05.12.2008

Begriffsbildung: prozessuale Begriffe

Um noch einmal auf die Begriffsbildung zurückzukommen:
Begriffe bilden sich - vereinfacht gesagt - aus Sätzen, in denen sie vorkommen. Das ist so hübsch banal, dass es sich fast unsinnig anhört.

Betrachten wir folgenden Satz in Bezug auf die Empathie:
"Dementsprechend muss sich ein Ensemble von strategischen Kompetenzen (Empathie, Urteilskraft etc.) und Orientierungen (Vorsicht, Distanz, Gefasstheit usw.) sowie ein geschärftes und sich schärfendes biographisches Selbstbewusstsein bilden." (RH, 166 - Siglen wie immer am Ende des Artikels)
Zum einen wird hier die Empathie zu den strategischen Kompetenzen gerechnet, und der Urteilskraft zur Seite gestellt (dazu zählen des weiteren auch Geschick und Simulationsvermögen), zum anderen bündeln diese sich mit den strategischen Orientierungen und einem (im Gegensatz zu früheren Zeiten) geschärften biographischen Selbstbewusstsein. Zu was? Zu einer strategischen Lebenslaufkontrolle (RH, 166) in einer zunehmend komplexen Gesellschaft.
Indem in diesem komplexen Satz die Empathie in Bezug auf andere Begriffe benutzt wird, zugleich aber von diesen abgegrenzt wird, ordnet sich dieser Begriff ein. Ob diese Ordnung zu Recht auf diese Art und Weise geschieht, spielt erstmal keine große Rolle.
Es ist natürlich etwas anderes, ob ich einen Schwarzafrikaner zu den Menschen oder zu den Tieren zähle. Die Gewaltsamkeit der zweiten Einordnung ist zu offensichtlich und deshalb ohne Legitimation. Bei Begriffen spielt die Dinghaftigkeit eine große Rolle. Dinge lassen sich viel eher naturwissenschaftlich definieren und müssen sich dieser empirischen Basis stellen, sei es im physikalischen oder im biologischen Bereich.

Andere Begriffe, wie der der Empathie, sind zu prozesshaft, um sie mit Dingen verwechseln zu können. Prozesshafte Begriffe zeigen nicht auf absolute Phänomene, sondern auf Vorgänge, in denen sie meist nur zum Teil verwirklicht werden (können).
Es gibt - das sollte man mindest vermuten - keine absolute Empathie.
Gerade aber weil diese Begriffe nicht in Reinform in der Realität erscheinen, gerade deshalb sind Differenzen zu anderen Begriffen so wichtig. Dieses Ineinander von Zusammengehörigkeit und Abgrenzung drückt sich in genau solchen Sätzen aus. Indem wir also Sätze sammeln, in denen der Begriff der Empathie auftaucht, indem wir andere Begriffe in diesen Sätzen finden, die die Grenze der Empathie bezeichnen, indem wir die innere Struktur der Empathie herauskristallisieren (nichts anderes versuchen Definitionen), stellen wir ein schärferes begriffliches Denken her.

