Dritter Teil zu Körperräumen. Den ersten Teil, zum physikalischen Raum, und den zweiten Teil, zum emotional-volitiven Raum, gab es eben. Dort auch meine (üblichen) Klagen über die viel zu kurzen Artikel im Internet.
Der soziale Raum
Bisher hatten wir den Raum angeblich von seiner psychologischen Seite aus betrachtet. Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass ein solcher Raum wenig Interessen für den Unterhaltungsroman bietet, wenn in ihm nicht Konflikte stattfinden. Konflikte sind für den Unterhaltungsroman unumgänglich. Konflikte sind nun ein soziales Phänomen, und genau dort müssen wir jetzt hin: wir müssen diesen Raum auf seine Möglichkeit zu Konflikten betrachten. Das können wir nur beispielhaft tun. Euch werden mit Sicherheit noch viele andere Möglichkeiten einfallen, als die, die ich hier nennen werde.
Ich benutze das Wort Konflikt in einem sehr strengen Sinne. Bei einem Konflikt gibt es immer zwei Absichten, die einander widersprechen. Eine Absicht kann nicht verwirklicht werden. Ganz typisch finden wir dies in eigentlich jedem Kriminalroman. Der Täter möchte nicht erkannt werden; der Kommissar möchte den Täter fassen. Am Ende des Romans ist der eine Wunsch in Erfüllung gegangen, der andere nicht.
Im Alltag bezeichnen wir manchmal auch ein Problem als einen Konflikt. Aber wenn wir ehrlich sind, dann würden wir zum Beispiel ein verrostetes Schloss, das wir nicht öffnen können, eher ein Problem nennen als einen Konflikt. Im Roman gibt es also Hindernisse oder Probleme; und häufig erzeugen diese Konflikte, nämlich genau dann, wenn ein Hindernis die Erwartungen von bestimmten Figuren enttäuscht. Umgekehrt funktioniert es genauso: wir bezeichnen Konflikte als Probleme. Ein Mensch, der mir widerspricht, verursacht allerdings kein Problem, zumindest keines, was man dann durch ein geschickter Vorgehen lösen könnte, sondern er erzeugt einen Konflikt. Die Lösung eines Konfliktes besteht in einer Einigung, zumindest, wenn die beiden Konfliktpartner ehrlich miteinander sind.
Die Besitzer
Eine der wichtigsten Bedingungen für Konflikte im Zusammenhang mit Räumen ist der Besitz. Das Haus der Dursleys, um bei dem Beispiel Harry Potter zu bleiben, gehört den Dursleys und nicht Harry. Alles, was im Haus passiert, wird von den Dursleys bestimmt und die Dursleys fühlen sich im Recht, wenn sich Harry ihren Wünschen unterordnen muss.
Die Zaubererschule, auf die Harry geht, Hogwarts, ist wiederum durch sehr viele Räume eingeteilt, die sehr unterschiedlichen Personen gehören. Und immer gibt es neue Räume, die in den verschiedenen Romanen auftauchen, und die von bislang unbekannten Personen besetzt werden. Im ersten Band ist das der verbotene Korridor, an dessen Beginn Fluffy, der dreiköpfige Hund, lauert, und an dessen Ende der Spiegel Nerhegeb steht; im zweiten Band ist dies die Kammer des Schreckens und der Basilisk, der darin haust, oder zum Beispiel die Mädchentoilette, in der die Maulende Myrte spukt; in Harry Potter und der Gefangene von Askaban sind es das Spinnennest und die Riesenspinne Aragog, aber auch die heulende Hütte. Und so kann man in jedem Band von Harry Potter solche besonderen Räume finden, ein riesiges Heckenlabyrinth, die Mysteriumsabteilung, usw.
Manche dieser Räume haben einen festen Besitzer, andere wiederum werden von einer „undeutlichen“ Macht beherrscht. In manchen dieser Räume ist die Herrschaft absolut, in anderen bietet sie viel Platz für Eindringlinge. Die Regeln, die in diesem Raum gelten, werden entweder gnadenlos durchgesetzt oder mit mehr oder weniger großer Geduld eingeübt. Man muss sich manchmal deutlich machen, dass auch in Räumen, die für uns relativ unproblematisch sind, Regeln gelten. Selbst in einer Studentenkneipe kann man sich nicht nach Belieben benehmen. Doch mit Sicherheit haben hier die Besucher und der Gastwirt eine größere Toleranz gegenüber „kreativem Verhalten“ als während eines Gottesdienstes in einer strenggläubigen Gemeinde.
Spukhäuser und Dinosaurierinseln
Spukhäuser und Dinosaurierinseln - das ist mein Kürzel für Räume, die nach besonders feindlichen Regeln funktionieren. Aus irgendwelchen Gründen gerät der Protagonist in eine solche feindliche Umwelt. Meist unterschätzt er die Gefahr. Manchmal findet er sich allerdings auch wider Willen in einen solchen Raum versetzt. Manchmal muss sich der Protagonist einer solchen Gefahr auch notwendig aussetzen.
