27.10.2014

Körperräume IV — Der beschriebene und der erzählte Raum

Und der letzte Abschnitt zu meiner Serie Körperräume. Die ersten drei Folgen haben den Raum eines Romans vor allem aus dem Blickwinkel betrachtet, was ein Autor bei der Planung beachten sollte. Diesmal geht es um die Darstellung des Raumes im Roman selbst, also ganz konkret um den geschriebenen Text und dem, was der Leser schließlich in die Hände bekommt.

Der beschriebene und der erzählte Raum

Eine Beschreibung ist, so hatte ich bereits in einem früheren Artikel gesagt, statisch. Sie kommt weitestgehend ohne Bewegungen und Handlungen aus (auch wenn wir gelegentlich eine Handlung beschreiben: dann aber benutzen wir einen Alltagsbegriff, der undeutlich ist). Beschreibungen sind nicht das, was eine Erzählung ausmachen, auch wenn sie gelegentlich dazugehören. Eine Erzählung besteht vorrangig aus Handlungen.
Damit bekommen wir die Begründung, warum Räume die Voraussetzung für eine Erzählung bilden, aber in der Erzählung selbst nicht ganz so wichtig sind, bzw. nicht so deutlich dargestellt werden müssen. Bleibt aber zunächst dabei, dass meine Darstellung in gewisser Weise paradox ist: ohne einen Raum funktioniert die Handlung nicht und deshalb ist der Raum besonders wichtig; doch die Erzählung stellt vorwiegend Handlungen dar und entsteht durch Handlungen, weshalb der Raum in den Hintergrund rückt. Damit ist der Raum zugleich wichtig und nicht wichtig.
Dass es sich hier um ein Paradox handelt, merkt man vor allem auch daran, dass sich Leser unglaublich über eine unlogische Darstellung von Räumen aufregen. Sie reagieren nicht auf einen gut konzipierten Raum; der Schriftsteller kann sich noch so viel Mühe geben, seinen Raum logisch zu erfassen und logisch darzustellen: er wird das Lob seiner Leser nicht dafür bekommen. Sobald aber der kleinste Fehler passiert, entdecken das die Leser und werfen es dem Schriftsteller vor. Wenn es um die Darstellung von Räumen geht, dann ist der Leser hier eindeutig an Defiziten orientiert.
Zumindest aber können wir jetzt die Aufgabe des Schriftstellers genauer bestimmen, wenn er Räume in seinen Roman einbindet. Auch hier gibt es wieder Tausende von Möglichkeiten. Auch hier muss ich euch letzten Endes wieder darauf verweisen, eure bevorzugten Schriftsteller zu studieren. Ganz exemplarisch möchte ich euch dies an einem Roman von Karl May, Die Pyramide des Sonnengottes, vorstellen.

Die Pyramide des Sonnengottes

Die Pyramide des Sonnengottes ist der zweite Roman eines fünfbändigen Werkes, das mit Das Schloss Rodriganda beginnt. Ursprünglich wurde dieser Roman als Fortsetzung unter dem Titel Das Waldröschen veröffentlicht. Im Untertitel hieß es Eine Rächerjagd rund um die Erde. In dieser ersten Fassung sind große Teile noch deutlich anders zusammengesetzt. Hier hat sich der Charakter der Fortsetzung wesentlich stärker in die Erzählstruktur eingeschrieben als bei der späteren Veröffentlichung als Buch. Wie bei vielen Werken von Karl May darf man auch hier den Eingriff fremder Autoren vermuten, die von den Erben beauftragt wurden, die Geschichten der veränderten Verlagskultur anzupassen. Das ist zwar für die Geschichte und die Schreibtechniken wenig interessant, aber zumindest zeigt dies, dass auch schon vor 100 Jahren ein Roman kein Heiligtum war, sondern sich dem Vergnügen der Leser angepasst hat.
Die Kapitel sind relativ klassisch aufgebaut. Sie erzählen immer einen Abschnitt aus der Geschichte, der für die Geschichte eine bestimmte Wendung bedeutet. Man könnte die Kapitel als eigenständige Geschichten bezeichnen, die meist nur recht geschickt aneinander gekettet sind. Da sie insgesamt aber einem größeren Ziel folgen, ergibt sich daraus natürlich ein Zusammenhang, der über das einzelne Kapitel hinaus weist.
In den folgenden Abschnitten werde ich aus diesem Roman den Beginn des dritten Kapitels genauer betrachten. Es heißt Im Kielwasser des Piraten. Hier verfolgt ein deutscher Trapper, der natürlich zugleich Arzt ist, ein gewisser Doktor Sternau, einen Bösewicht, der den Geliebten einer Freundin und Sohn eines Grafen entführt hat. Um diese Verfolgung aufnehmen zu können, muss Sternau ein Schiff besorgen. Damit beginnt das dritte Kapitel. Es schließt an das zweite Kapitel an, welches von Rheinswalden, Sternaus Heimatort, aus noch kurz die Reise nach Köln schildert. Dann erfolgt, im Übergang, ein kompletter Ortswechsel.

