06.09.2014

Langeweile: der Ausbruch von Körperlichkeit

Gelegentlich durchforste ich meinen Zettelkasten und meine Sammlung von Dateien nach dem Begriff der Langeweile. Hintergrund ist ein gewisses zufälliges Zusammentreffen; vor sieben Jahren trat meine Exfrau an mich heran, vielmehr meldete sie sich am Telefon mit den Worten: »Du musst mir helfen!« und da sich das Ganze um ein Gebiet drehte, auf dem eigentlich sie die Fachfrau hätte sein sollen, die Kriminologie (sie ist Diplom-Kriminologin), griff ich auf das Naheliegende zurück, auf einen aktuellen Zeitungsartikel. Dieser war überschrieben mit »Sie schlagen sich aus purer Langeweile«. So entstand Langeweile (Zum Diskurs der Jugendkriminalität).

Spannung

Tatsächlich ist Langeweile ein spannendes Thema. Mich hat es deshalb so angeregt, weil ich mitten in Arbeiten zum Spannungsaufbau war, ein Thema, das für einen Text-Coach ein enorm wichtiges ist. Mir war bis dahin noch nicht aufgefallen, dass man dieses Thema vielleicht von der anderen Seite, nämlich von der Langeweile her, angehen sollte.
Diese Vorgehensweise hat sich allerdings aus vielerlei Gründen als fruchtbar erwiesen, auch wenn ich bisher noch zu keinem abschließenden Ergebnis gekommen bin (und vielleicht auch nie kommen werde).
Warum ich heute darüber schreibe, ist wieder einer gewissen Zufälligkeit geschuldet. In Hans Blumenbergs Beschreibung des Menschen findet sich ein umfangreiches Kapitel über die Langeweile (ab Seite 690). Wie immer, wenn Hans Blumenberg ein Thema behandelt, ist es einigermaßen genial und wundervoll geschrieben.

Max Frisch und Robert Musil

Blumenberg zitiert aus dem Tagebuch von Robert Musil und ich denke dabei an Max Frisch, bzw. an den Homo Faber:
Ich behandle das Leben als etwas Unangenehmes, über das man durch Rauchen hinwegkommen kann! (Ich lebe, um zu rauchen.)
Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, S. 705f.
Nun weiß der Leser meines Blogs wohl einigermaßen über den Homo Faber Bescheid. Sein Protagonist, Walter Faber, reist zweimal auf etwas abenteuerliche Weise durch die Gegend, das erste Mal, um seinen Jugendfreund auf einer Tabakplantage zu besuchen, das zweite Mal mit einer jungen Frau (von der er später erfährt, dass sie seine Tochter ist), um die Kulturgüter Europas zu besichtigen.
Wohlmeinende Interpreten bescheinigen, dass Walter Faber am Ende des Buches an Magenkrebs stirbt und verbinden dies mit dem Tabakgenuss. Tatsächlich meint Walter Faber:
Ich spürte meinen Magen. (Ich rauchte zu viel!)
Homo Faber, S. 42

Walter und Ulrich

Zwischen dem Homo Faber und dem Mann ohne Eigenschaften finden sich zahlreiche, teilweise verdrehte Parallelen. So sind Walter Faber und Ulrich beides Ingenieure. Beide gönnen sich eine Auszeit, wobei Walter diese völlig irrational beginnt, während Ulrich sich dafür entscheidet.
Ulrich hat eine platonische Liebesbeziehung zu seiner jüngeren Schwester, während Walter eine sehr reale Liebesbeziehung mit seiner Tochter führt (obwohl dies nie ganz so deutlich im Roman gesagt wird).
Im Mann ohne Eigenschaften taucht ein Künstler auf, der Walter heißt und versucht, eine normale Existenz zu führen. Er erinnert an Hanna, die sich ebenfalls in einer normalen Existenz einrichtet. Beiden gelingt dies nicht so recht.
Insbesondere aber spielt die Beziehung zwischen exakter Wissenschaft und mystischer Lebenshaltung in beiden Romanen eine wichtige Rolle. Im Ulrich sind diese widerstrebenden Themen relativ bewusst vereint, wodurch der Roman von zahlreichen philosophischen Exkursen geprägt ist. Der Homo Faber kommt dagegen sehr unphilosophisch daher: er teilt das Verhältnis Wissenschaft/Mystik einmal auf Walter und Hanna auf, zum anderen aber auf einen Walter, der sich selbst als wissenschaftlichen Menschen bezeichnet und sich auch so sehen möchte, und einen, der irrational handelt und nicht wirklich zu verstehen ist.

