09.09.2011

Abenteuergeschichte: Twilight

Ob das ganze, was ich in meinem Buch Abenteuergeschichten planen und schreiben geschrieben habe, auch mit Twilight funktionieren würde, fragt J. in einer Mail. Ja, tut es. — Da ich im Vorwort versprochen hatte, Verständnisfragen zu beantworten, gibt es hier nun eine kleine Analyse, nicht vollständig, aber weitreichend genug. Ich beziehe mich allerdings nur auf meine Notizen zu Twilight, da ich weder den Film noch das Buch besitze (selbstverständlich habe ich die Bücher gelesen und, soweit sich deren habhaft werden konnte, auch die Filme angeschaut).


Für alle diejenigen, die mit der folgenden Analyse Probleme haben: die grundlegenden Begriffe habe ich in meinem Buch Abenteuergeschichten planen und schreiben beschrieben. Es ist ein großartiges Buch, nebenbei gesagt (das bisschen an Eigenwerbung ist ja wohl erlaubt).
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Kriegsparteien I: die Eltern
Jeder Abenteuerroman besteht aus mindestens zwei Kriegsparteien. Twilight ist hier nun recht verwickelt. Zudem darf man das Wort "Krieg" nicht so wörtlich nehmen; die ersten beiden Kriegsparteien, die hier auftauchen, sind nämlich Vater und Mutter von Bella. Die beiden haben sich getrennt und befinden sich in einem Zustand, den man als gegenseitige diplomatische Missachtung bezeichnen könnte. Durch die Eltern und natürlich durch die Scheidung wird Bella automatisch zu einer nomadischen Figur. Sie ist an beide Seiten gebunden und muss vorsichtig auswählen, auf welcher Seite sie sich gerade in welcher Art und Weise bewegt. Dieser Konflikt ist nicht dramatisch, vor allem, weil er üblich ist und weil Bella von ihren Eltern geliebt wird und ihre Unabhängigkeit (also ihr Nomadentum) akzeptiert wird.

Kriegsparteien II: die neue Schule
Als Bella umzieht, wechselt sie natürlich die Schule. Hier gibt es wiederum einen "Krieg", den man keineswegs wörtlich nehmen darf. Zunächst gehörte Bella zu ihrer alten Schule (von der nie etwas gesagt wird, die also gar nicht auftaucht), dann aber zur neuen Schule, bzw. eben nicht, weil sie noch niemanden kennt. Sie ist unsicher, ob sie an der neuen Schule akzeptiert wird. Und auch das ist eine Form des Nomadentums. Ein Nomade zu sein heißt, nicht zu wissen, wo man hingehört. Alle Helden in Geschichten sind immer irgendwelche Nomaden.
Später, im zweiten Buch, wird Bella nicht wissen, ob sie zu Edward oder zu Jacob gehört. Die Kriegsparteien bestehen hier aus den Werwölfen und den Vampiren; und deren Protagonisten sind eben Edward und Jacob.

Kriegsparteien IIIa: die Morde
Neben der Liebesgeschichte entspinnt sich die Suche nach dem mordenden "Tier", dem mehrere Menschen zum Opfer fallen. Aus der Sicht der Menschen (und ich meine jetzt nur die normalen Menschen) gibt es einen Konflikt zwischen einem unbekannten Tier und den Menschen. Dementsprechend wird nach diesem Tier gesucht, um es zur Strecke zu bringen.
Dieser Konflikt allerdings basiert schon auf einer List (zu der Definition dieses Begriffes siehe mein Buch). Das "Tier" sind in Wirklichkeit Vampire, die eine Grenze übertreten haben. Diese Grenze ist doppelt: auf der einen Seite gibt es das Territorium der Cullens, der anderen Vampiren den Zutritt verwehrt (zumindest solange sie Respekt haben); auf der anderen Seite gibt es die moralische Grenze der Menschen, die gebietet, dass man nicht töten solle.
Die dritte Grenze, die nicht überschritten wird, ist die der Geheimhaltung. Die Menschen wissen nicht, dass Vampire existieren und — von Seiten der Vampire aus — sollte auch so bleiben. Die Morde bedrohen diese Geheimhaltung.
Eine Morde also zeigen eine Übertretung der moralischen Grenzen an, eine Kriegserklärung an die Menschen. Zum Krieg in einem echten Sinne kommt es allein deshalb nicht, weil die eine Kriegspartei (die Menschen) die andere Kriegspartei (die Gruppe von Vampiren) wegen der Geheimhaltung falsch interpretiert.