Die Orientierung des Lesers: der geographische Ort

Zunächst schildert Karl May die Lage des neuen Ortes:
An der Westseite Schottlands, da, wo der Clydefluss sich ins Meer ergießt, bildet dieses einen Busen, an dessen Südseite die unter allen seefahrenden Nationen berühmte Stadt Greenock liegt. Auf den Werften dieser Stadt sind viele Schiffe des Deutschen Lloyd und der deutschen Kriegsmarine gebaut worden, und manches stolze Orlogschiff sowie manches große oder kleine Handelsfahrzeug, das Greenock zum Geburtsort hat, durchflog die See.
Man könnte diese Stelle für wenig aufregend halten. Tatsächlich aber zeigt sie einige sehr wichtige Kriterien für eine Beschreibung. Karl May braucht nur ganz wenige Sätze, um die Bedeutung der Stadt zu unterstreichen. Nur sehr indirekt, aber trotzdem sehr deutlich, vermittelt uns der Autor das Bild einer belebten Stadt. Wir stellen uns sofort Szenen dazu vor. Und der ganze Trick beruht natürlich darauf, dass wir auf Bekanntes, bereits Gesehenes zurückgreifen, also genau die Bilder benutzen, die nicht von Karl May, sondern von uns selbst stammen.
Details sind für die Beschreibung natürlich wichtig. Aber genauso wichtig ist es, hier einige, wenige und bedeutsame Details herauszusuchen. Details sollen nicht wissenschaftlich präzise geschildert werden, sondern so, dass sie eine bestimmte Atmosphäre vermitteln. Sind es zu wenige Details, dann leidet darunter die Atmosphäre. Sind es dagegen zu viele, lenken diese von der Handlung ab, wodurch der Spannungsaufbau gefährdet wird.

Aktive Verben

Das ist die eine Sache, auf die ich euch hinweisen möchte. Die andere Sache sind die Verben. Verben: darauf muss man gerade junge Schriftsteller immer wieder hinweisen. Es gibt so viele, tolle Verben im Deutschen. Diese sollte man verwenden. Vor allem aber sollte man sie kennen. Es spricht aber nichts gegen die Verwendung von ganz schlichten Wörtern. Genau das macht Karl May hier. Ergießen, legen, bauen, durchfliegen - keines dieser Verben ist ungewöhnlich; nur das letzte ist metaphorisch, also zusätzlich bildhaft. Natürlich sind manchmal auch besondere Verben wichtig, aber trotz allem gilt auch hier die Regel: fasse dich einfach und kurz. (Ausnahmen bestätigen natürlich die Regel!)

Das Verb sein

Wichtig ist aber auch, dass das Wort sein selten gebraucht wird. Manche Linguisten zweifeln daran, dass es ein richtiges Verb ist. Zumindest wird es häufig für Definitionen gebraucht. Das ist für die Wissenschaft wichtig, aber nicht für die Literatur. Karl May jedenfalls baut in seinen Beschreibungen immer irgendwelche Vorgänge oder Handlungen ein, und seien diese auch sehr allgemein gehalten. Schon auf dieser Ebene, auf der Ebene einer Lagebeschreibung, sind also Handlungsmöglichkeiten mitgedacht. Und wenn wir eine solche Passage schreiben wollen, dann müssen wir gar nicht so kompliziert denken. Es reicht, wenn wir passende Verben für einen passenden Ort aussuchen und den Rest der Fantasie des Lesers überlassen.

