05.05.2008

Alternative, poetisch (Komplikation)

Ich bin weiterhin sehr verzaubert von Friederike Mayröcker.
In den ganzen Dichtungen von ihr verzweigen sich die Möglichkeiten des Denkens in die Sprachwildnis. Es sind bezaubernde Holzwege - des chemins, qui menent à nulle part. Nur ist dies nicht ein Versagen der Dichterin, ein gewisses Unvermögen des Ausdrucks Herr zu werden, sondern der Sprache notwendig eingeschrieben.
Es gibt bei Mayröcker den Hang zur Alternative, zur Nebeneinanderstellung, die vage korrespondiert. Dabei handelt es sich nicht nur um Aufzählungen, sondern auch um Alternativen oder Probewörter, die vorführen, wie ein neuer Ausdruck gefunden wird:
dann fällt das Wort WINTERSCHATULLE, VOTIVKINDERHEMD, KOPFBRISE
MB, S. 369

ist das 1 Wolkenwand am Ende der Straße oder das Fossil eines Waldes?
MB, S. 370

das zu Sagende zu Schreibende : eigentlich etwas in Übereinstimmung mit dem Leser
MB, S. 367
Wundervoll fasst Mayröcker die Nebeneinanderstellungen und die Wahl aus einer Reihe von Möglichkeiten in folgendem Gedicht:
EINE GELBE GLADIOLE
ist mein Herz
eine gelbe Perle
ist mein Herz
ein gelber Wald voller
Ahornblätter
ist mein Herz

früher war mein Herz
rot
oder blau
oder grün
oder weisz wie
ein Frühling :

