23.05.2013

Sebastian Fitzek: Seelenbrecher. Wenn der Perspektivwechsel misslingt.

Nachtrag [31.7.2017]
Wie immer entwickle ich im Laufe der Zeit meine Ideen weiter. Die folgende Darstellung beruht noch auf einer einfacheren Betrachtung, die Erzählperspektive als Begriff nutzt, wo ich später Erzählsituation sage. Da es eher eine launige Betrachtung ist, finde ich das nicht schlimm.
Im übrigen bin ich der Ansicht, dass die Diskussion um die Erzählmittel in dieser Weise Schriftstellern wenig nützt. Sie ist auch für die Literaturwissenschaft immer eine umstrittene geblieben und in Deutschland durch neuere Erzähltheorien aus Frankreich, insbesondere Genette, verdrängt worden.

Kaum habe ich mit Sebastian Fitzeks Seelenbrecher angefangen, müsste ich ihn eigentlich schon wieder zur Seite legen. Fitzek schafft es nämlich, zwischen der auktorialen und der personalen Erzählperspektive hin- und herzuspringen, was wohl dramatisch wirken soll. Doch diese Dramatisierung wirkt unfreiwillig komisch.
Hier eine Stelle, die mich besonders stört:
Es dauerte nur wenige Sekunden, da stürmte ein kahlköpfiger Rettungsarzt mit einem Ohrring in das Zimmer und kniete neben ihr nieder. Offenbar waren die Einsatzkräfte bereits mit einem Unfallwagen angerückt. Auch kein gutes Zeichen.
Fitzek, Sebastian: Der Seelenbrecher. München 2008, Seite 3.
Der Roman beginnt mit einer Folterszene, die brutaler nicht sein könnte (Seite 1). Ein unbekannter Mann dringt mit einem glühenden Lötkolben in die Vagina einer gefesselten Frau ein, zumindest wird dies explizit angedeutet. All dies schildert die Erzählung aus der Sicht der gefolterten Frau; doch nach dieser kurzen Passage springt die Szenerie in eine Art Hotelzimmer. Dort wacht die Frau scheinbar aus einem schrecklichen Traum auf, so dass die Folterung möglicherweise gar nicht real war. Der Autor lässt dies in der Schwebe. Das ist kein besonders toller Trick und wir kennen ihn auch ähnlich aus Die Therapie. Doch der Wechsel der Bewusstseinszustände ist nicht das, was ich kritisiere. Im Gegenteil ist er eine typische Technik, die in der klassischen Literatur genauso ihren Platz findet wie in der modernen. An dieser Stelle kann man dem Autor zwar Effekthascherei vorwerfen, aber andere, auch wesentlich besser geschriebene Romane machen das auch.
Um meine Kritik zu verdeutlichen, erkläre ich zunächst die Erzählperspektiven.