Die Orientierung des Lesers: die Ausgangssituation

Wenn ich von der Leserorientierung spreche, dann meine ich vor allem die Orientierung in Zeit und Raum. Dies ist vermutlich deshalb auch so wichtig, weil wir uns selber über Zeit und Raum orientieren und so eine Ordnung entsteht, die uns den Roman übersichtlich macht. Es mag zwar Leser geben, die irgendwelche zusammengewürfelten Orte akzeptieren. Im allgemeinen erwarten wir aber einen bestimmten Zusammenhang. Und auch wenn dieser nicht präzise ausgeführt werden muss, sollte man ihn trotzdem nicht vernachlässigen. Man muss die „gute Ordnung“ im Hintergrund mitlaufen lassen. Allerdings sollte man auch nicht damit prahlen, was für eine umfangreiche und farbenfrohe Welt man sich ausgedacht hat, denn dabei verschwindet meist die Geschichte hinter den Beschreibungen, und das wollen die meisten Leser nicht lesen.
Ich hatte eben den Beginn des dritten Kapitels zitiert. Dieser liefert sowohl eine geographische, als auch eine allgemein kulturelle Beschreibung. Die nachfolgende dagegen ist auf eine bestimmte Situation gerichtet. Sie trägt bereits einige erzählende Elemente in sich. Insgesamt kann man die Beschreibung als eine ›von dem Allgemeinen zum Detail‹ bezeichnen (man könnte auch umgekehrt vorgehen, oder zum Beispiel vom Auffälligen zum Nebensächlichen, und einige andere Sachen mehr).
In einem der besuchtesten Hotels dieser Stadt waren Doktor Karl Sternau und der Steuermann Unger abgestiegen. Sie hatten sich hierher begeben, weil sich hier am leichtesten ein kleines Fahrzeug, wie sie es für die Verfolgung Landolas brauchten, kaufen konnten. Sie haben schon den ganzen Hafen und auch die Werften abgesucht, ohne ein solches zu finden, und unterhielten sich nun an der Gasthaustafel von dieser Angelegenheit. Gegenüber saß ein alter Herr, der ihre Worte hörte und daraufhin ihnen mitteilte, dass oben am Fluss eine prachtvolle Dampfjacht liege, die zu verkaufen sei. Er fügte hinzu, ein dort in der Nähe wohnende Advokat sei mit dem Verkauf beauftragt. Das Fahrzeug liege gerade vor der Tür der Villa, die dieser bewohne.
Karl May fährt also mit einigen Details fort. Diese sind nicht wirklich wichtig, verankern aber die Geschichte. Das Hotel spielt zum Beispiel keine weitere Rolle. Und dass es besonders berühmt ist, ist tatsächlich eine komplett überflüssige Information, zumindest in Bezug auf das Hotel selbst. Für Karl May allerdings ist es typisch. Es ist diese „Für meinen Helden nur das Beste“-Haltung. Diese muss man natürlich nicht mitmachen.

Detail und Atmosphäre

Eine ganz andere Sache ist an dieser Stelle ebenfalls wichtig. Die Stadt wird nicht einfach nur beschrieben, sondern auch hier werden einige besondere Orte ausgewählt, die natürlich in Bezug auf die Handlung eine Rolle spielen. Karl May nun beschreibt einige, wenige und recht banale Handlungen seiner Helden, und sofort kann er seiner Geschichte noch ein wenig Atmosphäre beifügen. Wir haben es nicht mehr nur mit der Stadt zu tun, sondern mit einigen typischen Gebäuden darin. Der ganze Trick dabei ist, dass sich die Orte und die Handlungen gegenseitig ausdifferenzieren und konkret machen. Wir können uns im Prinzip darauf verlassen, dass wir, solange wir konkrete Handlungen schildern und dies in vollständigen deutschen Sätzen niederschreiben, automatisch konkrete Orte mit schildern.

Zusammenfassung und indirekte Rede

Eine letzte Sache ist zu erwähnen, ein Textmuster, das von vielen jungen Schriftstellern selten oder gar nicht benutzt wird. Die Anekdote nutzt die Zusammenfassung von Handlungen, um kurz zu bleiben. Man erfährt von dem Restaurant, in dem die beiden Helden tafeln, rein gar nichts, außer dass dort ein alter Mann sitzt, der einen entscheidenden Hinweis gibt. Die beiden Protagonisten wiederum müssen an dieser Stelle nicht genauer beschrieben werden. Das Gespräch wird durch eine indirekte Rede wiedergegeben. So kann sich Karl May sehr kurz fassen und trotzdem einen logischen Aufbau beibehalten. Diese kurze Passage ist deshalb wichtig, weil die Helden nicht einfach von einem Ort zu dem anderen springen. Sie markiert einen Übergang. Da sie aber gleichzeitig eher nebensächlich ist, würde sie, wenn man sie länger schildert, den Spannungsaufbau unterbrechen. Dieses Textmuster ist also ein Kompromiss zwischen logischer Abfolge und Spannungsaufbau. Auch hier solltet ihr euch ein wenig Zeit nehmen, und solche Übergänge zwischen Orten und zwischen wichtigen Handlungsszenen studieren. So könnte man zum Beispiel bei Harry Potter feststellen, dass die indirekte Rede in diesen Büchern nicht existiert. Joanne Rowling benutzt andere Techniken, um Zeiten zu überbrücken, die für die Handlung nicht wichtig sind. Ein Theodor Fontane (um mal einen Zeitgenossen von Karl May zu nennen) arbeitet mit anderen Mitteln als ein Ernest Hemingway, und bei Edgar Wallace finden wir wiederum andere Mittel als zum Beispiel bei Raymond Chandler. Hier lohnt es sich, zu sammeln. Man mag zwar sagen, dass die unwichtigen Szenen zu unwichtig sind. Aber sie sind eben nur für die Handlung nicht besonders wichtig, für die Stimmigkeit des Buches dagegen gehören sie notwendig dazu. Wenn solche Szenen fehlen, so kurz sie auch sein mögen, kann es geschehen, dass der Roman nicht mehr nachvollziehbar ist und sich die Leser rasch langweilen.

