19.10.2014

Xavier Naidoo und der Herrensignifikant

Was denn, bitte schön, ein Herrensignifikant sei, wurde gestern gefragt, auf Facebook. Ursache dieser Frage war ein Posting von Zoe Beck, ein Artikel aus der ZEIT zu den jüngsten Ergüssen von Xavier Naidoo.

Xavier Naidoo

Ich gebe zu, dass ich Naidoo noch nie habe leiden können. Mir läuft schon ein Schauder über den Rücken, wenn ich seine nölige Stimme höre. Damals, als er seine ersten Erfolge feierte, mit einem Lied, das ich hervorragend verdrängt habe, bin ich auf einiges Unverständnis gestoßen. Ich hatte aber schon immer das Gefühl, dass hinter dieser blauäugigen Glückseligkeit ein sehr schwaches Denken, ein konfliktloses und nicht-dialogisches Denken steckt.

Dinghafte Systeme

Heute könnte man dies leicht als Anbiederung verstehen. Es gibt weiterhin keine Tiefe, keine Schärfe. Naidoo spricht von dem System, in vollster Überzeugung, dass es dieses System als eine Art Objekt gibt, ein widerwärtiges und ekelhaftes System, eine Art Monster aus einem Horrorfilm, ein Parasit, der sich, ähnlich wie in Alien, im Körper des Menschen einnistet, und aus diesem hervorbricht und ihn tötet. Es war schon immer das Zeichen politischer Paranoiker, an ein solches dinghaftes System zu glauben. Dass diese politische Meinung gefährlich ist, hängt nicht von Inhalten ab. Es spielte keine Rolle, ob man sich auf die deutschen Wurzeln oder den weltweiten Sozialismus bezieht. Es ist eine Struktur, die solche Wörter in den Abgrund reißt. Und deshalb ist die Systemkritik selbstverständlich auch keine Systemkritik, sondern reiner Wahn.

Nils Markwardt

Dementsprechend schreibt Markwardt in der Zeit:
Was heute Systemkritik heißt, ist oft kaum mehr als eine organisierte Denkverweigerung.
Er zählt auf: Reichsbürger, Montagsdemonstranten, NPD und eben Xavier Naidoo. Ich könnte hier noch einige ganz andere Beispiele geben. Denn der nur scheinhaften Systemkritik stehen natürlich all diejenigen gegenüber, die jegliche Systemkritik im Keim ersticken wollen.
Markwardt zitiert dann den Philosophen Slavoj Zizek und folgert, dass es kaum eine bessere Möglichkeit gäbe, den Begriff der Systemkritik nachhaltig zu diskreditieren, als mit solchen Menschen wie Xavier Naidoo. Wollte man die Kritik am System unterbinden, müsse man sich solche Menschen wie Naidoo ausdenken (falls es sie noch nicht gäbe).

Der Platz des Herrensignifikants

Hier fällt auch der Begriff des Herrensignifikants. Der Autor führt ihn leider nicht aus und so bleibt er missverständlich, auch wenn er ihn der Hysterie zugeordnet. Die Montagsdemonstrationen seien „das exakte Gegenteil von Systemkritik. Was dort geboten wird, ist vielmehr hysterisches Desinteresse am Realen, eine organisierte Verweigerung des Denkens.“
Markwardt unterschlägt hier, was notwendig zur Bestimmung des Herrensignifikants dazu gehört, nämlich die Art des Diskurses, und damit den Platz des Herrensignifikanten. Laut Lacan gibt es vier Arten von Diskursen, den Diskurs des Herrn, den Diskurs der Hysterie, den Diskurs der Universität und den Diskurs der Psychoanalyse. Richtig ist allerdings, dass Naidoo den Herrensignifikant im Diskurs der Hysterie gebraucht.

Das Zeichen

Der Signifikant ist Teil eines Zeichens und bezeichnet zunächst die materielle Seite des Zeichens, also das geschriebene oder gesprochene Wort. Die andere Seite des Zeichens ist die Vorstellung, die wir uns bezüglich des Signifikants machen; diese nennt sich Signifikat. Nun ist es nicht ganz so einfach mit dieser Einteilung. Doch das soll uns an dieser Stelle nicht interessieren.
Der Signifikant ist, und hier steckt das Problem, immer nur Teil eines Zeichens. Das Signifikat ist, sofern ich nicht selber das Zeichen produziere, mir entzogen. Wenn also jemand ein Wort äußert, sagen wir zum Beispiel das Wort „Baum“, dann kann ich mir zu diesem Wort meine eigene Vorstellung machen. Die Vorstellung, die der andere zu diesem Wort hat, bleibt mir unzugänglich. (Dazu ausführlicher: Zeichen und Witze)

Der Herrensignifikant

So gesehen gäbe es in der Sprache ein ewiges Gleiten. Nichts böte dem Sprechen Halt. Nun gibt es in der Sprachphilosophie zahlreiche Bezeichnungen dafür, dass wir uns beim Sprechen auf scheinbare Realitäten stützen. Dies wird mal als Gewissheit, mal als Präsupposition, mal als geheimen Glaubensüberzeugung, und ähnlichem mehr bezeichnet.
Bei Lacan trägt dies nun den Namen Herrensignifikant. Der Herrensignifikant ist der Ort, von dem aus unser Sprechen real wird und nicht einfach nur leeres Gefasel ist. Es ist natürlich klar, dass dieser Ort imaginär ist. Es gibt nicht diesen privilegierten Platz, von dem aus die Wahrheit und die Realität zusammenfallen. Trotzdem muss sich ein Diskurs strukturieren. Der Herrensignifikant ist ein Teil dieser Struktur. Man kann ihm nicht entkommen, in keiner der vier Diskursarten.

