05.12.2008

Zitieren, Kritisieren, Transfer

Vorhin habe ich mit Sebastian telefoniert. Der Bereich der sogenannten Soft-Skills interessiert uns beide sehr. Sebastian geht mit diesen ganzen Konzepten zum Glück sehr gelassen um. Mich beschäftigen vor allem die klassischeren Konzepte, die dahinter stehen. So findet sich unter dem Begriff der Einfühlung ein ganzer Schwarm an Konzepten in der klassischen Literatur, die dem modernen Begriff der Empathie nahe stehen.
Jedenfalls fallen mir immer wieder zwei Sachen auf.
Zum einen werden Begriffe nicht ordentlich ausgearbeitet. Ich habe es immer mal wieder hier im Blog beklagt. Begriffe sind ja nicht nur wissenschaftlich. Das bezweifle ich sogar am meisten. Begriffe sind vor allem kognitive Muster, die relativ stabil sind und deshalb das Denken und Handeln stabilisieren. Ohne Begriffe also kein strukturiertes Denken und ohne strukturiertes Denken kein tiefer Charakter. Begriffsarbeit ist Charakterbildung.
Begriffe entwickeln sich nicht wahllos. Zwischen Gebrauch und Kritik von Begriffen liegt kein Gegensatz, sondern eher ein Verhältnis gegenseitiger Steigerung: je mehr ich einen Begriff gebrauche, umso mehr kann ich ihn kritisieren. Kritisieren heißt in diesem Fall ja auch: ich kann den Begriff in seine Schranken verweisen. Und damit kann ich umso eher seine Funktion innerhalb meines Denkens, innerhalb einer Theorie, innerhalb des Handelns erfassen. Denn indem ich einen Begriff in seine Schranken verweise, kläre ich gleichzeitig ab, was andere Begriffe leisten und kann so die jeweils passenden Begriffe benutzen.

Zum anderen: Um Begriffe "professionell" zu bilden, ist ihr historischer Gebrauch wesentlich. Damit ist vor allem die Definition und Verwendung eines Begriffs gemeint, sei es in der jüngsten, sei es in der ältesten Literatur. Nun verweist man auf andere Literatur durch Zitate. Und hier findet man wieder eine recht dämliche Marktstrategie: in Coaching- und Beratungsbüchern wird eher schlecht oder gar nicht zitiert, als habe man sich alles selbst ausgedacht. Auch die Unart vieler Pädagogikbücher, nicht mehr seitengenau zu zitieren, sondern nur noch pauschal auf ein Buch zu verweisen, gehört hierher.
Damit werden Zitate aber schlecht oder gar nicht überprüfbar. Begriffsbildung im historischen und kulturellen Kontext findet nur noch lax statt. Denn niemand kann wirklich nachvollziehen, ob hier genau gelesen wurde. Was in anderen wissenschaftlichen Bereichen noch gang und gäbe ist, schaffen die modernen Ratgeber ab. Vergleiche aber sind nicht nur für die Kritik, sondern auch die Differenzierung des Denkens wichtig.

All dies - fehlende Begriffe, fehlendes Zitieren - ist aber blind: Begriffe, deren eine Seite, die Kritik, wegfällt, verlieren auch rasch ihre andere Seite: die Anwendbarkeit. Begriffe lösen sich zu Worthülsen auf.

Sebastian erzählt immer mal wieder, dass manche Trainingsteilnehmer wenig bis garnichts aus den Seminaren mitzunehmen scheinen (vgl. dazu auf seiner Homepage unter Downloads Coachingarbeit mit den neurologischen Ebenen). Anders als Sebastian sehe ich hier den Schwerpunkt des Problems in den fehlenden Begriffen. Begriffe sorgen für Transfer, indem sie abstrahieren. Die Abstraktion ist vorrangig keine Methode, um zu Oberbegriffen zu kommen, sondern um eine konkrete Situation so weit zu entkleiden, dass ich sie auf andere Situationen anwenden kann.
Wenn ich am 24.05.2003 um 15.23 Uhr in einem kleinen Bach in der Nähe von Garmisch-Partenkirchen eine Forelle gesehen habe und zufällig vor mich hingedacht hätte: Dieses Wesen nenne ich jetzt, wie es zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort schwimmt, Forelle, dann könnte ich diese Erfahrung nicht übertragen und jede andere Forelle bräuchte einen anderen Namen. Indem ich aber von den konkreten Umständen abstrahiere, kann ich sehr ähnliche Fische ebenfalls als Forellen benennen, kann sogar noch weiter abstrahieren, kann die Forellenartigen und die Fische als Klassifikation entdecken, die Wirbeltiere, und so fort.
Und ähnlich ergeht es uns mit Begriffen in der sozialen Umwelt. Mit grundsätzlichen Begriffen wie Norm, Rahmen, Habitus kann ich das Verhalten meiner Mitmenschen in einen Erklärungszusammenhang bringen, ohne auf jeweils neue Theorien zurückgreifen zu müssen.