Die Orientierung des Lesers: die Annäherung

Kehren wir von diesem längeren Umweg zurück. Textmuster sind einer der wichtigsten Aspekte für das Schreiben von Erzählungen. Sie entstehen aber auch nebenher und solange man auf eine gute Charakterisierung, ein lebendiges Erzählen, die Leserorientierung und den Spannungsaufbau achtet, wird man vieles richtig machen, ohne sich intensiv damit beschäftigt zu haben.
Wir haben nun die geographische Beschreibung betrachtet, dann den raschen Überblick, den der Autor zu einer Situation gibt, und kommen nun zu einer weiteren, kleinen Passage, die einfach deshalb interessant ist, weil sie zwei Orte miteinander verknüpft. Auch diese Szene ist für die eigentliche Geschichte fast nebensächlich. Sie dient aber der Logik der Erzählung. Sie macht die Geschichte glaubwürdig.
Das folgende Zitat schließt sich nahtlos an die bisher zitierten Stellen an:
Sternau dankte ihm für diese Mitteilung und machte sich nach beendigtem Mittagsmahl sofort mit dem Steuermann auf, die Jacht anzusehen. Sie hatten nur den Hafen bis dahin untersucht, wo der Fluss in diesen mündet, jetzt aber schritten sie am Ufer weiter aufwärts und nach einiger Zeit entdeckten sie die geschilderte Jacht, die am Ufer vor Anker lag. Es war ein ausgezeichneter Schnelldampfer, vierzig Meter lang, sechs Meter breit und zehn Meter tief, mit zwei Masten, Takel- und Segelwerk versehen, um den Dampf durch die Kraft des Windes zu unterstützen, sodass es kaum ein anderes Schiff mit der Geschwindigkeit einer solchen Jacht aufzunehmen vermochte. Da ein Brett das Ufer mit dem Bord verband, gingen sie vorläufig an Deck. Die Luken waren offen und auch die Kajüte war unverschlossen.
Betrachtet man diese verschiedenen Stellen nur mit einer linguistischen Sicht, dann ist auffällig, dass erst an dieser Stelle genauere zeitliche Angaben auftauchen. Wer meinen Blog und meinen Begriff der Verortung kennt, der weiß, dass sich damit nicht nur den Raum und die Angaben des Raumes meine, sondern auch die Zeit und die genaueren Angaben dazu. Wer sich dafür interessiert, welche Hintergründe für diese Definition eine Rolle spielen: Hier handelt es sich um Gedanken aus der Phänomenologie, insbesondere der von Schütz und Luckmann, deren Buch Strukturen der Lebenswelt für die Soziologie einen enormen Einfluss gehabt hat. Die Grundidee dieses Buches besteht darin, die Lebenswelt ganz aus der Sicht des einzelnen Menschen zu beschreiben. Damit aber wird dieses Buch eben auch für Schriftsteller sehr interessant, weil diese häufig aus der Ich-Perspektive erzählen.
Jedenfalls taucht jetzt erst die Zeit deutlicher durch Markierungen in den Sätzen auf: „Mittagsmahl“, „bis dahin“, „jetzt“ und „nach einiger Zeit“. Nichts großes, nichts, was die Welt bewegt, doch damit wird deutlich, dass die Erzählung von der Beschreibung zur Schilderung von Handlungen zurückkehrt.