Der Diskurs

Ich folge der Darstellung Peter Widmers, der zunächst den Diskurs des Herren darstellt. Das liegt daran, dass dieser am einfachsten zu begreifen ist, weil er eine narzisstische Position darstellt, die wir in der Entwicklung unseres Denkens alle durchlaufen haben.
Ein Diskurs ist, laut Lacan, aus vier Elementen aufgebaut. Es gibt einen Handelnden, einen anderen (vereinfacht ausgedrückt: einen anderen Menschen), ein Produkt und die Wahrheit. Der Handelnde ist an die Wahrheit gekoppelt, bzw., genauer gesagt, bilden das Subjekt der Handlung und die Wahrheit ein Zeichen; diese wiederum verweisen auf ein anderes Zeichen, das aus einem anderen und der Produktion besteht.
Wir können uns das ganz plastisch vorstellen: ich sage etwas, weil ich etwas weiß; damit wende ich mich an einen anderen, bei dem nun dieses Wissen auch erzeugt wird. Das, was ich weiß, ist die Wahrheit (das Wissen nimmt genau diesen Platz ein, dass es die Wahrheit ist). Und indem ich mein Wissen ausspreche, weiß es auch der andere und er ist nun ebenfalls im Besitz meiner Wahrheit.
Das allerdings ist ein Phantasma. Denn wenn ich meine Vorstellung ausspreche, kann ich diese nur als Worte aussprechen. Und selbstverständlich macht der andere sich seine Vorstellungen. Aber er macht sie nur in seinem Kopf und kann sie mir nicht direkt präsentieren. Und insofern meine ich nur die Wahrheit auszusprechen und verlasse mich nur darauf, dass der andere nun die Wahrheit kennt.

Der Diskurs des Herren

Dies ist dann auch ungefähr der Diskurs des Herrn. Der Herr ist davon überzeugt, dass er die Wahrheit kennt. Aber diese Wahrheit nützt ihm nichts, wenn er sie nicht mitteilen kann. Er ist also wesentlich davon abhängig, dass auch andere Menschen diese Wahrheit anerkennen. So ist der Diskurs des Herren davon geprägt, die Wahrheit zu sagen und durchzusetzen.
Allerdings treibt das den Herren in eine unmögliche Position. Erstens weiß er nicht, welche Vorstellungen sich der andere von dieser Wahrheit macht. Und zweitens ist er darauf angewiesen, dass der andere seine Position als Herren anerkennt. Denn grundsätzlich ist die Struktur zwischen dem Sprechenden und dem anderen dialogisch und nicht vom Wissen und der Wahrheit geprägt. Erst wenn der Sprechende zugleich der Meistersignifikant ist und die Wahrheit besitzt, erhält der Dialog die Struktur eines Herrendiskurses.

Der hysterische Diskurs

Im hysterischen Diskurs, jenem, den Naidoo pflegt, verschieben sich die Positionen von Wissen, Subjekt und Meistersignifikant. Der Sprechende spricht nun nicht mehr als Besitzer des Wissens. Er spricht als Subjekt, das begehrt werden möchte, als ein Subjekt, das einen „Mehrgenuss“ in sich birgt. Und er spricht einen anderen an, der den Meistersignifikanten darstellt und das Wissen herstellt.
Diese Struktur ist etwas komplizierter. Der hysterische Mensch, so glaubt er jedenfalls, besitzt etwas, was dem anderen einen Genuss verschafft. Aber dieser andere ist mehr mit dem Realen verwoben als er - der Hysteriker - selbst. Und so muss der Hysteriker den anderen dazu bringen, sein Wissen preiszugeben, damit dieses „Ding“ des Mehrgenusses real wird. Sag, dass es wahr ist, gestehe endlich!, so spricht der Hysteriker den "Besitzer" des "Realen" an.

Systemkritik als Hysterie

Will man diesen Ausführungen Glauben schenken, dann beschwört der hysterische Systemkritiker den machtvollen anderen als den Besitzer des Wissens. Zugleich aber verspricht er diesem anderen die Wahrheit, die nicht in einem Wissen, sondern in einem Genuss besteht.
Die Gefahr einer solchen Systemkritik ist allerdings, dass der Hysteriker von vornherein das Wissen des anderen anerkennt, um seinen eigenen Genuss einbringen zu können. Er ist dem Herrendiskurs nicht entgegengesetzt, sondern kooperiert mit diesem. Und genau das meint dann auch der Autor des Artikels, Nils Markwardt, im Anschluss an Slavoj Zizek, dass es den „Agenten des Systems“ nur recht sei, dass solche Menschen wie Naidoo existieren. Denn vom Agenten des Systems (falls es diese überhaupt gibt) aus gesehen ist die Anerkennung des Herrensignifikanten notwendig. Und hier ist es dann egal, ob der Hysteriker gehorcht, oder diesem eine endlose Flut von Klagen und von Missgunst zukommen lässt. Das sind nur inhaltliche, aber keine strukturellen Erschütterungen.

Literatur
Widmer, Peter: Subversion des Begehrens. Wien 1997

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