Kriegsparteien IIIb: Bedrohung der Geheimhaltung
Für die ansässigen Vampire, also die Cullens, sieht die Sache ganz anders aus. Für sie sind die fremden Vampire eine Bedrohung. Dieser Konflikt wird ermöglicht, weil sich die einen und die anderen Vampire durch ihren Lebensstil unterscheiden. Die einen Vampire töten Menschen, die anderen nicht. Der Konflikt wird aber auch dadurch ermöglicht, dass die Menschen nichts von den Vampiren wissen. Es gibt auf der Seite der Menschen ein Informationsdefizit.
Dies ähnelt von der Seite der Menschen in Bezug auf die Vampire dem Verhältnis des Kommissars in Bezug auf den Täter. Der Kommissar weiß nämlich nicht, wer der Täter ist, zumindest am Anfang nicht. Er verdächtigt meist mehrere Personen. Ähnlich verdächtigt der Vater von Bella ein unbekanntes Tier. Und genauso, wie der Täter versucht, seine Identität geheimzuhalten und alles Bedrohliche abwehrt, so versuchen die Vampire diese Bedrohung abzuwehren.
In Bezug auf die Geheimhaltung sind die fremden Vampire die Nomaden. Sie überschreiten die Grenze.

Konflikte und Wandel der Konflikte
Twilight bietet ein gutes Beispiel, wie sich verschiedene Kriegsparteien und verschiedene Nomaden in eine Geschichte einflechten. Dies geschieht jedes Mal durch Konflikte. So hat Edward zu Beginn mit Bella einen Konflikt, weil er sie auf eine Art und Weise begehrt, die er sich selber versagen muss (innerer Konflikt). Dieser Konflikt wird im Laufe der Geschichte durch den Konflikt zwischen Bella und ihrem Vater (verschweigen) und zum Teil zwischen Bella und Jasper ersetzt. Beide Konflikte spielen in der Geschichte allerdings nur eine nebensächliche Rolle; sie erhöhen die Spannung, insofern sind sie atmosphärisch wichtig, aber sie stehen nicht im Zentrum.
Viel wichtiger ist, dass die fremde Gruppe der Vampire spätestens ab dem Baseballspiel zu einer Kriegspartei wird, also ihr Nomadentum verlässt. Jetzt ist dieser Konflikt mit den Cullens deutlich.

Der Schatz
Mit dem Wandel des Konfliktes gibt es einen Wandel des wertvollen Objektes. Bis Bella von der Existenz der Vampire erfährt, ist die Information, dass es Vampire gibt, das wertvollste Objekt (für die Vampire, aber auch für den Leser). Auch danach bleibt diese Information konfliktbestimmend, bis Bella selbst zum wertvollen Objekt wird. Sie wird der Schatz, um den die beiden Vampirgruppen kämpfen.
Dieser Konflikt wird aber schon vorher angedeutet: die Indianer (bzw. die Werwölfe) sehen die Menschen als schützenswert an und stehen damit mit den Vampiren in einem (potentiellen) Krieg. Im ersten Buch wird dies aber lediglich angedeutet. Erst im zweiten Buch wird dieser Konflikt dann geschichtstreibend.
Es ist also ein grundlegendes Prinzip von Twilight, das wertvolle Objekt im Laufe der Geschichte zu tauschen oder zu ersetzen. Der Schatz materialisiert das Problem, das zwei Lager miteinander haben; wer den Schatz (endgültig) besitzt, hat für sich das Problem gelöst und den Sieg über das andere Lager errungen. Man kann also sagen: Bella besiegt Edward, als sie ihn dazu bringt, sein vampirisches Dasein zu offenbaren. Im Konflikt um die Information unterliegt er. Später, in dem Konflikt um Bella als wertvollstes Objekt, siegt allerdings Edward über den Vampir James.