Konventionen des Schreibens

Vermutlich werdet ihr euch auch fragen, warum ich auf solchen Kleinigkeiten so herumreite. Tatsächlich bietet uns Karl May hier aber eine Abfolge kleiner Textmuster, die so allgemein gültig ist, dass sie einen für den Schriftsteller wichtige Schablone darstellt. Sie wird natürlich immer wieder variiert und teilweise auch aufgebrochen. Grundsätzlich aber kann man drei Schritte feststellen:
  • Zunächst wird der Leser rein geographisch an einem Ort orientiert. Die Zeit taucht hier sehr allgemein durch Merkmale auf, die für eine Epoche typisch sind. Ein bestimmtes Leben oder sogar bestimmte Handlungen werden nicht thematisiert.
  • In einem zweiten Schritt tauchen die Protagonisten in einer Situation auf. Die Handlungen werden aber noch zusammengefasst und nicht an eine ganz konkrete Abfolge gebunden.
  • Schließlich tauchen deutlich zeitliche Markierungen auf und damit auch ganz konkrete Handlungen. Ab hier beginnt dann die eigentliche Szene.

Schablonen und die Variation

Solche Schablonen sind für Schriftsteller wichtig. Im Zweifelsfall kann man sie wiederholen (und Karl May zeigt, dass man sehr unterhaltsamen Romane schreiben kann, ohne solche Schablonen wesentlich zu verlassen). Spielen mehrere Szenen an bereits bekannten Orten, kann man eine solche Orientierung sehr abkürzen. Und natürlich kann man diese zahlreich variieren. Wenn ich solche Empfehlungen gebe, gibt es immer wieder Klagen, dass ich damit die schriftstellerische Freiheit einschränken würde und ein solches Vorgehen nur zu einer hölzernen Erzählung führt. Das ist aber nicht richtig. Gerade Unterhaltungsromane bestehen aus zahlreichen Konventionen und Konventionen sind nun einmal Wiederholungen und Gewohnheiten. Auf der anderen Seite sind kleine Variationen bei diesen Schablonen sinnvoll und bequem. Ich könnte euch dies an Karl May ganz wunderbar zeigen. Trotz seines sehr typischen Aufbaus verändert er diesen mal durch eine kurze historische Anekdote, mal durch einen bildlichen Ausdruck, mal durch ein Zitat aus dem Kulturgut eines Volkes. Der grundsätzliche Aufbau wird damit überhaupt nicht unterbrochen. Und trotzdem werden die Sätze und die Darstellung variiert.

Eine Reiseschilderung

Ich möchte hier noch eine Stelle einfügen, die für sich spricht. Karl May ist dafür bekannt, dass er Reiseromane schreibt. Gleichzeitig sind diese aber eben auch Abenteuerromane. Sternau hat die Jacht gekauft. Nun macht er sich mit seinem Begleiter an die Verfolgung des Piraten Landola. Der Rest des Kapitels schildert einen Kampf auf offener See, die weitere Verfolgung des Piraten und schließlich seine Gefangennahme. Zunächst aber muss Karl May den Raum und die Zeit überbrücken, bis seine Protagonisten auf den Piraten treffen. Dies geschieht folgendermaßen (und bitte achtet dabei auf die Bindestriche, die zugleich eine „Lücke“ im Leben der Protagonisten darstellen):
Bald dampfte die Jacht dem Clyde hinab, dem Meer entgegen und einem Ziel zu, das noch niemand bestimmen konnte. Nur so viel war zu vermuten, dass Kapitän Landola an der Westküste Afrikas zu suchen sei. -
Man war glücklich über den der Seefahrt so gefährlichen Meerbusen von Biscaya gekommen, der von den Schiffern der Matrosenkirchhof genannt wird, und legte, um Nachforschungen anzustellen, bei den Azoren, bei den Kanaren und den Kapverdischen Inseln an, konnte aber nichts erfahren. Nun ging Sternau nach St. Helena, wo er seinen Kohlenvorrat ergänzen wollte, und fand hier endlich die erste Spur. Kapitän Landola hatte mit seiner ›Pendola‹ wieder hier angelegt, um Wasser einzunehmen, und war nach Süden gesegelt. Nun stand zu erwarten, dass man in Kapstadt Weiteres von ihm hören werde, und deshalb hielt Sternau auf das Kap der Guten Hoffnung zu. -
Die Jacht ›Roseta‹ befand sich einige Grade nördlich vom Kap. Es war früher Morgen, als Kapitän Unger in die Kajüte kam, wo Sternau sich befand und ihm meldete, dass in West ein Dreimaster in Sicht sei. Man hatte einen Neger an Bord, einen ehemaligen Matrosen Landolas, den Unger zufällig in einer Hafenstadt getroffen und für die ›Roseta‹ angeheuert hatte.

Der Handlungsraum

Schließlich findet sich bei Karl May der Handlungsraum. Hier gibt es wiederum zwei sehr typischer Arten.