aber jetzt
ist mein Herz gelb.
GG, S. 30
In dem Gedicht wie kommunizierende Gefäsze sagst du (GG, S. 496f.) findet sich ein Stück der Sprachpoetik wieder, selbst in Poesie verwandelt. Hier wird auf der einen Seite der gleichwertige Tausch versucht:
das ist die Hölle sage ich, das ist
das Fegefeuer sagst du, spiegelst orange die Sonne
das ist die Hölle sagst du, das ist
das Fegefeuer sage ich, Hunde- und Autofriedhöfe entlang
und am Schluss:
in Küssen schwelgend schwelgend in Küssen
wobei die Spiegelung in den Satzteilen dem Küssen entspricht, getrennt und doch miteinander korrespondierend.
Die kommunizierenden Gefäße sind ein hin und wieder zitierter topos in der modernen Literaturwissenschaft. Sigrid Weigel zitiert ihn in Entstellte Ähnlichkeit, bei Celan findet man in Atemwende den Gedichtsanfang "LANDSCHAFT mit Urnenwesen. / Gespräche / von Rauchmund zu Rauchmund."
Deleuze schreibt in Proust und die Zeichen von der Figur der geschlossenen Gefäße (S. 95). Diese - nach dem Prinzip Teil-Ganzes organisiert -
hat ihren Wert durch die Opposition einer Nachbarschaft ohne gemeinsame Kommunikation.
Kurz zuvor erläutert Deleuze diese Figur ausführlicher:
Die zweite Figur ist eher die der Komplikation: hier handelt es sich um die Koexistenz asymmetrischer und nicht kommunizierender Teile, sei es, dass sie sich als wohl getrennte Hälften organisieren, oder dass sie sich als entgegengesetzte »Seiten« oder Wege ausrichten, oder dass sie in Drehungen, in Wirbel geraten wie das Rad einer Lotterie, das unveränderbare Lose mit sich führt und manchmal vermischt. Hier besteht die Tätigkeit des Erzählers darin, sich zu entscheiden, auszuwählen; zumindest ist dies seine scheinbare Tätigkeit, denn viele verschiedenartige Kräfte, in ihm selbst kompliziert, wirken sich aus, um seinen Schein-Willen zu bestimmen, um ihn diesen oder jenen Teil in der komplexen Komposition wählen zu lassen, diese oder jene Seite des instabilen Gegenstandes, dieses oder jenes Los im Wirbel der Schatten.
Die Werke Mayröckers bringen diese Komplikation häufig ins Spiel. Sei es, dass sie die Alternativen nebeneinander bestehen lässt und nicht auswählt, sei es, dass sie die Auswahl poetisiert und ihr den argumentativen Gang des Wissenschaftlichen oder Gewöhnlichen entzieht, sei es, dass sie die Auswahl ins Leere laufen lässt; beständig erprobt sie die Mittel neu, sich der Sprache als Kommunikation anzunähern. Das Scheitern erfolgt "automatisch": das Automatische ist bei Mayröcker nicht ein Ausdruck des Seelenlebens wie bei den Surrealisten, sondern besteht gerade im je spezifischen Scheitern der Kommunikation, die sich im Gedicht ausdrücken, aber nicht aufheben lässt; deshalb nutzt Mayröcker zwar die écriture automatique und auch die Aufzeichnungen von Träumen, lässt diese aber nicht unbearbeitet stehen. Im Gedicht Doppelgängerei (GG, S. 455f.) schreibt sie:
ach eintrachtsvoller
Geist du Himmels-
zwirn!, ...
... ich als das Tier
ans Ufer schwamm schnell zu ihm hin, die
Instrumente tief, präziser
Schattenmund und brach : ...
... versprengt
verwüstet strauchelnd ich, die
Kuckucksblume an der Brust
Von der Idealisierung (eintrachtsvoller Geist), über die Entfremdung (ich als das Tier, Schattenmund) und dem Willen, die Beziehung durch Klarheit zu gestalten (die Instrumente tief, präzise kommt das Geständnis des Scheiterns. Der Kuckuck versinnbildlicht das Fremde, das ins eigene Nest gelegt wurde. Und ohne dieses feste Gegenüber verliert die eigene Existenz, die eigene Sprache die Möglichkeit, beherrscht zu werden, wie in ich verliere mich so an die Menschen (GG, S. 495):
diese Brandvokabel : ich bin mein eigener Untertan
als wäre die eigene Haut nicht schon Fremde genug
Die Alternative, die Nebeneinanderstellung, die Aufzählung, die Probewörter zeichnen ein Eindringen dieser Unsicherheit in die poetische Sprache auf, ja sind diese Poesie selbst. Wie sich die Menschen ineinander komplizieren (Luhmann würde Ko-Evolution sagen, oder gegenseitiges Bereitstellen von irreduzibler Komplexität), so komplizieren sich die Wörter ineinander, werden unwählbar, außer in einem Akt der versuchten, der fortlaufenden Entfremdung; diese Entfremdung wird als Opposition zwischen dem Schreiben als Leben und dem Schreiben über das Leben dargestellt, exemplarisch in der geschrägten Opposition Geisterpapier und Taifunstadt:
... man muss mit realen Karten spielen, sage ich, aber man muss transreale Bezüge herzustellen versuchen eigentlich VISIONEN. ...
... aber ich habe keine Wirklichkeitsform, das ist es ...
... wann erreicht mich wieder diese Art FLASCHENPOST VON DRÜBEN, frage ich immerfort. ...
... Victor Hugo z. B. hat er in der Normandie gewohnt oder über die Normandie geschrieben : GEISTERPAPIER / TAIFUNSTADT. ...
... Habe ich den noch 1 menschliches Gesicht? ...
... Beim Schreiben die Selbstentzündung, dann der HERBEIGERUFENE, der Mann mit dem gelben Turban : ...
(MB, die Fabulierblättchen, oder Erinnerung an den Platanenhain in D., S. 367-375)
  • GG = Mayröcker, Friederike: Gesammelte Gedichte 1939-2003, Frankfurt am Main 2004
  • MB = Mayröcker, Friederike: Magische Blätter I-V, Frankfurt am Main 2001
  • Celan, Paul: Atemwende, in: ders. Gesammelte Werke, Band 2, Frankfurt am Main 1986
  • Weigel, Sigrid: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise, Frankfurt am Main 1997
  • Deleuze, Gilles: Proust und die Zeichen, Berlin 1993

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