Vorstellung und Abnutzung (Immanuel Kant)

Dass Kultur gefährlich sei, wussten auch manchmal die Aufklärer. Kant setzt hier zwei Grenzen, ohne sie genau voneinander zu unterscheiden:
Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts anders als: sich kontinuierlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustand herauszugehen (der also ein ebenso oft wiederkommender Schmerz sein muss). Hieraus erklärt sich auch die drückende, ja ängstliche Beschwerlichkeit der langen Weile, für alle, welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind (kultivierte Menschen).
Kant, Immanuel: Anthropologie (in GW XII), S. 554
Kant sieht also eine Art grundlegendes Bedürfnis, sich zu vergnügen (wobei man der alten Bedeutung des Wortes nachgehen müsste), dann aber auch die Möglichkeit, dieses Bedürfnis schmerzhaft zu steigern, und wie steigert man es? — Durch Kultur!
Nun sind Kants Aussagen zur Langeweile durchaus widersprüchlich, denn kaum eine Seite später definiert er:
Unterredungen, die wenig Wechsel der Vorstellungen enthalten, heißen langweilig, eben hiermit auch beschwerlich, und ein kurzweiliger Mann wird, wenngleich nicht für einen wichtigen, doch für einen angenehmen Mann gehalten, der, sobald er nur ins Zimmer tritt, gleich aller Mitgäste Gesichter erheitert; wie durch ein Frohsein wegen Befreiung von einer Beschwerde.
Kant, Immanuel: Anthropologie, S. 555
Schließlich aber wird er auf die Gefahren des übermäßigen Genusses von Kultur hinweisen:
Eine andere Art aber ist Abnutzung [der Vergnügen der Kultur]: welche uns des ferneren Genusses immer weniger fähig macht. Auf welchem Wege man aber auch immer Vergnügen suchen mag: so ist es, wie bereits oben gesagt, eine Hauptmaxime, es sich so zuzumessen, dass man noch immer damit steigen kann; denn damit gesättigt zu sein, bewirkt denjenigen ekelnden Zustand, der dem verwöhnten Menschen das Leben selbst zu Last macht und Weiber, unter dem Namen der Vapeurs, verzehrt.
Kant, Immanuel: Anthropologie, S. 559
Dies ist eine seltsame Argumentation: man erreiche eine Steigerung durch eine Minderung, den Genuss durch Entsagung, weil dieser Genuss der Kultur, an seinem Endpunkt angekommen, in das Gegenteil umkippt.
Mit Vapeur (Dampf) wurden im 18. und 19. Jahrhundert bestimmte Verhaltensweisen meist „krankhafter“ Art erklärt und meist in einem Zuge mit den Nerven genannt. Insbesondere machte man die Vapeurs für den Hysterie verantwortlich. Und zumindest undeutlich darf man den ekelnden Zustand als eine recht freundliche Bezeichnung der Depression lesen. Zu erinnern ist an die Madame Bovary, die sich durch den übermäßigen Genuss billiger Lektüre in den Ruin treibt. Und ebenso muss der Don Quixote erwähnt werden, der durch das Lesen von Ritterromanen wahnsinnig wird.
So ist der Wechsel der Vorstellung zugleich angenehm und erheiternd, aber auch gefährlich und verzehrend; er bewirkt die Abwesenheit von Langeweile und ruft sie in ihren schlimmsten Formen herbei.

Autoaggression und Langeweile

Bei Tieren kennen wir den Zusammenhang zwischen bestimmten Tics (Kopfschaukeln bei Küken oder Hin- und Herwenden bei Pferden) und der Tatsache, daß sie in eng begrenzten Quartieren eingesperrt sind. Bei Kleinkindern kennen wir die typischen rhythmischen Bewegungen, wie Schaukeln und Kopfschlagen, die sich besonders zeigen, wenn sie vorwiegend in ihrem Kinderwagen oder Bettchen liegen müssen. Sie gehören zu den autoerotischen und autoaggressiven Aktivitäten in früher Kindheit. David M. Levy vertritt die Auffassung, daß sich diese besonders häufig bei überaktiven Kindern als Abwehr gegen die untersagten Bewegungsimpulse bilden. Das dürfte auch für den Zustand der Patienten gelten, die »freiwillig« Bettruhe halten und ihre Bewegungsimpulse abwehren müssen, um sich nicht selbst zu gefährden. Es wäre der Mühe wert, solche Patienten hinsichtlich ihrer »nichtgefährdenden« ticähnlichen automatischen Bewegungen derjenigen Körperteile zu beobachten, die der Einschränkung nicht unterworfen sind, wie z.B. das Summen irgendwelcher Melodien, an den Lippen oder an den Haaren zupfen usf. Zwangshandlungen dieser Art, die üblicherweise als Ausdruck bloßer »Langeweile« abgetan werden, mögen wohl eine ermäßigte und verschobene Ersatzform für die normale motorische Abfuhr von Affekten sein.
Burlingham, Dorothy: Labyrinth Kindheit, S. 225