Nehmen wir zum Beispiel das Forscherteam aus dem Roman Lost World. Diese wollen eine Insel untersuchen, auf der es angeblich noch Dinosaurier gibt. Natürlich entdecken sie diese dann auch. Doch im Gegenzug werden die Forscher auch von den Raubsauriern ins Visier genommen, und da sie keine militärische Einheit sind, sich also nicht wehren können, geraten sie in tödliche Gefahr.
Geschichten von Spukhäusern funktionieren ähnlich. Jemand erbt ein Haus und als er mit seiner Familie einzieht, stellt er fest, dass in diesem Haus merkwürdige Dinge geschehen. Oftmals gibt es dann jene Wendung in der Geschichte, in der sich das Haus nach außen und innen abschottet und den Bewohnern kein anderes Entkommen ermöglicht, als den Feind zu besiegen oder ihn auf irgend eine raffinierte Art und Weise auszutricksen.
Auch das ist eine Empfehlung für junge Schriftsteller: achtet auf die verschiedenen Räume und die Regeln, die in diesen Räumen gelten. Denn sehr häufig leidet ein Roman auch darunter, dass sich völlig charakterlose Räume nahtlos aneinanderreihen und so schon vom Setting her ein einheitlicher Brei entsteht, der keinen Leser hinter dem Ofen hervor lockt. Wenn ihr Abenteuerromane schreibt, dann sind solche „extremen“ Räume wie Spukhäuser oder Dinosaurierinseln fast Pflicht. Fast jeder dieser Romane endet mit einem großen Show-down und fast immer findet dieser Show-down an einem Ort statt, den der große Gegenspieler besetzt hält. Denken wir zum Beispiel an Frodo Beutlin (Herr der Ringe) und seine abenteuerliche Reise zum Schicksalsberg im Lande Mordor. Doch auch zwischendrin durchquert unser Held äußerst feindselige Gebiete, zum Beispiel die Hügelgräberhöhen oder die Höhle von Kankra.
Der apokalyptische Raum
Apokalyptische Räume sind eine weitere typische Möglichkeit, die in Spannungsromanen genutzt wird. Dabei handelt es sich um Räume, die bislang als recht unproblematisch, zumindest nicht tödlich, gegolten haben, die aber von einem Moment auf den anderen ihren ganzen Charakter wechseln. Eines der häufigsten Beispiele für einen solchen plötzlichen Wechsel haben die Zombiefilme in den letzten 15 Jahren geboten. Innerhalb kürzester Zeit verwandeln sich die meisten Menschen in blutrünstige Horden, und die wenigen Überlebenden müssen sich in einer völlig anderen Situation orientieren als am Tag zuvor.
Weitere Beispiele bieten Katastrophenromane, bzw. Katastrophenfilme. In einem bislang noch nicht bezogenen Hochhaus feiert eine ausgelassene Gesellschaft Silvester. Doch einige Stockwerke unterhalb bricht ein Feuer aus und schließt die Gesellschaft ein. Nun beginnt der Kampf um das Überleben. Etwas abgeschwächt, weil nicht ganz so allmächtig, ist die Geiselnahme; hier hat der Protagonist wenigstens noch die Möglichkeit, durch trickreiches Handeln die Verbrecher in die Irre zu führen und dadurch ein Entkommen zu ermöglichen.
Doch wie auch immer: apokalyptische Räume sind Räume, die innerhalb kürzester Zeit ihren Charakter komplett wechseln.
Orte des Verbrechens
Ein anderer, wichtiger Raum für Schriftsteller ist der Tatort. Der Tatort ist zunächst ein physikalischer Raum. Das Besondere an ihm ist, dass die physischen Spuren auf einen bestimmten Menschen (den Täter) hinweisen und damit auf einen sozialen Konflikt, der in einer recht außergewöhnlichen Weise (dem Verbrechen) gelöst worden ist.
In diesem Sinne kann man sagen, dass der Kommissar einen physikalischen Raum in einen sozialen Raum übersetzen muss, wobei die beiden Räume sich nicht decken. Das ist auch klar, denn die Motive für einen Mord sind meist ganz woanders entstanden.
Vom Raum aus gesehen sind Krimis meist recht ritualisiert. Zunächst gibt es einen physikalischen Raum, den Tatort; dieser wird in einen engeren Handlungsraum übersetzt, nämlich den Raum, in dem jemand gehandelt hat, um genau diese Tat zu begehen (der Tathergang wird rekonstruiert); davon ausgehend wird ein umfangreicher Handlungsraum erschlossen, jenem Raum, der dem Täter die Tat ermöglicht hat (zum Beispiel Orte der Vorbereitung der Tat); schließlich aber gibt es jenen Raum der Motive, in dem sich die Idee der Tat entwickelt hat: und dies ist natürlich ein sozialer Raum, eben ein Raum, in dem der Täter seine Bedürfnisse nicht befriedigen konnte, ohne ein Verbrechen zu begehen.
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