Erzählperspektiven

Folgt man dem klassischen Schema der Erzählperspektive, so, wie man es in den Schulbüchern findet, unterscheidet man bei Erzählungen drei Typen: den Ich-Erzähler, den personalen Erzähler und den auktorialen Erzähler.
Man kann diese Erzähler durch ihren Standpunkt unterscheiden und dies durch eine fiktive Kamera ganz gut erläutern. Beim Ich-Erzähler wäre diese Kamera direkt in den Augen des Protagonisten. Wir als Leser nähmen alles durch ihn wahr, könnten seine Gedanken hören und erlebten seine Geschichte aus seiner Perspektive mit. Der personale Erzähler hat seine Kamera dicht hinter seiner Hauptperson aufgebaut und verfolgt diesen. Das Geschehen wird aus dieser ebenfalls begrenzten Perspektive dargestellt. Den personalen Erzähler nennt man auch manchmal (fälschlicherweise) Er-Erzähler. Schließlich gibt es den auktorialen Erzähler, der (etwas unglücklich) auch allwissender Erzähler heißt. Die Kamera steht dabei gleichsam "außerhalb" der Welt und muss nicht mehr ihren physikalischen Gesetzen gehorchen.
Zwischen den Erzählertypen gibt es fließende Übergänge. So kann ein personaler Erzähler die Gedanken seines Protagonisten kennen, wie dies häufig in Romanen von Stephen King zu finden ist:
Als das ›Falcon‹ im Jahre 1973 eröffnet wurde, dachte Elmer Curtie, dass seine Kundschaft hauptsächlich aus Leuten bestehen würde, die mit dem Bus unterwegs waren - der Busbahnhof war gleich nebenan und wurde von drei verschiedenen Gesellschaften angesteuert: Trailways, Greyhound und Aroostook County. Er hatte allerdings nicht bedacht, dass ein hoher Prozentsatz der Busreisenden aus Frauen oder Familien mit kleinen Kindern bestand. Von den anderen führten viele ihre Flaschen in braunen Tüten mit sich und stiegen überhaupt nie aus dem Bus aus. Und jene, die ausstiegen - meistens Soldaten oder Seeleute -, wollten auch nur auf die schnelle ein oder zwei Bier trinken - zu mehr war bei einem Zwischenaufenthalt von zehn Minuten auch gar keine Zeit.
King, Stephen: Es. München 1990, Seite 33 f.
In solchen erläuternden Sätzen springt die Perspektive beständig von einer Person (Elmer Curtie) zu einem überblickenden Erzähler und wieder zurück. Dabei ist nicht wirklich klar, ob jener Elmer reflektierend zusammenfasst, was er erlebt oder erfahren hat oder ob hier ein allwissender Erzähler eingreift und die nötigen Hintergrundinformationen liefert. Diese Erzählsituation, halb zwischen dem personalen und dem auktorialen Erzähler und halb zwischen dem erlebenden und dem reflektierenden Erzähler, ist typisch für Stephen King. Manchmal findet sie sich bei Hemingway, so zum Beispiel in seiner Geschichte Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber (in: Gesammelte Werke Band VI).
In Schulbüchern werden so ganze Werke einem bestimmten Erzählertyp zugeordnet. Doch diese Einteilung ist zu unflexibel. Wir haben es mit Vermischungen und Verschiebungen der Perspektive zu tun. Siehe das Beispiel oben. Faszinierend ist aber auch der Beginn von Thomas Manns Der Zauberberg, der das langsame Hineingleiten aus einer auktorialen Position heraus in eine personale sehr deutlich zeigt. Je näher Hans Castorp dem Lungensanatorium kommt, umso mehr wird aus seiner Sicht geschildert.
Die moderne Erzähltheorie, Stanzels Theorie des Erzählens und Genettes Die Erzählung zum Beispiel, hält noch etwas komplexere (und vor allem flexiblere) Raster bereit. Ich habe hier vereinfacht, weil es für meine Demonstration reicht.

