Und der nächste Abschnitt. Da sich mittlerweile Verschachtelungen von Verschachtelungen ergeben und alle jüngsten Artikel zum Thema Spannend schreiben irgendwie eng miteinander verzahnt sind, weise ich hier nur auf den letzten Artikel hin, der mit diesem notwendig zusammen gehört (es sollte eigentlich auch nur ein einziger werden, aber fast 10.000 Wörter erschien selbst mir als viel zu lang): Körperräume I - Der physikalische Raum.
Zu der Serie gehören auch Artikel über den Dialog: Dialoge schreiben I; und begonnen hat das Ganze mit Betrachtungen zur Schreibweise von Stephen King: Albtraumhafte Szenerie.
Jeweils am Ende eines Artikels findet ihr den nächsten verknüpft. Wer sich also die ganze Serie in einem Rutsch durchlesen möchte, sollte zu dem allerersten zurückkehren.
Hier aber nun weiter im Text:
Der emotional-volitive Raum
1917 veröffentlichte ein relativ unbekannter Psychologe in einer Fachzeitschrift für Psychologie einen Text mit dem Titel Kriegslandschaft. Dieser Psychologe war Kurt Lewin, der Begründer der Gestaltpsychologie.
Lewin beschreibt darin, wie sich eine Landschaft unter dem Handlungsdruck des (Stellungs-)Kriegs verändert, wie sich die Koordinaten dieser Landschaft verändern, wie zum Beispiel der ganze Raum, der jenseits der feindlichen Linien liegt, verschwindet, weil die feindlichen Linien eine absolute Grenze darstellen, zumindest für den einfachen Soldaten.
Es ist auch beeindruckend wie Anna Seghers in ihren Romanen, zum Beispiel Das siebte Kreuz oder Transit, den Wandel des Raumes beschreibt. Hier findet oftmals dieser Wandel durch eine Begegnung statt, durch einen Soldaten, der einem feindlich gesinnt sein könnte, oder durch bestimmte Bürokraten, die eine Amtsstube mit ihrer Macht besetzen.
Der Roman beschreibt nicht einfach nur Räume. Räume spielen darin eine sehr unterschiedliche Rolle. Im Spannungsroman sind solche Räume meist Erlebnis- und Handlungsräume, im Liebesromanen dagegen finden sich Empfindungsräume besonders häufig. Doch wie auch immer: der Raum in seinen physikalischen Eigenschaften bildet nur ein Gerüst, vor dem der Protagonist mit seinen Gefühlen und seinen Absichten handelt. Oder anders gesagt: der physikalische Raum trägt die Möglichkeit in sich, beseelt zu werden; und diesen Raum aus dem Blickwinkel einer Person zu beseelen ist eine Aufgabe des Schriftstellers (obwohl es natürlich auch ganz andere Schriftsteller gibt, von denen wir hier nicht Nachricht geben können).
Vom Bedürfnis zur Motivation
Ich hatte neulich schon ein Modell vorgestellt, das für den Schriftsteller ganz nützlich ist und das den Weg vom Bedürfnis zur Motivation und zum Willen vorstellt. Im Überblick: Bedürfnis - Emotion - Aufmerksamkeit - Motivation - Wille.
Und etwas ausführlicher: zunächst verspürt ein Mensch ein Bedürfnis, meist aufgrund eines Mangels; und dann entstehen, häufig gleichzeitig (oder für uns zumindest gleichzeitig) eine Emotion, eine bestimmte Aufmerksamkeit, ein Motiv und ein Wille, dieses Motiv zu verwirklichen. Für uns ist es normal, dass wir zunächst ein Motiv haben, das sich gegen den Mangel richtet, dann aber auf ein bestimmtes Ziel zusteuert. Dieses Ziel wird aufgrund von Emotionen ausgewählt. Die Aufmerksamkeit folgt dieser Emotion: Sie wählt bestimmte Objekte als besonders beachtenswert aus.
Das ist nun recht abstrakt.
