21.07.2008

Motivationen/Bedürfnisse im Roman (kreatives Schreiben)

Neben den Typologien, die man sich selbst erarbeitet (siehe dazu oben), kann man für das freie und kreative Arbeiten natürlich auch Typologien nutzen, die die Wissenschaft liefert. Das ist natürlich eine ganze Ecke bequemer, zunächst.
Denn bei diesen Typologien handelt es sich häufig nicht um Modelle, die für den Schriftsteller gemacht wurden. Und dann muss dieser doch noch viel Denkarbeit leisten.
Ich stelle zunächst eine solche Typologie vor, und dann drei Übungen (analytische Übung - reflektierende Übung - Jagen, Sammeln, Verarbeiten), die den Umgang mit dieser Typologie einüben. Das alles natürlich mit Bezug auf die schriftstellerische Tätigkeit.

Die Bedürfnispyramide nach Maslow

Abraham Maslow ist ein amerikanischer Psychologe, der heute vor allem wegen seiner Bedürfnispyramide berühmt ist. Man mag von diesem Modell halten, was man will. Zunächst bietet es uns ein wunderbares Analysemittel für die Bedürfnisse und Motivationen von Romanpersonen.
Ich stelle hier diese Pyramide als Liste dar. Der erste Punkt bildet das Fundament der Pyramide und der letzte Punkt deren Spitze. Nach Maslow müssen zuerst die fundamentalen Bedürfnisse hinreichend befriedigt sein, damit ein Mensch mit den folgenden Bedürfnissen und deren Anforderungen gut umgehen kann. Werden Zwischenglieder übersprungen, kann es zu krankhaften Verformungen der Seele kommen; so würde – nach Maslow – zum Beispiel das ästhetische Bedürfnis nach Ordnung ohne ein hinreichendes kognitives Bedürfnis von Verstehen und Entdecken die Gefahr einer Deformation und einer pathologischen Entwicklung erhöhen.

Hier also die acht Bedürfnisse:
1. körperliche Bedürfnisse: Atmung, Wärme, Trinken, Essen, Schlaf;
2. Sicherheit: Schutz vor Gefahren, Wohnung, fester Arbeitsplatz, Gesetze, Versicherungen, Gesundheit, Ordnung, Religion;
3. soziale Beziehung: Freundeskreis, Partnerschaft, Liebe, Nächstenliebe, Kommunikation, Fürsorge;
4. soziale Anerkennung: Status, Wohlstand, Geld, Macht, Karriere, sportliche Siege, Auszeichnungen, Statussymbole, Rangerfolge;
5. kognitive Bedürfnisse: zu wissen, zu verstehen und zu entdecken;
6. ästhetische Bedürfnisse: Symmetrie, Ordnung, Schönheit;
7. Selbst-Aktualisierung: Selbsterfüllung finden und das eigene Potential entwickeln;
8. Selbst-Transzendenz: sich mit etwas jenseits des Selbst verbinden und anderen Menschen auf dem Wege ihrer Selbsterfüllung helfen.

Analytische Übung

Hier ist natürlich zuerst eine Analyse sinnvoll; eine Analyse, die sich mit einer Geschichte, einem Roman auseinandersetzt. Mein Tipp dazu: fangen Sie mit dem zentralen Bedürfnis der Hauptfigur des Romans an; zentral heißt: das große, grundlegende Bedürfnis, Ihrer Meinung nach. Dann suchen Sie die zentralen Bedürfnisse einiger weiterer Figuren, insbesondere des großen Gegenspielers, wenn es denn einen gibt. (Harry Potter besitzt solch einen Gegenspieler in Voldemort. Bei Kellers Grünen Heinrich werden Sie einen solchen stellenweise finden und Goethes Wilhelm Meister kommt fast ganz ohne diese bedrohliche Figur aus.)
Dann können Sie sich an kleinere Abschnitte machen, zum Beispiel nach Kapiteln und hier je ein Bedürfnis pro Person notieren. Bleiben Sie dabei ruhig exemplarisch, ja karg. Ein Vorteil von einer solchen Verengung ist ja auch, dass sich unsere Einbildungskraft dagegen wehrt und je knapper und monotoner wir etwas fassen, umso stärker spüren wir diese Kraft. Jedenfalls geht es mir immer so.