Den Wandel gestalten
Eine Kunst, Geschichten zu erzählen, besteht darin, den Wandel dieser Konflikte und den Wandel des Schatzes, d.h. des wertvollen Objektes, zu gestalten. Nehmen wir als Beispiel noch einmal den Krimi: zunächst muss der Detektiv die Bedeutung der Spuren am Tatort erkennen. Das wertvolle Objekt sind also die Spuren und was sie verursacht hat. Sind diese Spuren gelesen, hat also der Detektiv den Schatz erobert, muss er als nächstes herausfinden, mit welchen Werkzeugen aus welchen Geschäften diese Spuren verursacht wurden.

Um ein bereits häufiger in diesem Blog erwähntes Beispiel zu nehmen: in Donna Leons Krimi Venezianische Scharade sucht Brunetti (der Kommissar dieser Krimiserie) zunächst die Spuren zusammen; ein roter Schuh und ein rotes Kleid und ein Mann, der diese trägt; der Mann ist tot und wird auf einem Feld hinter einem Autobahnstrich gefunden. Schon hier geht der Krimi in seine "zweite Phase": wo kommt der Mann her? Wo hat er die roten Schuhe gekauft?
Der nächste für den Detektiv zu erobernde Schatz sind also die Herkunft all der Dinge, die diese Spuren am Tatort verursachen. Bei Agatha Christie sind diese Phasen deutlicher voneinander getrennt. In Tod über den Wolken wird ein Mann mithilfe eines Blasrohres und eines vergifteten Pfeiles getötet; Hercule Poirot (der Detektiv) macht sich also auf die Suche nach dem Geschäft, in dem der Mörder ein solches Blasrohr kaufen konnte. — Wenn Sie weitere Krimis durchlesen, werden Sie immer wieder auf diese Abfolge der Phasen stoßen.
Es gibt noch eine dritte Phase im Krimi, die den eigentlichen Täter als Schatz hat: zu den Spuren und der Herkunft müssen jetzt Gelegenheit und Motiv gefunden werden. Wer hat was wann gekauft? Wer hatte überhaupt die Gelegenheit zu dem Mord und wer hatte ein Motiv?

Der Whodunnit
Im klassischen Whodunnit ist diese Phase der Moment, in dem der Detektiv alle möglichen Verdächtigen zusammenruft und seine Schlussfolgerungen darlegt. So erörtert Poirot in Christies Klassiker Zehn kleine Negerlein im letzten Kapitel, warum der Mörder nur eine bestimmte Person sein kann. In modernen Krimis sind diese drei Phasen nicht mehr so deutlich getrennt.

Autoren wie Simenon, Leon oder — um eine junge Autorin der deutschen Krimiszene zu nennen — Henrike Heiland (der Roman Der frühe Tod, den sie unter ihrem Pseudonym Zoe Beck veröffentlicht hat, ist großartig) gestalten ihren Plot wesentlich komplexer (d.h. die Phasen sind nicht so deutlich getrennt) und legen den Schwerpunkt der Geschichte auf diese dritte Phase. Krimis, die vor allem aus dem Lesen von Spuren bestehen (die ich als Indianer-Krimis bezeichne), findet man bei Agatha Christie oder Chesterton (Father Brown-Stories). Der Klassiker jedoch dürfte Doyle mit seinem Sherlock Holmes sein.


Simenon und die Gespenstergeschichte
Krimis, die ihr Gewicht auf die dritte Phase legen, also auf die Gelegenheiten und Motive des Täters, sind häufig sozialkritische oder psychologische Krimis. Der Klassiker dieser Art von Kriminalroman ist Simenon; aber auch Wilkie Collins, bedingt auch Dickens oder Balzac, Washington Irving (der die Kurzgeschichte Sleepy Hollow geschrieben hat) oder Mark Twain gehören zu dieser Art von Romanautoren. Derjenige Roman, der lange Zeit prägend war, ist Raskolnikov (früher: Schuld und Sühne) von Dostojewski. (Übrigens haben viele klassische Gespenstergeschichten einen ähnlichen Aufbau, nämlich die Suche nach dem Motiv, warum das Gespenst spukt. Typisch für solche Arten der Gespenstergeschichte ist wiederum Sleepy Hollow.)

Zusammenfassung
Twilight erreicht seine Komplexität der Geschichte durch innere Konflikte (allen voran Edward und Bella), durch mehrere Gruppen und Personen, die Nomaden sind (zunächst Bella, dann aber auch die Cullens und schließlich die fremden, feindseligen Vampire) und durch den Wechsel der Konfliktparteien.

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