Wir können uns dies aber ganz leicht an unserem Alltag deutlich machen, denn angeblich funktionieren wir als Menschen tatsächlich ständig und andauernd so, weil wir ständig und andauernd irgendwelche Absichten verfolgen, die irgendwelche Mängel in unserem Leben beheben sollen. Nehmen wir zum Beispiel an, wir stehen an einer Bushaltestelle ohne Unterstand und es regnet. Das ist unangenehm, es mangelt uns an Wohlgefühl. Wir versuchen uns nun einen Ausweg vorzustellen. Wir können zum Beispiel unsere Jacke nach oben ziehen, über den Kopf, und uns so zumindest davor schützen, dass uns der Regen am ganzen Körper herunterläuft. Wir können uns allerdings auch vorstellen, dass der Bus pünktlich kommen wird, wir zwar für einige Zeit ein unangenehmes Gefühl aushalten müssen, dann aber unter eine heiße Dusche steigen. Da wir keine Lösung zum Greifen nah haben, suchen wir uns eine Lösung in unserer Erinnerung. Dazu gehört dann auch der emotionale Kontrast: im Regen stehen ist unangenehm, unter einer heißen Dusche zu stehen angenehm. Und daraus ziehen wir dann das Motiv, das wir mithilfe unseres Willens durchhalten.
Schon diese, eigentlich recht knappe und oberflächliche Beschreibung ist natürlich viel zu viel für den Roman. Trotzdem ist es sinnvoll, alle diese Aspekte im Auge zu behalten, um aus diesen dann auszuwählen und passende in den Roman einzubauen.
Die Bedürfnisse
Man kann auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit solchen psychologischen Aspekten umgehen. Im Roman sollte man darauf achten, dass eine direkte psychologische Beschreibung wie eine Einmischung des Autors in den Erzählvorgang wirkt. Bei humorvollen Romanen kann das ganz günstig sein, gelegentlich auch bei experimentellen Romanen. Im allgemeinen sollte man sich aber als Autor sehr zurückhalten und mit wissenschaftlichen Erklärungen geizen.
Bedürfnisse zum Beispiel werden extrem selten im Roman angesprochen. Im Alltag äußern wir sie häufiger: jemand hat Hunger, jemand vermisst eine andere Person, jemand braucht die Sicherheit seiner Familie. Im Roman sprechen Personen häufiger über ihre Bedürfnisse. Aber außerhalb des Dialogs tauchen sie tatsächlich selten auf. Das hat einen ganz einfachen Grund. Um ein Bedürfnis zu erfüllen braucht es ein konkretes Ziel. Konkrete Ziele können sinnlich beschrieben werden und durch praktische Handlungen erreicht werden. Und genau das wollen Leser lesen. Vom Ziel aus erschließt sich das Bedürfnis fast automatisch. Dann aber braucht es nicht mehr geschildert zu werden.
Trotzdem: wenn wir eine Person für uns, als Schriftsteller, charakterisieren, dann sollten wir uns über die Bedürfnisse dieser Person Gedanken machen und zwar gründlich Gedanken. Sehr häufig werden die Figuren eines Romans realistischer, wenn man ihre Bedürfnisse gut ausgearbeitet hat. Öfter finde ich das Gegenteil in Liebesromanen, und dass die Autoren hier, nur um die Seiten zu füllen, den Figuren ständig neue Charaktereigenschaften und neue Bedürfnisse zuschreiben. Die Figuren schwanken hin und her und sind völlig in sich gebrochen. Man könnte sie sogar hysterisch nennen. Ich weiß nicht, wer solche Romane liest. In mir erzeugt eine solche Schilderung ein extremes Gefühl der Übelkeit.
Die Handlungsmöglichkeiten
Was für einen Schriftsteller auch ganz wichtig ist, ist, sich über die Handlungsmöglichkeiten bewusst zu werden. Die Handlungsmöglichkeiten einer Person hängen (aber das ist ja natürlich) zum einen von den Fähigkeiten dieser Person ab, zum anderen aber von den Gegenständen, die er zur Verfügung hat und den Räumen, in denen er sich befindet.
Das ist nun wirklich keine aufregende Erkenntnis. Trotzdem hat dieses Bewusstsein für die Handlungsmöglichkeiten einen überraschend positiven Effekt, allerdings gerade nicht für die Logik einer Handlung, sondern eher für die Darstellung selbst. Indem man sich nämlich bewusst Gedanken über die Handlungsmöglichkeiten macht, sucht man automatisch passendere Verben zusammen, mit denen diese Handlungen geschildert werden können. Damit vermeidet man eine monotone Sprache.