Warum brauchen wir diesen Transfer zum Beispiel im Training?
Nehmen wir an, dass die Teilnehmer des Trainings nicht wirklich am Training interessiert sind. Das ist bei betrieblichen Veranstaltungen des öfteren so. Dann muss man gerade diesen Teilnehmern Möglichkeiten bieten, die trainierten Inhalte auch in Bereiche zu transferieren, die diese wirklich interessieren. Im Bereich der Kommunikation sollte das sogar ein Selbstgänger sein, denn Menschen ohne Kommunikation gibt es nicht. Diesen jeweils einzelnen Transfer kann ein Trainer natürlich nicht leisten. Aber er kann Begriffe vermitteln, handlungsleitende Begriffe, die sowohl für den Betrieb als auch für das Privatleben wichtig sind.
Für ein Training mit teilweise trainingsunwilligen Teilnehmern bedeutet das, dass man didaktisch so vorgeht, dass Inhalte erstens abstrahiert und zweitens transferiert werden. Im Vortrag sollte der Trainer also eine gute Mischung aus betriebsrelevanten und alltagsrelevanten Beispielen bringen. Wie wir Kommunikationsberater den Teilnehmern beibringen, sie sollten die Sprache ihrer Kunden sprechen, d.h. Wörter, Inhalte, Stimme, und - in den Bildern - Lebensbezüge übernehmen, so müssen Trainer das ihrerseits für die Mitarbeiter tun. - Das ist übrigens keineswegs einfach. Es gibt ja diesen Spruch: Hol' das Kind dort ab, wo es steht! Und ähnliches, so sieht es hier jedenfalls aus, fordere ich für das Training von Erwachsenen. Nur ist erstens dieser Spruch durch eine so arge räumliche Metapher verunstaltet, dass es mich als Linguist ziemlich schüttelt. Und jede Diagnose ist zweitens bereits mit Handeln verbunden. Würde ich mit dem Training erst dann anfangen, wenn ich wüsste, wo die Teilnehmer stehen, wäre das zunächst wie Waschen, ohne jemanden nass zu machen: ich muss aber mit einem Menschen Umgang haben, wenn ich ihn kennen lernen will. Training und Diagnose greifen ineinander. Sie können fehl gehen, weil man als Trainer nicht jedem Faden folgen kann, nicht jede Regung beachten kann. Und wenn ich - um zum Thema zurückzukommen - Transferbeispiele gebe, dann wird dadurch natürlich nicht jeder Teilnehmer angesprochen.
Mit dem Transfer wird den Teilnehmern jedenfalls die Möglichkeit gegeben, Strategien und Funktionen der Kommunikation dort zu trainieren, wo sie ihnen wichtig sind. Und dadurch wirken diese auf die geforderten Leistungen der innerbetrieblichen Kommunikation zurück.

Kehren wir zu den Begriffen zurück: unausgearbeitete Begriffe verlieren ihren Halt und werden für das Denken unbrauchbar. Sie haben weder Trennschärfe noch Tiefenschärfe, blähen sich zu allmächtigen Beschwörungsformeln auf und verpuffen zu ohnmächtigen Nichtigkeiten. Selbst die Sprache wird an ihnen schwankend. Sie lassen sich nicht mehr gut vermitteln. Und wer kennt das nicht, diese Trainings, die sich durch schauerliche Begeisterung von einem Wirrwarr zum nächsten hangeln, und nach denen selbst der Trainer vor lauter durchgehaltener Glücksseligkeit ausgelaugt ist?
Arbeit an den Begriffen also ist notwendig. Die Coaching-Literatur unterminiert diesen Anspruch, indem sie ihre Quellen teilweise garnicht mehr offen legt, um, das ist wahrscheinlich, der Kritik zu entgehen.

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