04.10.2014

»Steigerung der Spannung« — Schreiben wie Stephen King IV

Stephen King gilt als eine Ausnahme unter den Unterhaltungsschriftstellern. Wenige seiner Kollegen haben so mit der Form und den Inhalten experimentiert wie er. Wenige beherrschen so gut die Klaviatur des Schreckens wie des subtilen Humors.
Dass seine Geschichten spannend sind, darf man kaum noch sagen, so selbstverständlich scheint dies. Was aber macht seine Geschichten so spannend?
Nachdem ich in der ersten Folge zu Alptraumhaften Szenerien geschrieben habe, in der zweiten zu Grandiosen Hauptdarstellern und in der dritten zu Langsame Entwicklung, möchte ich hier die Anmerkungen von Stephan Waldscheidt in Bezug auf den Spannungsaufbau betrachten.

Spannend muss ein Roman sein

Zumindest liest und hört man dieser Aufforderung immer wieder. Alle nicken, alle scheinen einverstanden. Nur: was ist damit gemeint? Wie viele großartige Begriffe erweisen sie sich schnell als hohl, mit wenig Füllung versehen.
Natürlich habe ich mich als Textcoach sehr um dieses Phänomen kümmern müssen. Ich hatte viele Kunden, deren erste Aussage über ihre Geschichte war, dass sie „ganz spannend“ ist. Was dies denn bedeute? habe ich gefragt. Und bekam als Antwort: er ist dramatisch, es gibt einen ganz unglaublichen Konflikt, bis zum Ende ist die Lösung nicht vorhersehbar.
Das alles ist nicht falsch, reicht aber nicht. Waldscheidt gibt hier einige Bedingungen an, die ich kurz benennen und dann erläutern möchte: 1) aktive Figuren; 2) fehlende oder schwache Motive, fehlende oder schwache Hindernisse; 3) unglaubwürdige Figuren.

Aktive Figuren

Dazu hatte ich bereits in der zweiten Folge einiges gesagt. Eine Figur muss handeln, und um handeln zu können braucht die Figur ein Motiv und eine Motivation. Wir können also die ersten beiden Punkte von Waldscheidt in einen Topf werfen.

Bedürfnisse und Motive

Fassen wir das ganze etwas psychologischer. Warum handeln Menschen? Weil sie ein Bedürfnis haben, das sie befriedigen wollen. Am Anfang steht also ein Bedürfnis und dieses Bedürfnis beruht auf einem Zustand des Mangels. Kein Mensch isst etwas, wenn er sich nicht hungrig fühlt. Und kein Mensch wird ein Buch lesen, wenn er sich nicht dadurch eine Verbesserung seines Zustandes erhofft, sei es die Zerstreuung der Langeweile, sei es eine Klärung durch eine bessere und übersichtlichere Ordnung.
Wir haben nun einen Mangel und ein Bedürfnis, dieses zu beheben; jetzt brauchen wir Motive. Motive entstehen oft aus dem, was in unserer Umwelt vorhanden ist. Viele Motive sind ganz gewöhnlich. Es geht um einen guten Beruf, um einen ansprechenden, aufmerksamen Ehepartner, und Kinder, ein Haus, Geld, und was man sich noch so vorstellen kann. Auch Ideale spielen eine Rolle, Gerechtigkeit zum Beispiel oder ein zuverlässiges Lebensumfeld. Das Ideal der Gerechtigkeit findet man häufig in Krimis. Das zuverlässige Lebensumfeld gehört zu manchen Thrillern und häufig zu Horrorromanen.

Handlungen

Nun fällt die Verwirklichung eines Motivs dem Protagonisten nicht einfach in den Schoß, sondern er muss dafür etwas tun. Und das ist eigentlich schon der ganze Zauber. Eine wichtige Sache gehört aber doch noch dazu: der Weg zur Verwirklichung des Motivs ist unklar. Fast jeder Unterhaltungsroman besteht aus dieser Suche nach dem Weg, wobei die Suche zugleich der Weg ist.

Identifikation

In der letzten Folge habe ich geschrieben, dass sich die Dramatik einer Geschichte nicht einfach so einstellt. Und es sind auch nicht die sensationellen Ereignisse, die uns eine Geschichte dramatisch finden lassen. Wir können Vulkanausbrüche, Serienkiller, Zombiehorden mit einem Achselzucken wegstecken, wenn nicht eine Figur uns durch die Geschichte führt, für die wir irgendetwas empfinden. Der Autor muss also in irgendeiner Weise dafür werben, dass der Leser die Figur sympathisch findet, zumindest Mitleid mit ihr hat oder seine düsteren Gedanken teilen kann.