Es ist übrigens eine ganz gute Übung, sich zu den Räumen, die man in seinem Roman einzusetzen gedenkt, solche Verben aufzuschreiben und sie sich aus dem Duden herauszusuchen. Das sollte man machen, bevor man anfängt zu schreiben. Es erweitert den Wortschatz und lässt den Text lebendiger wirken.
Raum und Emotion
Wenn wir unseren eigenen Umgang mit Räumen betrachten, dann haben wir ganz häufig zu bestimmten Räumen bestimmte Gefühle. Meist verbinden wir diese Gefühle dann mit besonderen Anekdoten, die wir in diesen oder ähnlichen Räumen erlebt haben. Hier wird der Raum nicht mehr physikalisch und mathematisch aufgeteilt, sondern in eine Art emotionales Relief eingebunden. Die Teile im Raum, die uns emotional besonders erregen, treten hervor; und andere Gegenstände im Raum treten zurück.
Auch das ist allerdings für den Schriftsteller nur ein Hilfsmittel, um sich bestimmte Szenen besonders deutlich zu machen. Meist haben wir, wenn wir einen Raum ausgestalten, dazu schon ein bestimmtes Gefühl im Kopf. Einen Ort, den wir als Heimat bezeichnen (natürlich die Heimat eines Protagonisten), den werden wir mit einem positiven Gefühl besetzen (und müssen erklären, wenn diese Heimat fremd oder feindselig geworden ist). Andere Räume bringen von sich aus bestimmte Stimmungen mit, zum Beispiel verlassene Ruinen oder tiefe, natürlich entstandene Höhlen. Zumindest sind in ihnen bestimmte Gefühle nur schwer vorstellbar, während andere Gefühle allein bei der Erwähnung eines solchen Ortes sofort auftauchen.
Viel spannender ist es, wenn wir uns für unser eigenes Leben überlegen, an welchen Orten wir welche Gefühle haben. Denn auch wir teilen uns unsere Umwelt in solche Gefühlsräume ein. Das macht uns nicht zu besseren Schriftstellern, aber zumindest zu reflektierteren Menschen.
Absichten haben
Alles, was wir bisher zu dem emotional-volitiven Raum gesagt haben, spielt für die praktische Darstellung eine eher untergeordnete Rolle. Natürlich müssen wir gelegentlich die Gefühle unserer Protagonisten thematisieren. Doch gerade in Spannungsromanen sind die Handlungen wichtiger, während die Gefühle diesen Handlungen eine gewisse Stütze bieten und sie psychologisch glaubwürdig machen.
Damit ein Mensch handeln kann, sind natürlich Absichten besonders wichtig. Für uns muss klar sein, dass Absichten einen Mangel beheben, einen Mangel, der aufgrund eines Bedürfnisses besteht. Solche Absichten finden wir dann tatsächlich recht häufig, sei es, dass der Protagonist sie im Dialog äußert, sei es, dass der Erzähler sie außerhalb des Dialogs benennt.
Es lohnt sich auf jeden Fall, sich einen guten Roman vorzunehmen und alle geäußerten Absichten herauszuschreiben, einfach, um sich bewusst zu machen, wie viele verschiedene Möglichkeiten es gibt, Absichten auszudrücken und wie häufig diese in einem Roman vorkommen. Es lohnt sich auch, einen langweiligen Roman dagegen zu halten. Langweilige Romane lassen sich häufig dadurch charakterisieren, dass die Figuren in diesen Romanen keine Absichten haben. Der Effekt dabei ist wohl, dass diese Figuren ohne Absichten weder mit ihrer materiellen, noch mit ihrer sozialen Umwelt verbunden sind. Sie schweben gleichsam im luftleeren Raum. Natürlich stimmt das nie vollständig, denn wir, als fleißige und brave Leser, denken uns solche Absichten dazu. Aber wenn ein Autor seine Leser wirklich führen will, dann tut er gut daran, diesen Teil nicht vollständig dem Leser zu überlassen.
