht umsetzen möchte, muss natürlich auch entsprechendes Material gebastelt werden.

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