Sympathie

Sympathisch zum Beispiel sind die sieben Kinder, die die Protagonisten aus Stephen Kings Es darstellen. Alle Kinder haben einen gesellschaftlichen Makel, eine Sprachstörung, die falsche Hautfarbe, die falsche Religion, eine überbehütende Mutter oder sie sind einfach ein Mädchen, das sich nicht wie ein richtiges Mädchen zu benehmen weiß, sondern eher wie ein Junge.
Sympathie ist ein wichtiges Motiv, zumindest für den Leser, und ich meine, viel wichtiger, als die dramatischen Ereignisse. Die dürfen natürlich nicht fehlen, aber sie sind eher gleichrangig anzusehen.

Die kleinen und die großen Konflikte

Die meisten Geschichten leben von einem großen Konflikt, von der Suche nach dem Mörder, von dem Untergang der Welt (der möglicherweise bevorsteht), von der nie erfüllten Sehnsucht. Der große Konflikt trägt durch die Handlung des Romans. Doch die kleinen Konflikte, der unaufmerksame Ehemann, die zickige Tochter, der launische Chef, all diese Konflikte machen eine Figur reich und tief. All diese kleinen Querelen und alltäglichen Sorgen zeigen einen Charakter von vielfältigen Seiten.
Zugleich sind dies genau die Nöte, die wir am besten nachvollziehen können, und die wir selbst zu Genüge kennen. Natürlich bewundern wir die großen Helden mit ihren kühnen Taten, aber wir fühlen uns auch gerne überlegen, wenn wir merken, dass der große Ritter vielleicht die Welt zu retten versteht, aber mit seinem pubertierenden Sohn längst nicht so gut zurecht kommt, wie wir das könnten.
Wir brauchen also aus zweierlei Gründen mehrere Konflikte: einmal, um den Charakter besser darstellen zu können, und einmal, um dem Leser das Gefühl zu geben, dem Protagonisten auch in gewissen Dingen überlegen zu sein.

Unglaubwürdige Figuren

Psychologie und Psychologisierung

Psychologie sollte ein Fach sein, mit dem sich Autoren gut auskennen sollten. Das ganze darf aber nicht in eine Psychologisierung münden. Wo liegt der Unterschied? Die Psychologisierung spricht direkt mit psychologischen Vokabeln, womöglich schiebt sie sogar psychologische Abhandlungen in den Roman hinein. Wenn ihr aber nicht hervorragende Ahnung von der Psychologie ab, dann gerät dies schnell in den Bereich der Lächerlichkeit. Selbst wenn ihr einen Psychologen auftreten lasst, der tatsächlich die Psychologie beherrscht, solltet ihr den Leser nicht mit langen Monologen ermüden.

Psychologisch stimmige Handlungen

Was wir also brauchen, ist etwas mehr als Psychologie. Wir brauchen die Handlungen, die zu einer glaubwürdigen Figur zusammen schmelzen. Dabei müssen wir gar nicht so streng vorgehen, denn auch Menschen, reale Menschen, die uns umgeben, sind längst nicht so einheitlich gebaut, wie wir das gerne glauben. Es geht eher darum, dass wir, wenn wir einen Charakter schildern, einen schüchternen, jungen Mann nicht brüllen lassen, dass wir ihn eher als ängstlich und vorsichtig schildern und dass er längere Zeit für eine Planung braucht und nicht einfach so in eine Situation hineinstolpert.

Eine Formel

Wenn wir das in einer Formel packen, dann sieht diese etwa so aus:
Mangel/Bedürfnis → Motiv (Ziel + Emotion [+ Wille]) → Plan + Handlungen
Wenn wir es mit einer Ich-Erzählsituation zu tun haben, dann taucht der mittlere Teil, also das, was hinter dem Motiv in den runden Klammern steht, in Form von „empirischen Beobachtungen“ auf. Dies kann dann zum Beispiel so aussehen:
»Hallo, Ben«, sagte sie, und ein seltsames Schweigen breitete sich zwischen den beiden aus — kein unangenehmes Schweigen, dachte Richie, sondern ein irgendwie bedeutungsvolles. Er verspürte einen Anflug von Eifersucht.
King, Stephen: Es, S. 359
Wir finden hier in dem Wort Eifersucht eine Art Mangel und zugleich ein Gefühl. Eifersucht gilt bei den Psychologen als ein komplexes Gefühl, das nicht nur aus grundlegenden Emotionen aufgebaut ist: die Eifersucht enthält starke Anteile von Erfahrung. Das wiederum bedeutet, dass wir als Autoren diese Erfahrung durch Rückblenden erzählen können, allerdings nicht erzählen müssen. Nervig wäre es nur, wenn der Autor eine Abhandlung über die Eifersucht einschieben würde (wobei man das nicht ausschließen sollte: in manchen Romanen funktioniert das tatsächlich).
Weiterhin haben wir in diesem Zitat Wörter, die auf Gefühle hinweisen: seltsam, unangenehm, bedeutungsvoll, Eifersucht.
Es fehlen hier das Ziel und die Handlungen. Das ist aber auch klar, da es sich bei den Gefühlen um unklare Gefühle handelt, die also einen sehr schwachen Handlungsimpuls mit sich bringen. Bei Stephen King finden wir häufiger auch genau das Gegenteil, wobei die Gefühle gleichsam im „Vorbeigehen“ eingeflochten werden:
»Hast du sie?« fragte Richie eifrig.