Dialoge ohne Raum

Im Dialog tritt der Raum manchmal komplett zurück. Vergleicht man dies mit Stephen King, dann ist das tatsächlich ungewöhnlich. Bei Stephen King handeln die Figuren sehr viel stärker, wenn sie miteinander sprechen. Dadurch ist auch die Umgebung präsenter.
Bei Karl May dagegen, der sonst das Innenleben seiner Protagonisten wenig schildert, werden hier die Gefühle besonders deutlich. Es gibt also eine enge Verbindung zwischen dem Gefühlsleben der Figuren und dem Dialog. Der Raum ist dann nur dazu da, um diesen Dialog zu motivieren. Aber die Handlungen (also die Sprechhandlungen des Dialogs) haben mit dem konkreten Raum wenig zu tun.
Dies ist die eine Form, in der Karl May den Handlungsraum nutzt (als ungenannt und vorausgesetzt eben).

Mauerschau

Die andere Form ist dann diejenige, wie wir uns das für gewöhnlich vorstellen. In dem betreffenden Raum tauchen Gegenstände auf, die für den Protagonisten interessant sind. Wenn es dabei zu Dialogen kommt, dann begleiten sie die Handlungen. Die folgende Stelle ist auch deshalb interessant, weil sie einer Theatertechnik nahe steht, die man Mauerschau nennt. Man kann auf dem Theater zum Beispiel keine Schlachten darstellen. Um hier trotzdem Handlungen mit vielen Menschen zu schildern, lässt man zwei Menschen eine solche Szene „beobachten“. Der Zuschauer erfährt über die Kommentare, was dort, in einem imaginären Raum, passiert. Ein Roman muss natürlich auf eine solche Technik nicht direkt zurückgreifen. Er könnte auch ganz direkt das Geschehen schildern. Aber durch eine solche Mauerschau kann man Dialoge einführen, die auf der einen Seite den Text lebendiger machen und auf der anderen Seite die Protagonisten stark in ihrer Umgebung verankern. Insofern ist diese Technik sehr empfehlenswert:
Dieser Neger besaß ein scharfes Sehvermögen und hatte das Schiff vom Mast aus mit bloßem Auge eher entdeckt, als es von Unger mit dem Fernrohr bemerkt worden war.
„Ist es die ›Landola‹?“, fragte Sternau.
„Das ist noch nicht zu entscheiden“, erwiderte Unger. „Aber nach der Stellung der Segel scheint es ein Kauffahrer zu sein. Ich werde auf ihn zuhalten lassen.“
Sie gingen an Deck und nahmen die Ferngläser zur Hand. Nach einigen Minuten bemerkten sie, dass der Dreimaster ebenso südlichen Kurs hatte wie sie, doch kamen sie schneller vorwärts als er, denn sie hatten sehr günstigen Wind und konnten das Segelwerk benutzen und damit die Dampfkraft unterstützen. Während sie so mit erhöhter Geschwindigkeit dahin schossen, stieß der Neger, der immer noch oben im Topp des Mastes hing, einen lauten Ruf aus, der halb wie Schreck und halb wie Überraschung klang.
„Was gibt's?“, rief Sternau hinauf.
„Noch ein Schiff, Massa!“, antwortete der Schwarze. „Da in West. Aber man kann es nicht gut sehen: Es hat schwarze Segel.“
„Schwarze Segel?", fragte Unger schnell. „Die hat kein anderes Fahrzeug als das des Kapitäns Landola!“
Er richtete das Fernrohr in die Gegend, die der Neger mit ausgestrecktem Arm angedeutet hatte, und sah nun ein zweites Schiff, das mit vollem Wind auf das erste zuhielt. Durch die dunkle Farbe seiner Segel konnte man es nur schwer erkennen.
„Er ist es wirklich!“, sagte endlich Unger erregt.
„Täuschen Sie sich nicht?“, meinte Sternau.
„Nein. Dieser Landola ist ein schlauer Schurke. Er hat zweierlei Segeltuch. Wenn er einen Hafen anläuft, so hängt er das weiße an, befindet er sich aber auf hoher See, braucht er das schwarze. …“

