23.10.2012

Die Allgemeinplätze, die Argumentation und die Suggestion

In den letzten Tagen habe ich mich intensiver mit Cusslers Buch ›Eisberg‹ (München 1997) auseinandergesetzt und bin immer noch dabei. Ziel dieser Arbeit ist es auch, die Logik eines Kriminalfalles besser herauszuarbeiten und besser zu vermitteln. Nun sind gerade handlungsreiche Thriller nicht als Vorbilder für eine gute Logik zu nehmen. Und Cussler darf man schon gar nicht als vorbildlich bezeichnen. Dazu werde ich mich noch einmal äußern. Ich möchte hier allerdings auf ein Phänomen eingehen, das sich im Umfeld einer solchen Plotkonstruktion bewegt, dem Allgemeinplatz.

Regel und Verallgemeinerung

Der Allgemeinplatz formuliert zum Teil Regeln, die gar keine Regeln sind, sondern schlichtweg Verallgemeinerungen. Beispiele: „»Sie gefallen mir, wie jedes hübsche Mädchen einem Mann gefällt, …«“ (92); „»Alles in allem haben Sie eine Figur, die auf das Titelblatt des Playboy gehört.«“ (92). Und ebenfalls ganz besonders hübsch ist folgende Stelle, die ich etwas ausführlicher zitieren möchte:
»Ich finde es abscheulich«, mischte sich Tidi missbilligend ein und runzelte die Stirn über ihren großen braunen Augen [man denkt hier selbstverständlich an die allen Frauen eigenen Rehaugen]. »Unter der National Underwater und Marine Agency stellt man sich eigentlich eine Organisation vor, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Weltmeere wissenschaftlich zu erforschen. Ihre Unterhaltung scheint mir aber von Wissenschaft weit entfernt zu sein.«
Sandecker warf ihr einen tadelnden Blick zu. Darin war er Meister. Er sagte: »Sekretärinnen soll man sehen, aber sie sollten nicht zu hören sein.« (Seite 110)

Das Ersetzen des Mittelsatzes

Der letzte Satz ist wiederum ein solcher Allgemeinplatz. Allgemeinplätze ersetzen in einer Argumentation den so genannten Mittelsatz. Ein Mittelsatz vermittelt zwischen einem Obersatz (einem beobachteten Phänomen) und einem Untersatz (die geschlussfolgerte Konsequenz). Ich erinnere noch einmal an den typischen Syllogismus: Sokrates ist ein Mensch (Obersatz), alle Menschen sind sterblich (Mittelsatz), Sokrates ist sterblich (Untersatz).
Der Allgemeinplatz wirkt nun deshalb, weil er die schlussfolgernde Ableitung dem Leser überlässt. Und der Allgemeinplatz wirkt deshalb nicht, weil man mit ein bisschen Reflexion feststellt: das ist gar keine ordentliche Regel, die man als Mittelsatz verwenden kann (ich verweise hier allerdings auf das Problem der induktiven Schlussfolgerung, die meine eigene Darstellung wesentlich differenzierter werden lassen müsste).
Das Fatale an solchen Allgemeinplätzen ist, dass sie den Leser (oder den Alltagsmenschen) zu einer Schlussfolgerung zu drängen scheinen, die einer vernünftigen Argumentation sogar entgegenstehen kann. Denn der Einwand, den Tidi hier äußert, ist deutlich vernünftig. Doch das fällt beim ersten Lesen gar nicht auf, weil der von Sandecker geäußerte Spruch so auffällig „markig“ ist.

Die Suggestion

Trotzdem: der hier eher ungeschickt eingesetzte Allgemeinplatz weist auf eine literarische Technik hin, über die ich seit längerer Zeit bereits nachdenke. Wollte man meinen Kommentaren dazu eine Überschrift geben, dann könnte man diese als „unvollständige Schlussfolgerung“ betiteln. Eine andere Form ist zum Beispiel das Enthymem, also die Schlussfolgerung, bei der die ableitende Regel fraglos vorausgesetzt wird. Dies wäre zum Beispiel: „Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.“, wobei ich implizit mitmeine, dass eben alle Menschen sterblich seien.
Der Allgemeinplatz findet sich übrigens in einer rhetorischen Technik wieder, die ich meist als Suggestion bezeichne. Schauen wir uns ein Beispiel an, das hinreichend bekannt sein dürfte.
In dem Roman ›Harry Potter und der Stein der Weisen‹ taucht ein Zauberer auf, Professor Quirrell, der deutliche Züge der Inkompetenz und damit der Harmlosigkeit trägt: er stottert, er ist schreckhaft, und einiges mehr. Nun ist Quirrell aber gerade nicht diese harmlosen Figur, sondern der wichtigste Handlanger von Lord Voldemort in diesem Buch. Indem uns die Autorin allerdings durch solche äußeren Eigenschaften suggeriert, dass Quirrell harmlos ist, führt sie uns auf eine deutlich falsche Fährte. Dabei muss sie uns gar nicht anlügen. Denn sie überlässt ja die Schlussfolgerung (Quirrell ist harmlos, weil er stottert und ängstlich ist) uns Lesern.

Spannungsaufbau

An dieser Stelle bin ich mir zwar recht sicher, dass der Allgemeinplatz als Technik des Spannungsaufbaus eine wichtige Rolle spielt. Aber ich bin mir sehr unsicher, ob sich daraus eine sinnvolle Menge von Empfehlungen für den Schriftsteller ableiten lässt.
Jedenfalls ist dieses Thema jetzt bei mir eröffnet und so werde ich wohl in den nächsten Monaten und Jahren dazu immer mal wieder etwas veröffentlichen, bis ich eben die entsprechende Klarheit gewonnen habe.

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