»Zeig mal«, sagte Richie fasziniert.

»Oh, Scheiße, Mann!« rief Richie lachend.
King, Stephen: Es, S. 374

Emotionen

Ergänzen wir also Waldscheidts Liste spannungsfordernder Mittel um die glaubwürdigen Emotionen. Und halten wir fest, dass manchmal Szenen nicht so sehr von ihren Handlungen leben, sondern von den Gefühlen, die die Protagonisten in dieser Szene haben. In diesem Fall zum Beispiel bereiten sich zwei Jungen auf einen „Einbruch“ in ein leer stehendes Haus vor. Sie haben sich, auf ihre kindliche Art und Weise, auf diesen Einbruch vorbereitet und begutachten gerade, inwieweit sie ihren Plan ausgeführt haben. In den Emotionen liegt der Geruch von Abenteuer und Spannung.
Alles andere, was unsere Formel angeht, ist an anderen Stellen passiert oder wird erst in Zukunft geschehen (zum Beispiel die ganzen „großen“ Handlungen). Wenn also diese Formel Sinn macht, und da sollte man als Schriftsteller immer vorsichtig sein, denn Formeln verleiten zu einer hölzernen Schreibweise, dann nur als eine über den Text großflächig verteilte Formel. (Ich werde darauf noch einmal in einem späteren Artikel zurückkommen müssen.)

„Ereignisse, die jeweils schlimmer, dramatischer, eben spannender sind als das Ereignis zuvor“

Zuspitzung

Waldscheidt spricht von einer Zuspitzung, widerspricht sich dann aber fast augenblicklich, bzw. schludert in seiner Analyse. Gut, man wirft Stephen King gerne vor, dass er sehr ausufernd und viel zu lang schreibt. Aber wenn man schon eine Empfehlung nach Stephen King gibt, darf man sich gerade auf diesen Vorwurf nicht stürzen, sondern muss sich vor Augen halten, was viele Menschen an ihm so sehr mögen.
Stephen King nutzt natürlich auch die Zuspitzung als ein Mittel des Spannungsaufbaus. Aber das ist noch nicht einmal seine wesentliche Technik. Seine Geschichten leben durch viele Nebenkonflikte, durch eine sehr genaue psychologische Beobachtung, die auf der Ebene der Handlungen entfaltet wird, durch ein reiches Innenleben seiner Protagonisten und durch Ironie und Humor.

Kai Meyer

Vergleicht man dies zum Beispiel mit den Büchern von Kai Meyer, dann zeigt Kai Meyer eine wesentlich stärkere Zuspitzung seiner Handlungen und dramatischen Ereignisse. Zum Schluss geht es eigentlich immer um die Rettung der gesamten Welt. Nur: nach drei Romanen wird das langweilig. Stephen King dagegen finde ich auch nach mehrmaligem Lesen nicht langweilig, selbst wenn es der gleiche Roman ist. Es habe ich gelesen, als ich 16 war, und seitdem begleitet mich dieser Roman. Meine Bücher von Kai Meyer habe ich mittlerweile entweder verschenkt oder in meine Klassenbibliothek gestellt (und ich sage nicht, dass er als Jugendliteratur untauglich sei: im Gegenteil, viele Kinder lieben ihn).

Spannung

Spannung ist kein einfaches Wort. Das liegt unter anderem daran, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Texte spannend finden. Schriftsteller tun gut daran, zu wissen, für wen sie spannend schreiben. Sie brauchen ein bestimmtes Zielpublikum. Nur ganz selten wird ein Roman eine solche Breitenwirkung besitzen, wie dies zum Beispiel bei Harry Potter war. Und deshalb ist es natürlich unsinnig, davon auszugehen, dass man einen spannenden Roman lesen wird, wenn ein anderer Mensch ihn spannend gefunden hat.
Für uns Literaturwissenschaftler bedeutet dies, dass wir uns dem Phänomen der Spannung immer von einzelnen Werken aus nähern müssen, nicht von einem allgemeinen Zusammenhang. Und wir müssen uns daran gewöhnen, dass wir auch die Spannung von solchen Werken untersuchen, die wir selbst nicht als spannend empfinden. Aber das ist nun eine ganz andere Sache, die nur auf ein Problem einer bestimmten Berufsgruppe hinweisen soll, und es ist nicht das Problem der Schriftsteller selbst.

Fünfter Teil: Dialoge schreiben

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