30.10.2014

Gewissheit und Wahrheit

Ich hatte gestern Abend eine sehr fruchtbare Phase des Schreibens. Unter anderem habe ich mich mit den Begriffen der Gewissheit und der Wahrheit bei Wittgenstein auseinandergesetzt. Dazu sind zahlreiche Aphorismen entstanden. Einige davon habe ich hier zusammengestellt:
Wir können unsere eigenen Gefühle nicht falsifizieren. Wir können uns lediglich über sie täuschen und sie dem anderen vortäuschen. Aber das scheint vorauszusetzen, dass die Falsifikation nur auf Wahrheiten beruht, die im zwischenmenschlichen Bereich möglich sind, d.h., dass die Wahrheit von jeher intersubjektiv sein muss.
Aber ist das, was Wittgenstein als Gewissheit bezeichnet, nicht dasselbe wie die Wahrheit? Nur, dass die Gewissheit nur für mich, die Wahrheit für alle gilt?

Die Wahrheit benutzt ein anderes Medium als die Gewissheit.

Die Gewissheit geht mir voraus, die Wahrheit muss ich erarbeiten.

Es gibt zwei Arten von Unterstellung: die Täuschung in der Gewissheit und die Falsifizierbarkeit in der Wahrheit.

Die Falsifikation kommt mir vom anderen zu:
„Richtig ist, dass, wenn ich über den anderen reden, eine Falsifikation meines Urteils nie auszuschließen ist.“

Das besagt aber nicht, dass die Falsifikation direkt geschehen muss, also direkt von dem anderen kommen muss. Ich kann zum Beispiel feststellen, dass der andere griesgrämig ist, und dann vermuten, dass er ein schlimmes Erlebnis hatte, über das er noch nicht weggekommen ist. Dann aber kann ich vielleicht erfahren, dass er immer griesgrämig ist und dass dies ein allgemeiner Charakterzug von ihm ist oder, vorsichtiger gesagt, eine allgemeine Verhaltensweise.

Was aber interveniert, wenn ich sage, dass ich mich über den anderen getäuscht habe?

Kann man dann vielleicht sagen, dass die Gewissheit des anderen interveniert?
Denn wenn ich mir selbst gewiss bin, dass etwas so und so ist, und dann einsehen muss, dass es doch nicht so ist, dass ich mich also getäuscht habe, dann muss diese Einsicht durch etwas hervorgerufen sein, das außerhalb meiner Gewissheit liegt.

Aber worin besteht die Intervention? Interveniert der andere in meiner Gewissheit oder in den Ausdruck meiner Gewissheit?
Doch kann ich dazwischen unterscheiden? Kann man sich über etwas gewiss sein, ohne sich auch des Ausdrucks gewiss zu sein, den man dazu hat?

Sicherlich: man kann sich über ein Gefühl im Klaren sein und trotzdem einen anderen Ausdruck haben. Man kann sich zum Beispiel beibringen, ein Gefühl der Freude zu haben und gleichzeitig ein Gesicht, das Trauer anzeigt. Aber wofür macht man das, wenn nicht für einen anderen? Und selbst wenn es nur ein Spiel ist, muss ich für dieses Spiel doch die Lüge begriffen haben.
Wenn ich aber nicht begriffen habe, dass ich eine Gewissheit auch so ausdrücken kann, dass der andere diese Gewissheit nicht merkt oder eine andere Gewissheit vermutet, dann kann ich auch nicht lügen.

Doch ob ich eine Intervention zulasse oder nicht, hängt auch davon ab, ob ich die Intervention als zum selben Sprachspiel gehörig betrachte oder nicht.

Ich kann nur feststellen, dass ich mich nicht irre, wenn ich bereits weiß, was ein Irrtum ist. Ich muss also gelernt haben, wie man in einem Sprachspiel das Wort Irrtum gebrauchen kann.
Solange ich aber nicht sagen kann, dass ich mich nicht irre, kann ich mir auch der Gefühle nicht gewiss sein. Denn wenn die Unterscheidung wahr/falsch zurückgewiesen werden kann, dann nur auf der Basis, dass man die Unterscheidung Wahrheit/Gewissheit anerkannt hat.

Damit die Gewissheit eine Gewissheit ist, muss sie als solche erkannt werden. Ich muss das Sprachspiel der Gewissheit erlernt haben.
Wenn ich sage, dass ich mir meiner Schmerzen gewiss bin, dann muss ich erkannt haben, dass Schmerzen noch etwas anderes bedeuten als sie selbst.
Es gibt keinen Solipsismus der Gefühle. Jedes Gefühl ist operativ.

Trotzdem kann ich mir natürlich Gewissheit verschaffen, ob der andere tatsächlich Schmerzen hat oder nicht. Ich kann ihn zum Beispiel fragen, ob mein Eindruck richtig ist und er kann dies bestätigen.
Auch das Argument der Lüge kann nicht gelten, wenn ich zum Beispiel weiß, dass der andere Mensch immer ehrlich ist.
Deshalb gibt es natürlich auch so etwas wie eine Gewissheit, wenn es um das Innenleben anderer Menschen geht.

Der Zweifel hat ein Ende.

Man darf sich mit seiner Gewissheit nicht zu einfach machen.
(Alles andere wäre arrogant.)

Gewissheit bezeichnet das Sprachspiel, bei dem ich noch nicht zu zweifeln gelernt habe.

Zweifeln will geübt sein.

Die Menschen erfinden Sprachspiele. Der Philosoph erfindet Denkspiele.
(Denkspiele sind von den Sprachspielen abgeleitet.)

Wer sich Denkspiele erfinden kann, muss mit sich selbst im Widerstreit liegen.
(Der Philosoph erschafft sich im "Dialog".)

Das philosophische Denken zittert. (Es oszilliert.)

Man kann nicht ohne Grund zweifeln. (Ich muss das Zweifeln ebenso erlernen, wie ich den besonderen Zweifel selbst erlernen muss. Um zweifeln zu können, muss ich also zweimal gelernt haben.)

Doch genau so, wie man das Sprachspiel des Zweifelns erlernen muss, so gibt es auch ein Sprachspiel des Sichüberzeugens. Und auch dieses muss man erlernen.
Aber worauf basiert die Unterscheidung zwischen Zweifeln und Sich-überzeugen? Denn wo man sich überzeugen möchte, da zweifelt man ja. Und man könnte annehmen, dass diese beiden Sprachspiele (oder Denkspiele) notwendig zusammengehören.

Man müsste vielleicht sagen: »Es schmerzt mich.«, weil der Schmerz durch mich (durch mein Bewusstsein) hindurchgeht.
Betrachte dagegen den Satz: »Ich habe Schmerzen.« Das wäre ja so, als könne man die Schmerzen ablegen und behaupten, man habe keine Schmerzen mehr, sobald man diese weg gegeben habe. Und es sei eine Sache des Bewusstseins, diese wegzulegen.

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