Der Raum im Gespräch

Gerade an Karl May kann man gut studieren, wie Räume in Dialogen auftauchen. Der Vorteil, wenn man eine Figur einen Raum schildern lässt, besteht darin, dass man zugleich die Figur über seine Absichten und seine Gefühle sprechen lassen kann. Damit hat man ein recht natürliches Ineinander von Körperraum und Seelenwelt.
Allerdings gibt es auch hier wieder deutliche Unterschiede. Während Karl May seine Figuren Räume schildern lässt, um zugleich Handlungen planen zu lassen, nutzt Joanne Rowling diese Form des Dialogs überhaupt nicht. Bei ihr sind Räume eher Gegenstände, die man öffnen oder verschließen, erreichen oder verlassen muss. Sie unterscheiden sich damit nicht von anderen Gegenständen. Selbst so besondere Orte wie die Heulende Hütte oder die Toilette der Maulenden Myrte, die Kammer des Schreckens oder das Bahngleis des Hogwarts-Express werden zwar außerhalb des Dialogs, aber nicht innerhalb beschrieben. Und sehr häufig sind die Räume bei Rowling durch ein besonderes Wesen oder einen besonderen Gegenstand dominiert. Der Rest des Raumes ist relativ unwichtig.
Natürlich sind Räume erst mal rein physikalisch Räume. Im Satz können sie aber einmal als Raum und einmal als Objekt behandelt werden. Diese sorgt bei manchen unerfahrenen Schriftstellern für reichlich Verwirrung. Als Objekt ist der Raum nämlich nur ein Stellvertreter für all die Gegenstände, die sich in einem Raum befinden. Und wenn es dann zu konkreten Handlungen kommt, sollte man diesen Raum eben auch mit konkreten Gegenständen gefüllt haben. Wenn ich den Raum direkt beschreibe, dann eigentlich nur, um seine Lage zu anderen Räumen präzise auszudrücken. Sobald ich aber zu dem Raum als Objekt überwechsle, muss ich ihn indirekt, über die Gegenstände in diesem Raum verdeutlichen.
Ihr könnt noch mal zu der Reisebeschreibung zurückgehen, die Karl May für die Fahrt seiner Dampfjacht gibt. Die Städte, die das Schiff ansteuert, sind hier keine Räume, sondern eben Objekte. Der Raum selbst wird durch die Geographie Europas und Afrikas vorgegeben, taucht aber nicht direkt auf. Auch das Meer ist natürlich ein Gegenstand, mit dem die Seefahrer zu kämpfen haben. Doch in diesem Fall verschwindet der Ozean gleichsam aus der Beschreibung, sobald die Schiffe auftauchen. Man könnte meinen, dass diese Schiffe nur noch für sich existieren, ganz ohne Wasser. Doch natürlich muss der Schriftsteller uns nicht deutlich machen, dass hier das Meer immer mitgemeint ist.

Die Planung

Texte lassen sich von sehr unterschiedlichen Blickwinkeln aus betrachten. Ich bin nun zwischen diesen verschiedenen Blickwinkeln immer wieder hin und her gehüpft. Wir können uns diese Blickwinkel jetzt aber noch einmal verdeutlichen: zum einen gibt es den Leser, zum anderen den Autor, dann gibt es einmal die erzählte Welt mit ihren physikalischen Tatsachen und einmal die erlebte Welt mit ihren Emotionen und Motiven.

Genaue Planung

Wenn ihr Räume schildert, dann solltet ihr bei der Planung solcher Räume immer etwas genauer vorgehen als ihr es dann tatsächlich im Roman braucht. Durch diese genaue Planung bekommen eure Räume in eurer Vorstellung einen Festigkeit, die sich auch in der Art und Weise niederschlägt, wie ihr dann die Handlungen in diesen Räumen schildert. Es geht gar nicht darum, dass ihr den Leser mit großer Detailkenntnis beeindruckt. So etwas langweilt meist. Die Übung ist eher dazu nützlich, dass ihr euch selbst sicher seid und dadurch eine Art und Weise zu schreiben entwickelt, die glaubwürdig ist. Hier müsst ihr eben zwischen dem, was ihr als Schriftsteller braucht, und dem, was der Leser lesen will, gut unterscheiden. Ihr braucht die Sicherheit und dadurch eine große Präzision, der Leser möchte eine Glaubwürdigkeit, und d.h. vor allem, dass keine logischen Fehler in der Handlung auftauchen.