Der Seelenbrecher

Wenn Fitzek aus der Perspektive einer gefolterten und verwirrten Person schreibt, muss er als Unterhaltungsautor natürlich nicht eine strenge Innenperspektive einhalten. Aber er sollte sich schon ein Stück weit daran halten, was die Person sieht und vor allem, wie sie es sieht, also ihr Innenleben "nachahmen". Ein Mensch, der gerade aus einer fürchterlichen Fantasie aufwacht und sich in einer vollkommen fremden Situation wiederfindet, hat wohl leicht andere Probleme, als folgender Satz es andeutet:
Die flächige Tagesdecke auf dem altersschwachen Doppelbett war ähnlich verdreckt und mit ebenso vielen Brandlöchern übersät wie die grün-bräunliche Auslegeware. (Seite 2)
Mit dieser Art von Sätzen wird eine auktoriale Erzählsituation gekennzeichnet. Sie ist wesentlich distanzierter als die personale. Diese Kombination aus einer personalen Erzählsituation, die fast schon eine Innenperspektive ist und die ständigen Einsprengsel eines distanzierten Erzählers zerbrechen die ganze Perspektive. In meinem oben zitierten Beispiel scheint diese fiktive Kamera des Erzählers momenthaft in eine ganz andere Position zu springen; dies hemmt sowohl den Fluss und die Logik der Geschichte, als sie auch die mögliche Identifikation des Lesers mit dem Opfer zerstören.
Nachdem ich Hemingway, vor allem die Geschichte von Francis Macomber, gelesen habe, muss ich zwar meine Meinung zum Perspektivwechsel revidieren. Hemingway springt sehr oft von einer Person zur nächsten und er nutzt nicht nur den personalen, sondern auch den auktorialen Erzähler, aber es gibt einen Grundton in dieser einen Erzählung, die einem ironisch-tragischen Ton gehorcht. Dazu gehört auch die sehr ruhige Art und Weise des Erzählens.
Dagegen wirkt Fitzek sehr gehetzt, eben sehr dramatisch. Dazu passen die distanzierten, rein "empirischen" Sätze überhaupt nicht. Das Detail, dass der "kahlköpfige[r] Rettungsarzt mit einem Ohrring" geschmückt ist, ist völlig überflüssig. An diesem Satz ist dann auch noch besonders delikat, warum der Rettungsarzt gerade einen Ohrring dabei hat und zum Beispiel nicht eine Arzttasche. Durch die Grammatik ist der Satz zweideutig.
Halten wir also fest: Perspektivwechsel sind zwar nicht generell ungünstig, sollten aber mit Vorsicht genutzt werden. Vor allem sollte ihr Ton zueinander passen. Hemingway schafft das, indem seine Geschichte sich natürlich um die Beziehung seiner Figuren dreht und der Perspektivwechsel als Technik die Konflikte verdeutlicht, die nie wirklich ausgetragen werden, sondern sich eher in spitzen Bemerkungen und missachtenden Handlungen ausdrücken. Eine so handlungsreiche Szene wie die von Fitzek geschilderte bietet selten Raum, psychologisch feinsinnige Andeutungen zu machen.

Was mich außerdem geärgert hat: die gefolterte Frau befindet sich noch in dem Zimmer, in dem die Polizei sie gefunden hat. Doch plötzlich scheinen sich alle Anwesenden um die Vermieterin des Hotelzimmers zu kümmern und sie zu verhören (Seite 4). So jämmerlich ist eine Rettungssituation und eine Sicherung des Tatorts wohl selten erzählt worden.
Mal sehen, wie lange ich brauche, bis ich diesen Roman (wahrscheinlich mit angeekeltem Gesicht) in die Bibliothek zurückbringe. Ich werde berichten.

4 Kommentare :

johannes flörsch hat gesagt…

Ich habe gestern mit einem Mann telefoniert, der die Hintergründe in der Verlagswelt sehr gut beschrieb. Aus seinen Hinweisen wurde deutlich, warum Schriftsteller wie Fitzek (ohne dass wir explizit über ihn gesprochen hätten) so vordergründig erfolgreich sind, mit anderen Worten: hohe Auflagen erzielen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ich habe diesen deinen Beitrag gerne und mit Gewinn gelesen. Kleiner Tipp: Die Passauer Bücherei betreibt einen „Lieferservice“ – vielleicht bietet deine Bücherei etwas Ähnliches an und holt das Buch ab. Dann musst du dich nicht mehr mit dem Ekelpaket befassen. Ich fand das, was ich von Fitzek gelesen habe, ziemlich scheiße. Oder um es in Richtung Indie-Autoren herauszuschmettern: „So etwas könnt ihr auch!“ Schon lange!

Gruß,

johannes

Frederik Weitz hat gesagt…

Lieber Johannes!

Vielen Dank für dein Lob. Ich werde wohl in Zukunft häufiger auf klassische Theorien des Erzählens zurückgreifen, nicht weil sie einfacher sind, sondern weil viele Leser das schon mal in der Schule gehört haben. Und der Perspektivwechsel scheint tatsächlich ein großes Thema zu sein. Jedenfalls sind die Artikel sehr gefragt.
Nebenbemerkung für alle anderen Leser: Regeln und Tipps kann ich zurzeit nur sehr speziell abgeben. Es gibt nicht den guten Perspektivwechsel, es gibt nicht die Formel dafür. Möchte ich behaupten.