Wie gesagt geht es nicht um Wahrheit. Auch Realität ist hier keine Begründung für Begriffsbildung.
Zunächst geht es um Trennschärfe, um Differenzierung. Es mag sein, dass sich im Laufe der Zeit eine leichtere Gangart herausbildet und dass man rascher spürt, ob man jemanden als empathisch empfindet. Aber allgemein ist die Bündelung und Strukturierung von Begriffen deshalb wertvoll, weil sie das Denken strukturiert, weil schärfere Meinungen besser Konflikte anziehen, und mit diesen Konflikten soziale Erfahrungen erworben werden, weil mit Begriffen besser Inhalte vermittelt und wiederholt werden können. Begriffe dienen der Kommunikation und letztendlich auch der Stabilität in einer Gruppe. Werden Begriffe ordentlich gebraucht, regulieren sie auch Konflikte: man streitet sich nicht mehr im diffusen Raum, sondern um wesentlich präzisere Phänomene.
Allerdings ist der Streit um prozessuale Begriffe nur begrenzt hilfreich. Prozessuale Begriffe sind immer Problembegriffe. Das heißt, sie sind empirisch nicht tatsächlich überprüfbar, sondern werden durch ausgewählte Gesichtspunkte in die Welt hineinkonstruiert.
Ob also ein Mensch empathisch ist oder nicht, ist aus zweierlei Gründen kein echter Streitpunkt. Erstens muss man jedem Menschen in irgendeiner Weise die Möglichkeit der Empathie zugestehen. Vielleicht haben Sie schon die Erfahrung gemacht, dass manchmal ganz kranke oder weltfremde Menschen eine ungeheure Sensibilität aufweisen, wie sie ihr Gegenüber austricksen oder verletzen können. Auch das ist eine Form der Empathie, wenn auch eine sehr unangenehme.
Zweitens ist die Beobachtung von Empathie keine normierbare Wahrnehmung. Man kann noch nicht einmal ernsthaft behaupten, der andere würde sich täuschen, wenn er dort empathisches Verhalten sehe. Es kommt nur darauf an, ob man empathisches Verhalten durch seine Ursachen und Wirkungen begründen kann.
Wenn also Peter versucht, Anna zu trösten und Anna reagiert darauf nur wütend, weil sie zu diesem Zeitpunkt Trost nicht annehmen kann, dann ist Peter noch lange nicht unempathisch. Er ist eben nur nicht empathisch genug, um auf Annas Zustand angemessen reagieren zu können. Ja, es kann sogar sein, dass Anna zwar zunächst wütend reagiert, später aber zugibt, dass ihr Peters Trost sehr geholfen hat, und dass man als Außenstehender beobachtet, dass Peter genau mit dieser Wut gerechnet hat und trotzdem so gehandelt hat; weil seine Empathie sich nicht auf den kurzfristigen Zustand, sondern auf die langfristigen Folgen gerichtet hat.
Prozessuale Begriffe legen nicht ein für allemal fest. Ihre Anwendbarkeit kann im Nachhinein bestritten oder legitimiert werden. Sie sind definitiv unsicher.

Trotzdem brauchen wir natürlich auch für solche Begriffe Definitionen. Wir können die Empathie nur so als prozessbegleitende Größe neben anderen solcher Größen herauskristallisieren (ähnlich gelagert sind operationale Ziele).
Für das Beispiel mit Peter und Anna kann man dann sagen, dass Peter strategische Voraussicht, Konfliktfähigkeit und psychologisches Geschick beweist. In welchem Mischungsverhältnis das steht, ist unerheblich. Wichtiger ist, dass jemand, der die Szene zwischen Peter und Anna beobachtet, sagen kann, dass Peter empathisch ist, weil er Annas Trauer begreift, dass er konfliktfähig ist, weil er sich auf den Wutausbruch von Anna einlässt, dass er strategische Voraussicht besitzt, weil er damit rechnet, dass Annas Wut verpuffen wird, und dass er psychologisches Geschick hat, weil er Wutausbrüche als Notwendigkeit für die Trauerarbeit kennt und bejaht.
Gäbe es diesen Peter wirklich: vermutlich wird er nichts von dem, was wir hier gerade auseinander klabüsern, in dieser Situation gedacht haben. Wir konstruieren es in die Situation hinein, ohne eine letzte Gewissheit zu haben. Wir müssen uns auf die Plausibilität stützen, die unsere Beobachtungen haben. Ohne Begriffe aber würden wir die Plausibilität nicht mitteilen und nicht ansatzweise begründen können.
Darum
geht es selbst bei Begriffen, die nie dingfest gemacht werden können.

RH = Willems, Herbert: Rahmen und Habitus, Frankfurt am Main 1997

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