11.10.2012

Warum die Erfahrung so wichtig ist

Jener E-Mail-Autor, den ich eben zitiert habe, suggerierte in einem Halbsatz, dass man doch auch manches zusammenfassen müsse und nicht selber lesen könne. Selbstverständlich ist das richtig. Trotzdem sollte man sich immer klar darüber sein, was man konkret macht. Wer eine Monographie zu Kant liest, liest nicht Kant selbst. Es ist durchaus in Ordnung, eine Monographie zu lesen und nur diese zu lesen. Nicht in Ordnung ist allerdings, jetzt zu behaupten, man habe das „Wesentliche“ von Kant verstanden.
Das liegt allerdings nicht nur daran, dass eine Monographie immer zusammenfassend ist, sondern auch daran, dass ein so komplexes Werk wie das von dem alten Königsberger nie zu Ende gelesen werden kann. Man versteht immer nur horizonthaft.

Was mich allerdings wirklich stört, ist diese Erfahrungsvergessenheit, die für die schwachsinnigsten und ideologischsten Behauptungen unserer Zeit verantwortlich zeichnet. Ein typisches Beispiel (und zugegebenermaßen auch ein offensichtlich sehr idiotisches) sind hierbei die Aussagen von gender-Gegnern, die nicht aufhören können auf Judith Butler herumzuhacken. Die wenigsten von ihnen allerdings haben Butler gelesen, geschweige denn, sich intensiver mit ihr auseinandergesetzt. Ihre Argumente holen sie aus dem Internet und meist von anderen gender-Gegnern.
Das aber heißt, dass diese Menschen keine Erfahrung mit Butler gemacht haben, sondern nur Erfahrungen mit Aussagen über Butler. Und dieser Unterschied wird dann gar nicht kritisch reflektiert.
Ich verweise hier noch einmal auf eins der grundlegenden Prinzipien der Phänomenologie Husserls, „dass »alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaftigen Gegenwart) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich gibt«.“ (zitiert nach Waldenfels, Bernhard: Grenzen der Normalisierung. Frankfurt am Main 1998, Seite 21)
Damit spricht Husserl von einer doppelten Naivität der Erfahrung: zunächst einmal von einer Naivität der Anschauung, die Dinge genau so zu nehmen, wie sie sich sinnlich geben; und zum zweiten von einer Naivität von Fundraum und Fundzeit, also wann und wo wir diese Anschauung und diese Erfahrung gemacht haben (und unter welchen Umständen).

Der Empirismus verwischt nun diese Grenzen. Er praktiziert zwar, wie Husserl das wollte, eine gewisse Art der anschaulichen Naivität, aber keinesfalls mehr die Naivität von Fundraum und Fundzeit. Und solche Leute glauben dann, dass sie, wenn sie etwas über Judith Butler gelesen haben, schon Aussagen von Judith Butler verstanden hätten.
Oder, um diesmal Waldenfels selbst zu zitieren:
"Empirismus bedeutet in unserem Zusammenhang eine Theorieform, die den Unterschied zwischen Was und Wie der Erfahrung einebnet, indem sie die Gesichtspunkte, nach denen Erfahrung sich organisiert, mit dem erfahrenen Was auf eine Stufe stellt. Solche Versuche misslingen schon auf der so genannten elementaren Ebene der Erfahrung. Bereits die Ähnlichkeit, die Hume zum eisernen Vorrat der Erfahrungsgesetze zählt, enthält Gesichtspunkte, unter denen etwas als ähnlich betrachtet oder behandelt wird. Diese Gesichtspunkte sind kein Merkmal des Betrachteten; denn unter bestimmten Umständen ist jedes jedem ähnlich oder unähnlich, und der Gegenstand würde unter der Last gegensätzlicher Relationsbestimmungen zusammenbrechen." (ebenda, Seite 24f.)
Man darf Husserls Versuch, zu einer wissenschaftlichen Methode zu kommen, durchaus kritisch sehen. Falsch allerdings wäre es, diese zu unterlaufen. Und insgesamt hat es auch etwas sehr beruhigendes. So bringe ich meinen Kunden immer wieder bei, dass eine Begriffsdiskussion damit beginnt, die Erfahrungen mit einem Begriff aufzuschreiben. Dies sollte (in einer Diplomarbeit) natürlich systematisch und abgekürzt geschehen und selbstverständlich entsprechend belegt (durch Zitate). Aber letzten Endes ist es nichts anderes, als eben eine solche Erfahrung.
Meine Kunden sind dann oftmals erstaunt, dass das (die Begriffsbildung) schon alles sei, was man zum Beginn einer wissenschaftlichen Arbeit zu tun habe (ok, es gibt auch andere Möglichkeiten, eine solche Arbeit zu beginnen, aber eine sichere ist eben diese). Aber ja: hierin zeigt sich eben auch die grundlegende phänomenologische Methode, der eben jene "Naivität" eigen ist, die ich oben beschrieben habe.

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