16.05.2013

Ich bin dann wohl kein Protestant; Interpretation als Zwang?

Die literarisch-lebensweltliche Basis all dieser protestantischen Erbauungsliteratur ist aber das Tagebuch, in dem jeder einzelne, als Individuum, vor sich und Gott Rechenschaft ablegt über die geistige Bedeutung dessen, was ihm Tag für Tag widerfahren ist. Die Kunst- und Fiktionsfeindlichkeit des Puritanismus hat also ihr Gegenstück in einem ausgeprägtem Deutungs- und Interpretationshang, einem Drang zum Zeichen-Lesen sondergleichen, der im Extremfall kein Detail des Lebens unübersetzt lassen kann: Alles ist (potentiell) Signifikant, alles ist Zeichen, alles ist nicht nur es selbst, sondern bedeutet zugleich auch etwas anderes. (Bode, Christoph: Der Roman, Tübingen 2011, Seite 49)
Protestanten sind paradoxerweise in all ihrer Literaturfeindlichkeit die besten literarischen Leser, die man sich vorstellen kann: Sie springen auf Doppelkodierung an, ja, sie tragen diese Herangehensweise an die Texte heran, weil ihnen das das Normale und einzig Sinnvolle scheint. Sie bringen schon mit, was essentiell für literarische Lektüre ist: ein extrem ausgeprägtes Zeichen-Bewusstsein. (ebenda, Seite 50)
Bode schildert hier fast den umgedrehten Fall zu dem, was ich den hysterischen Leser nenne: der hysterische Leser fällt dadurch auf, dass er (1) Romane ausschließlich inhaltlich liest, (2) Inhalte nur undeutlich oder sogar falsch wiedergibt, (3) die Leseleistung besonders in Seitenzahlen ausdrückt. Gerade finde ich eine Notiz, in der ich dies symbolische Selbstvergessenheit nenne. Die konnotative Schicht wird beim Lesen komplett missachtet. Dabei scheint mir die konnotative Schicht mit ihren Symbolen, rhetorischen Figuren und strukturellen Zusammenhängen für die Einheit eines Textes, also zum Beispiel einer Geschichte, besonders wichtig zu sein. Ich habe auch noch nie einen Text gelesen, der diese konnotative Schicht ausblenden konnte: der Grund dürfte klar sein. Die Konnotation bezieht sich auf das Zwischen-den-Zeilen-lesen, enthält also einen großen Anteil an Aktivität beim Leser.
Wer also konnotativ liest, findet immer wieder diese konnotative Schicht, dieses: es bedeutet mehr, als offensichtlich da steht. Tolkien wehrte sich dagegen, dass sein Buch Herr der Ringe eine Allegorie des Dritten Reichs sei. Aber das liegt gar nicht in seiner Hand. Der Leser entscheidet, ob er eine Geschichte als Allegorie liest. Er entscheidet, ob er eher ein protestantischer oder ein nicht-protestantischer Interpret ist.

Demnach wäre ich wohl ein Protestant. Ich würde ja, so bekomme ich öfter als Rückmeldung, jeden Satz und jedes Wort herumdrehen. Was nicht ganz richtig ist, denn ich lese seit heute Simon Beckett Leichenblässe und bin ohne großes Nachdenken auf Seite 100. Ungefähr. Viel Zeit hatte ich nicht.
Aber es ist schon richtig: wenn man bestimmte Methoden lange genug geübt hat, springen sie einem automatisch in das "normale" Lesen hinein, ohne dass man das beabsichtigt. Dieser Zustand ist eigentlich ziemlich angenehm. Früher, an der Uni, habe ich mich mit der systematischen Anwendung von Methoden noch herumgequält. Wenn man sie lange genug wiederholt, werden sie automatisiert. Wobei man wiederum mit dieser Automatisierung vorsichtig sein sollte. Manchmal ergreifen diese Interpretationsmuster so stark Besitz von unserem Denken, dass sie eher uns als wir sie beherrschen. Gehen wir mit solchen Deutungsansätzen willentlich um, handelt es sich um eine Methode; passieren sie uns unwillentlich und häufig, ist es eine hartnäckige Gewohnheit oder sogar ein Zwang.
Bode beschreibt nun den Protestanten als jemanden, der gar nicht anders kann, als Zeichen zu deuten. Damit würde er (der Protestant) auf Augenhöhe mit den modernen Kulturwissenschaftlern liegen, die die Kultur als ein Gefüge an Zeichen ansehen (vergleiche Bachmann-Medick, Doris (Hrsg.): Kultur als Text, Frankfurt am Main 1996; mittlerweile als Neuauflage bei UTB). Kulturwissenschaftler allerdings reflektieren auf diesen Zeichengebrauch kritisch, während der von Bode geschilderte Protestant dies gerade nicht betreibt und wahrscheinlich auch nicht kann.
Und dann bin ich hoffentlich kein Protestant.