Die Kammer des Schreckens
Wenn es um emotional besetzte Räume geht, dann ist Harry Potter eine wunderbare Vorlage, um dies zu studieren. Und die Bücher sind auch ganz hervorragend, um den Umgang mit Absichten zu erlernen, zumindest jenen Umgang, den ein Schriftsteller beherrschen sollte.
Schauen wir uns einfach einen kurzen Ausschnitt aus dem zweiten Band, Harry Potter und die Kammer des Schreckens, an. Wie immer beginnt das Buch in dem Haus der Dursleys, den Verwandten Harry Potters, und wie immer ist dieses Haus durch eine mehr oder weniger offen ausgedrückte, komplizierte Feindschaft zwischen den Dursleys und Harry charakterisiert. Im zweiten Band erhalten die Dursleys den Besuch von Geschäftspartnern. Und da Harry hier stört, soll er sich in sein Zimmer verkriechen und „so tun, als existiere er nicht“. Am Ende des ersten Kapitels sind alle Vorbereitungen für den Besuch getroffen. Harry wird nach oben geschickt (dort befindet sich sein Zimmer):
„Gerade war er oben angelangt, da läutete es an der Tür, und Onkel Vernons wutverzerrtes Gesicht erschien am Fuß der Treppe. »Denk dran, Junge - ein Mucks, und -« Harry schlich auf Zehenspitzen zu seinem Zimmer, glitt hinein, schloss die Tür, wandte sich um und wollte sich auf sein Bett fallen lassen. Nur - da saß schon jemand.“S. 15 f.
Machen wir uns alle Absichten klar. Der ganze Raum, also das Haus der Dursleys, wird durch die Absicht strukturiert, den Besuchern einen angenehmen Abend zu bereiten, sich kräftig einzuschmeicheln und dadurch ein Geschäft abzuschließen. Die Türglocke stellt eine gewisse Absicht dar: jemand möchte eingelassen werden. Dann folgt die Drohung von Onkel Vernon. Indem Harry den Befehlen seines Onkels folgt, zeigt er die Absicht, sich keinen Ärger einzuhandeln.
Der letzte Satz dieses Zitats ist etwas komplizierter. Auch er drückt eine Absicht aus. Zunächst aber können wir sagen, dass die Absicht, die Harry verfolgt, nicht ausgeführt werden kann, weil dieser Jemand sie verhindert. Damit entsteht ein überraschendes Moment. Eine solche Überraschung ist ein wichtiges Element im Spannungsaufbau, wie überhaupt der Spannungsaufbau davon lebt, dass Absichten nicht bis zum Ende ausgeführt werden können.
Doch dieser letzte Satz drückt noch eine andere Absicht aus. Wenn irgendjemand an einem Ort auftaucht, an dem man ihn nicht erwartet, in dem er sich auch für gewöhnlich nicht aufhält, dann muss eine besondere Absicht vorliegen. In diesem Fall ist es Dobby, der etwas ganz Bestimmtes von Harry will. Das folgende Gespräch zeigt Dobby sehr zerrissen: er ist der Diener zweier Herren, und das darf man in diesem Fall sogar wortwörtlich nehmen. Denn was Dobby zunächst nicht sagt, ist, dass er der Hauself der Familie Malfoy ist. An diese Familie ist er magisch gebunden; von seinem Gefühlen her allerdings bewundert er Harry Potter. Wenn wir ein solches Gespräch gestalten, ein Gespräch, in dem ein Mensch zerrissen oder konflikthaft gebunden ist, dann ist es schon sehr wichtig, dass wir uns darüber Gedanken machen, welche Absichten unsere Figur hat und was sie wie äußert.
Hier lohnt es tatsächlich, wie bereits gesagt, sich zumindest ein Buch gründlich anzuschauen. Joanne Rowling wäre eine Möglichkeit, Stephen King eine andere, oder, wenn es ein Krimi sein soll, zum Beispiel Martha Grimes.
In der nächsten Folge behandle ich den sozialen Raum. Dieser entsteht, wenn zwei Seelenwelten, bzw. zwei emotional-volitive Räume aufeinandertreffen. Er ist wichtig, weil dies der Raum des Konfliktes ist.
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