Reflektierende Übung

Wenn Sie diese Einteilung, diese Analyse durchgeführt haben, schlage ich hier nun ganz das Gegenteil vor: schreiben Sie ohne Punkt und Komma alles auf, was Ihnen zu dieser Übung noch einfällt, was Ihnen gefehlt hat, wie es Ihnen mit dieser Übung ergangen ist. – Diese Technik liegt sehr dicht am free-writing und am brainstorming, nur ist sie nicht mit einer Idee oder einem Stichwort verbunden, sondern mit der Erfahrung des Analysierens. Meiner Ansicht nach sind solche gegensätzlichen Momente notwendig, um von dort aus den Gedankenhorizont wieder auszudehnen und sich nach der Konzentration erneut dem freien Fließen der Assoziationen zu überlassen.

Übung: Jagen, Sammeln, Verarbeiten

Übrigens können Sie mit der Bedürfnispyramide auch auf Ideenjagd in Ihrer Umwelt gehen. Notieren Sie Ihre eigenen Bedürfnisse und die möglichen Bedürfnisse Ihrer Mitmenschen. Sie haben als Schriftsteller ja hoffentlich einen Skizzenblock, den Sie ständig bei sich führen.
Haben Sie so eine Reihe von Bedürfnissen gesammelt, können Sie folgendes ausprobieren: Skizzieren Sie Hindernisse, die sich der Befriedigung eines Bedürfnisses entgegenstellen und Möglichkeiten, wie der Mensch damit umgehen könnte. – Schon haben Sie den Keim zu einer Geschichte.

Beispiele:
1. um bei seinen Freunden mitreden zu können, möchte ein Mann ein bestimmtes Buch lesen (Bedürfnis: soziale Beziehung) – dieses Buch ist in der Bibliothek nicht vorhanden (Hindernis) – der Mann diskutiert mit der Bibliothekskraft, warum sich die Bibliothek dieses Buch unbedingt zulegen sollte und überfährt mit seiner aggressiven Art die Frau vollkommen (Umgang mit dem Hindernis); (habe ich übrigens tatsächlich erlebt)
2. eine Frau ist innerlich sehr angespannt und redet während eines Arbeitstreffens pausenlos (Bedürfnis: Sicherheit, Selbst-Aktualisierung; also im Prinzip eine pathologische Deformation, wenn wir Maslow glauben wollen) – ein Kollege unterbricht sie und bittet sie, beim Thema zu bleiben (Hindernis) – die Frau gibt dem Kollegen recht und redet weiter pausenlos (Umgang mit dem Hindernis)

2 Kommentare :

Anonym hat gesagt…

... übrigens eine ganz ganz interessante Neuerscheinung zur "praktischen Schreibtheorie", allerdings nur fürs Romane schreiben: http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=210640
"Wie Romane entstehen" von Ortheil (Autor) und Siblewski (Lektor bei Luchterhand)... entstehen heißt dabei für Ortheil, wie sie Thema, Idee und schließlich Manuskript entstehen, der Lektor erweitert dies auf den Entstehungsprozess im Verlag (nicht technisch, kreativ natürlich)

Frederik Weitz hat gesagt…

Ja, es gibt da zahlreiche Bücher; ich bin da nicht mehr so scharf drauf, obwohl, ein wirklich gutes Buch wäre nochmal ganz praktisch. Aber meist bleibt man dann doch durch solche Bücher in den Vorarbeiten stecken und einen Roman zu schreiben bedeutet einfach, Erfahrungen zu machen, die man in keinem noch so klugen Buch finden kann (vorbereiten allerdings schon).
Zum anderen muss man mit Büchern arbeiten: und selbst das beste Buch kann einem nichts erzählen, wenn man nicht damit arbeitet.
Wie der Soziologe Dirk Baecker es mal formulierte: Künstler wissen nichts von Kreativität, sie wissen nur etwas von Arbeit.