Spannungsaufbau und die Verankerung der Geschichte

Als zweites solltet ihr beachten, dass eure Räume in den Handlungen nur indirekt auftauchen. Vermittelt werden diese Räume über die Gegenstände. Deshalb sollten eure Räume immer genügend Gegenstände enthalten, um eine Handlung zu tragen oder eine Atmosphäre auszudrücken. Ich möchte nun nicht noch einmal darauf herumreiten, aber da es mir häufig vorgeworfen wird, taucht dieses Thema immer wieder bei mir auf. Ihr werdet hier natürlich zu mir sagen: alles das, was du hier schilderst, ist doch eigentlich ganz selbstverständlich. Ist es ja eigentlich auch. Dass sich Gegenstände in einem Raum befinden, das ist nun eine so banale Tatsache, dass es albern klingt, dies noch einmal zu betonen. Nur: sobald wir den tatsächlichen Raum verlassen, also jenen, in dem wir leben, und sobald wir diesen Raum in einem Roman schildern, scheint das nicht mehr so selbstverständlich zu sein. Ich hatte in den letzten zehn Jahren oft damit zu kämpfen, wenig erfahrenen Schriftsteller zu verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich diese einfache Tatsache immer wieder vor Augen zu führen. Und gelegentlich findet man dann solche Geschichten auch tatsächlich bei den selfpublishern und, sobald diese Romane veröffentlicht sind, auch zahlreiche Klagen bei den Bewertungen. Der Roman ist langweilig, er reißt nicht mit, und schon kommt das Gegenargument des Autors: aber die Geschichte ist doch so spannend, lest doch einfach mal weiter, da passiert noch ganz viel. Tut es wahrscheinlich auch, und vermutlich könnte diese Geschichte tatsächlich unglaublich spannend sein. Aber der Autor starrt nur auf die großen Ereignisse, in die er seine Figuren hineintreibt. Ohne Frage sind diese notwendig. Doch was die Rezensenten eigentlich meinen und nur recht ungeschickt ausdrücken, ist, dass die Handlung keine Logik bekommt, weil eben die Räume und die Gegenstände fehlen. Es ist also nicht die dramatische Geschichte, sondern der Halt, den diese Geschichte in einer Welt bekommt, und damit natürlich auch in der Vorstellung des Lesers. Der Leser muss nicht zu einer noch spannenderen Handlung geführt werden, sondern zunächst zu den Bildern in seinem Kopf, Bilder eben, die er nachvollziehen kann und mit denen er leben möchte.

So konkret wie möglich

Drittens möchte sich der Leser natürlich auch mit den Figuren identifizieren. Und dazu muss aus dem physikalischen Raum ein emotional-volitiver werden. Es muss konkrete Gegenstände in konkreten Räumen für konkrete Bedürfnisse mit konkreten Zielen geben. Es reicht nicht aus, wenn ihr als Ziel des Romans im Kopf habt: Sandra findet die große Liebe. Ihr müsst die Situation schildern, für euch, und im Voraus, bevor ihr zu schreiben beginnt, mit wem Sandra nun zusammen ist und wie sich dieses Zusammensein konkret darstellt. D.h., dass sie am besten die erste gewöhnliche Situation plant, nachdem die eigentliche Geschichte zu Ende ist. Das ist nicht unbedingt eine Situation, die in eurem Roman auftauchen muss, denn euer Roman ist natürlich mit der Geschichte selbst zu Ende. Aber es kann trotzdem eben genau die Situation sein, auf die ihr hinschreibt.

Die Eifersucht des Schriftstellers

Bleibt also ganz konkret, vor allem auch für die Ziele und Wünsche eurer Figuren. Achtet bitte dabei auch darauf, was eure eigenen Ziele und Wünsche sind. Ein großes Problem ist immer wieder, wenn ein Schriftsteller für sich selbst nur sehr undeutliche Ziele besitzt. Man möchte irgendwie einen großen Roman veröffentlichen, berühmt werden, vielleicht auch nur seine Familie beeindrucken, oder etwas ähnliches. Aber all das sind eben sehr wolkigen Wünsche. Und natürlich dürft ihr die wolkigen Wünsche für euch selbst genau so haben. Dagegen ist nichts zu sagen. Für den Schreibprozess allerdings kann das hinderlich sein, weil hier allzu häufig im Hintergrund eine Art Eifersucht mitspielt. Weil ihr in eurem Leben eure Ziele nicht konkret machen könnt, erlaubt ihr das auch euren Figuren nicht. Wenn ihr nur eine Geschichte für euch selbst schreibt, dann könnt ihr dabei natürlich stehen bleiben. Aber ein Leser verzeiht eine Geschichte ohne ein konkretes Ziel nicht. Wenn euch eure Geschichte immer wieder entgleitet, dann denkt mal darüber nach, ob ihr vielleicht eifersüchtig auf eure Figuren seid und ihnen ihre Geschichte nicht gönnt.
Besser aber ist es, wenn ihr zunächst euer Leben selbst in Ordnung bringt, euch realistische Ziele setzt und Kompromisse schließt, mit denen ihr leben könnt, damit ihr mit solchen Lebensbedingungen Erfahrungen sammelt. Das Leben ist nun mal kein Wunschkonzert. Und auch das Leben eurer Protagonisten soll natürlich nicht nur Sonnenschein sein, damit es genügend Konflikte gibt, die eine Geschichte lohnenswert zu lesen machen.

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