24.07.2008

Multi-Kulti oder Nationalgesellschaft?

Niklas Luhmann hat mit seiner Theorie der operativen Geschlossenheit und der strukturellen Kopplung ein sehr scharfes Konzept erstellt, das immer noch quer zu dem Alltagsglauben steht. Da ich seit einiger Zeit immer auch mal wieder am Kulturbegriff arbeite, bin ich natürlich auf Luhmann gestoßen (der ja über Jahre hinweg derjenige Theoretiker war, den ich hauptsächlich gelesen habe: dass er heute so aus meinem Denken verschwunden ist, liegt nicht daran, dass ich ihn für unwichtig halte, sondern dass viele Menschen seine Gedanken nicht nachvollziehen können).
Ich möchte hier nicht weiter auf die Theorie Luhmanns eingehen, auch nicht auf die Begriffe operative Geschlossenheit und strukturelle Kopplung, die ich mal so schick in den Raum geworfen habe. - Kultur, darum geht es hier.

Grenzen der Kultur

Luhmann findet gegen den Kulturbegriff zahlreiche Argumente. Das wichtigste dürfte sein, dass Kultur sozusagen eine Grenze erzeugt, die etwas einschließt, und anderes ausschließt. Etwa die deutsche Kultur, die alles einschließt oder einschließen soll, was deutsch ist, und alles ausschließt, was undeutsch ist. Soweit es sich um einen Begriff handelt, ist dies sogar ein üblicher Vorgang. Begriffe müssen trennen. Problematisch wird es zuallererst auch dann, wenn man den Begriff mit einem Territorium verkoppeln möchte. Kurz gesagt ist es der deutsche Eiche egal, wie sie genannt wird. Es lässt sie nicht besser wachsen und hindert sie nicht bei ihrem alltäglichen Geschäft.

Schwerwiegende kriminelle Prozesse

Der Begriff der Kultur hat für sich das Problem, dass er nicht erklären kann, warum die Grenze gerade hier oder dort gezogen wird, warum sie für dieses noch eine Zugehörigkeit bereit hält und für jenes nicht mehr. Neonazis, aber auch viele gemäßigtere Menschen, halten nationalpathologische Prozesse für die Schuldigen und argumentieren, dass diese Prozesse eliminiert werden müssten, in welcher Form auch immer, um das Kulturproblem zu lösen. Es ist aber sehr viel sicherer, dass der unklare Begriff gerade diese Prozesse erzeugt. Nicht erzeugt in dem Sinne, dass durch den Kulturbegriff plötzlich Dönerbuden statt Rouladenkiosks entstehen, oder die Ausländer-Kriminalität besonders ansteigt, sondern in dem Sinne erzeugt, dass hier ein besonders qualitatives Gewicht geschaffen wird und dass die Ausländer-Kriminalität als eine Art schwerwiegender pathologischer Prozess gesehen wird, im Vergleich zur "normalen" deutsche Kriminalität.

Unscharfe Begriffe und der Zorn

Unscharfe Begriffe sind immer Begriffe, die sehr ungefertigt dastehen. Vor allem ist der Zusammenhang zwischen der kognitiven Struktur und dem sinnlichen Dasein eher lose oder auch mal ganz und gar widersprüchlich. An solchen Konstellationen aber klebt der Zorn oder die Resignation. Zorn, das ist immer noch eine pathologische Verschiebung einer gesunden Aggression, die zum Lernen dazugehört, und auch zur Begriffsbildung. Kann ein Begriff nicht das leisten, was er zunächst verspricht, und der Begriff der Kultur gehört hier auf jeden Fall dazu, dann muss man ihn entweder fallen lassen, oder man gerät in Gefahr, den Zorn auf jene Prozesse abzuspalten, die gerade den Begriff auflösen oder aufzulösen drohen. Im Falle der Kultur sind dies natürlich dann all die Sachen, die nicht in die erste Handhabung der Kultur passen. Dass hinterrücks damit auch ganz andere Phänomene aus der Kultur herausgeworfen werden, wie zum Beispiel die meisten klassischen deutsche Schriftsteller, mag dann niemand mehr sehen.
Unscharfe Begriffe sind immer ein Problem. Sei es Kultur, sei es sinnentnehmendes Lesen, sei es subjektorientierte Diagnostik, oder demokratische Institution: sie hüten einen Zorn in sich, sind, um mit Sloterdijk zu reden, Zornbanken, die selbst wieder zu abweichenden Prozessen führen.

Verschiebungen des Multi-Kulti

Der Begriff des Multi-Kulti ist ein genauso dummer Begriff. Im Prinzip stützt er sich auf den Kulturbegriff, kann hier aber nur durch Gleichwertigkeit ersetzen, was nationalistische Konzepte durch Höherwertigkeit bewertet haben. Beide Wertungen müssten eigentlich als vollkommen imaginär erkannt werden. Multi-Kulti ist also nur eine bedingte Verschiebung, statt einer wirklichen Lösung oder einem sinnvollen Gegenkonzept.
Niklas Luhmann jedenfalls schreibt dazu:
Wie eine umfangreiche Debatte über »Relativismus« und »Pluralismus« zeigt, fällt es schwer, aus dieser Sachlage die erkenntnistheoretischen Konsequenzen zu ziehen. Man geht so weit, zuzugestehen, dass alle Gesellschaften, Kulturen usw. eine »eigene Welt« erzeugen und dass man dies in den Sozialwissenschaften zu akzeptieren hat. Aber dann bleibt der Standort des Beobachters, der Pluralismus akzeptiert, ungeklärt. Man wird ihn kaum, in Gottnachfolge, als weltlosen Beobachter beschreiben können oder als freischwebende« Intelligenz. Es muss also eine Erkenntnistheorie gefunden werden, die es erlaubt, ihn als Beobachter anderer Beobachter in der Welt zu lokalisieren, obwohl alle Beobachter, er eingeschlossen, verschiedene Weltentwürfe erzeugen. Es kann deshalb keine pluralistische Ethik geben, oder wenn, dann nur als Paradox einer Forderung, die zu sich selbst keine Alternativen zulässt. Man kann nach all dem nicht davon ausgehen, dass die Welt ein »Ganzes« sei, das in »Teile« gegliedert sei. Sie ist vielmehr eine unfassbare Einheit, die auf verschiedene, und nur auf verschiedene, Weisen beobachtet werden kann. Ihre »Dekomposition« ist nicht auffindbar, sie kann nur konstruiert werden, und dies setzt die Wahl von Unterscheidungen voraus. Dem trägt der radikale Konstruktivismus in der Weise Rechnung, dass er Welt als unbeschreibbar voraussetzt und das Geschäft der Selbstbeobachtung der Welt in der Welt auf die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung verlegt.
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 155f.

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