4 Kommentare :

Hans Hütt hat gesagt…

Und was ist, wenn die Interpretation als einzigartige Lust empfunden wird? Sucht man das Erlebnis nicht immer wieder? Nur würde ich das nicht Zwang nennen, sondern Einsicht.

Frederik Weitz hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Hütt!

Sie machen hier einen weiteren Standpunkt auf, den der Lust; aus den Ihnen bekannten Gründen würde ich eher das Wort Begehren benutzen. Es gibt Menschen, für die die Analyse etwas sehr lustvolles ist, dieses Hineinschauen in die Funktion von Strukturen. Das ist auf jeden Fall ein sehr bewundernswerter geistiger Zustand, wenn dies mit einer gewissen Befriedigung getan wird.
Mir allerdings geht es an dieser Stelle nicht darum. Ich habe eher darauf verwiesen, dass man den Zwang zur Interpretation aufgeben kann, ohne die Methoden aufzugeben. Zu dem Text von Bode hätte ich vielleicht anmerken sollen, dass er ein ganzes Stück weit ironisch ist. Der Protestant, bzw. der protestantische Leser ist eine Karikatur, eine Übertreibung einer bestimmten Art von Leserschaft. Gerade Bode musste das wissen, weil er selbst ein sehr präziser Leser ist. Er hat also selbst mit dieser unscharfen Grenze zwischen einem zwanghaften und einem wissenschaftlichen Leser gespielt.
Was das Begehren angeht: in der Analyse steckt ja immer etwas Zerstörerisches. Der Analytiker trägt den Text ab, wehrt sich gegen die Autorintention (falls es die überhaupt gibt), liebt mehr einzelne Textstellen, als das gesamte Buch, ja behandelt den Text überhaupt nicht als eine geschlossene Einheit, sondern springt von Harry Potter zu Adorno, von dort zu Dürrenmatt und dann vielleicht zu Simon Beckett. Er bricht die Texte auf, ruiniert sie sozusagen. Und psychoanalytisch gesprochen könnte man hier den Todestrieb am Werk sehen. Müsste ich psychoanalytisch sprechen, so würde ich sagen, dass der Analytiker seine Libido an die unerkannten Strukturen eines Textes bindet. Sehr emphatisch könnte man dem hinzufügen: der Analytiker will das Unmögliche.
Vielleicht (aber eben nur vielleicht) ist der methodisch lesende Mensch eine Art Vorstufe des begehrend lesenden Menschen.

Mit freundlichen Grüßen,
Frederik Weitz

Hans Hütt hat gesagt…

Lieber Frederik Weitz,

es gibt auch ein anderes Verständnis der Psychoanalyse, namentlich der selbstreflektierten in Nachfolge Fritz Morgenthalers, dessen Buch Technik ich Ihnen deshalb besonders empfehle, sollten Sie es noch nicht kennen.

Begehren ist natürlich etwas Anderes als Lust. Warum wohl hat Barthes sein Buch nicht "Le désir du texte" genannt, sondern "Le plaisir du texte"?

Schöne Grüße

HH

Frederik Weitz hat gesagt…

Sehr geehrter Herr Hütt!

Mit dem Herrn Barthes haben Sie natürlich recht. Da habe ich nicht nachgedacht. Und zu Morgenthaler kann ich nun leider überhaupt nichts sagen. Ich habe ein bisschen von der Ethno-Psychoanalyse gelesen, vielleicht zu wenig, aber dieses Fass werde ich nun nicht aufmachen. Es hört sich allerdings danach an, als würde Morgenthaler Hegel und dessen Dialektik eher distanziert betrachten. Überhaupt habe ich die Psychoanalyse in den letzten Jahren sehr vernachlässigt; muss allerdings dazu sagen, dass ich sie schon immer mit einem sehr distanzierten Blick betrachtet habe. Vielleicht einem zu distanzierten Blick. Aufgefallen ist mir dies auch neulich wieder, als ich die einschlägigen Werke von Marcuse gelesen habe.

Mit freundlichen Grüßen,
Frederik Weitz