Ausbrechen

Dieses lange Zitat der englischen Psychoanalytikerin weist uns auf eine ganz andere Form hin, die Langeweile zu verstehen. Sie ist, in der Form der Zwangshandlung, eine Ersatzform für den Ausbruch aus einem Gefängnis.
Ganz in diesem Sinne sind Sport, Massenmedien und Pornographie zugleich Einsperrungen von Rhythmen und deren Erzeugung:
… nach wie vor kann der Sport mit seinen Ablegern als Tummelplatz der fortschreitenden Unterwerfung des Körpers unter die Gesetzmäßigkeiten der Abstraktionen gelten, obwohl die postmodernen Sportarten das Reich der Quantifizierung immerzu gesteigerter Leistung zu verlassen scheinen; Medien zur Auf- und Abspaltung der Sinne, die den Menschen Hören und Sehen, wie sie es konnten, austreiben und völlig neuartige Sensationen ermöglichen, sind auf dem Vormarsch; die kommerzielle Pornographie in Wort und Bild ist dabei, aus der Baisse ihrer Langeweile durch immer raffinierte Repräsentation körperlicher Lust auszubrechen; …
Kamper, Dietmar/Wulf, Christoph: Die Parabel der Wiederkehr. in: Kamper/Wulf (Hrsg.): Die Wiederkehr des Körpers, S. 10f.
Auf unangenehme Art und Weise macht sich vor allem der Körper in den Phasen der Langeweile bemerkbar. Unangenehm vielleicht auch deshalb, weil sich das Ich vom Leib trennt, weil sich das Ich bewusst wird, dass es nicht Herr über seinen Körper ist, ganz so, als sei die Langeweile eine Krankheit, ein hohes Fieber, das vielleicht noch gnädigerweise mit einem schwachen Bewusstseinszustand einhergeht:
In der Langeweile wird das Selbstbewusstsein unbehaglich: als Bewusstsein eines leerlaufenden, überflüssigen, sich nicht gemeint meinenden und nichts Gemeintes habenden Selbst. Dabei trennt sich der Eigenleib vom Selbst, nicht bis zum Schmerz, kaum bis an die Grenze der Last, aber doch bis zu jenem eigenwilligen Sicht-bemerkbar-Machen im Hustenreiz, in der Rauhigkeit des Halses, die unabweisbar ein Räuspern verlangt, in der Unruhe des Sitzvermögens, der aufreizenden Unbequemlichkeit noch des komfortabelsten Gestühls.
Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen, S. 705

Psychische Krüppel

Man könnte die Kultur der Neuzeit nach den Phasen einteilen, in denen die fiktionalen Romane einmal den abenteuernden Superhelden, ein andermal den exotischen Krüppel in den Vordergrund stellen. Das eine Mal hat der Held die Langeweile hinter sich gelassen und manipuliert die Welt, so, wie sein Gewissen es ihm befiehlt, natürlich zum allgemeinen Guten hin. Old Shatterhand ist eine solche Figur, eine Lichtgestalt aus dem sächsischen Deutschland, Arzt und Moralist, Trapper und Botschafter in einem. Und im Gegenzug gibt es jene Helden, die aus der Langeweile entfliehen, sich dem Zwang der Langeweile widersetzen und dadurch zu Helden werden, so Bilbo und Frodo Beutlin, den beiden Hobbits, denen so viel an Ruhe und Frieden gelegen ist. Wir finden darin weniger psychisch differenzierte Figuren, als reisende Körper, die einem Gefängnis entfliehen oder anderen zur Flucht verhelfen.
Fantasie mag vielleicht eine Ersatzreaktion sein, so wie Karl May seine finanzielle Not und eventuell sein eheliches Gefängnis in seinen Abenteuern verlassen konnte; so wie sich viele Frauen, denen die doppelte Belastung aus Familie und Arbeit über den Kopf wächst, in die mystisch-erotischen Arme von Vampir- und Werwolfromanen flüchten. So, sublimiert in einem körperlichen Vergnügen, das in der Fantasie stattfindet, lässt sich der Langeweile ein wenig Einhalt gebieten. Die andere Form wäre schlimmer:
Sadismus und Nekrophilie — die bösartigen Formen der Aggression — sind dagegen nicht angeboren; daher können sie beträchtlich reduziert werden, wenn die gegenwärtigen sozioökonomischen Bedingungen durch andere ersetzt werden, die der vollen Entwicklung der echten Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen günstig sind: der Entwicklung menschlicher Eigen-Aktivität und schöpferischer Kraft als Selbstzweck. Ausbeutung und Manipulation andererseits erzeugen Langeweile und Trivialität; sie verkrüppeln den Menschen, und alles, was den Menschen zu einem psychischen Krüppel macht, macht ihn auch zum Sadisten und Zerstörer.
Fromm, Erich: Aggressionstheorie, S. 396

Ambivalenz

Möglicherweise liegt der Langeweile ein Widerspruch zu Grunde, der sie fest an das Pendeln zur Gewalt koppelt. Ich hatte schon damals, in meinem ersten Aufsatz zur Langeweile, auf ihre widersprüchliche Deutung in Nietzsches Schopenhauer als Erzieher hingewiesen. Als sei die Langeweile nur ein Satellit zu unserem Welttrabanten, doch ein Satellit, von dem aus dieser seine Ästhetik, seine ganze farbliche Erscheinung, seine lichte oder düstere Harmonie erhielte.

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