Was Fitzek angeht: jedem jungen Autoren würde ich diesen Erfolg wünschen, auch wenn die Erzählung hanebüchen ist und der Stil zum Davonlaufen. Bei großen Verlagen kann ich das allerdings kaum nachvollziehen. Allerdings habe ich mal eine Arbeit über Konsalik geschrieben und der wird ab Anfang der siebziger Jahre (soweit ich das beurteilen kann) so richtig schlecht. Es ist also kein zeitgenössisches Problem. Und ich denke, wenn wir ins 19. Jahrhundert schauen und genauer hinschauen, als dies unser literarischer Kanon vorgibt, werden wir ebenfalls viel schlechte Literatur finden.

Was die Bibliothek angeht: ich wohne in Berlin. Berlin! Berlin!!! Die nächste Bibliothek ist 2 Minuten zu Fuß entfernt. Die hat noch eine ganze Menge schlechter Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Bei euch auf dem Land muss man ja erst die Kühe zur Seite schieben, damit man die Tür öffnen kann. Da ist ein Lieferservice schon ganz praktisch.

Äußerst lesbar (und von Johannes Flörsch): Spruch des Tages
Und sehr hilfreich (ebenfalls von J. Flörsch): Lektorat

Frederik

johannes flörsch hat gesagt…

Ja, ich weiß schon: Berlin. Aber mit den Kühen bei uns, da hast du wirklich recht – wir Passauer halten sie innerhalb des Hauses.

Konsalik kenne ich nicht, mit ihm ging’s mir wie mit Simmel: war in meiner Jugend absolutes Tabu. Zu seicht, hieß es. Bis ich mal das verordnete Vorurteil überwand und selbst nachschaute bzw. nachlas. Und siehe da: Simmel gefiel mir. Ich fand die zwei, drei Romane, die ich im Anschluss las, spannend und alles andere als seicht.

Nochmal danke für deinen Hinweis auf meine Seiten!

johannes

Frederik Weitz hat gesagt…

Lieber Johannes!

Genau umgedreht ist mir dasselbe mit Goethe passiert. Goethe sollte immer so toll und gleich Deutschlands größter Schriftsteller sein. Und obwohl ich in meiner Jugend schon so ziemlich alles gelesen habe, was ich unter die Finger bekommen habe, habe ich mich an Goethe nicht herangetraut. Weil er eben, im Gegensatz zu Konsalik, nicht seicht, sondern anspruchsvoll sei. Im Germanistik-Studium kommt man allerdings um Goethe nicht herum. Also habe ich dann schließlich doch Goethe gelesen. Heute besitze ich die Hamburger Ausgabe. Sehr viel habe ich noch nicht mit ihm gearbeitet (es gab sozusagen andere Literatur, die mich abgelenkt hat), auch bewundere ich ihn nicht; aber ich schätze ihn.
Konsalik kann durchaus als ein reiner Unterhaltungsschriftsteller gelesen werden. Das war ja wohl auch seine Absicht. Trotzdem: literaturwissenschaftlich ist er interessant und bietet eine ganze Menge an Themen an; gerade auch, weil er "nicht so gut" schreibt, unbedacht manchmal und linkisch, bietet er eine Fundgrube an rhetorischen und narrativen Figuren. Seine Romane unterhalten mich nicht, aber sie fordern meine analytischen Fähigkeiten heraus.
Deshalb zögere ich auch, all diese Kindle-Autoren als "schlecht" abzuwerten: Häufig entsteht, gleichsam am Rande ihres Textes, etwas Neues, ein Stück unreflektierte Kreativität. Und an dieser Stelle müsste man diesen Autoren vorwerfen, dass sie zu wenig für sich schreiben, zu wenig, um etwas äußerst Spannendes zu erfahren: dass man sich beim Schreiben verändern kann. Nicht immer zum Guten, wie man am Alterswerk von Konsalik liest (oder auch von Wolfgang Hohlbein).

Jedenfalls ist es schön, dass es dich gibt. Es ist immer angenehm, Menschen zu haben, die eigenständig und eigensinnig denken können und dazu unprätentiös stehen.

Liebe Grüße,
Frederik