29.09.2014

Romane schreiben wie Stephen King - »Grandioser Hauptdarsteller«. Teil II

Und weiter geht es mit meinem Kommentar zu Stephan Waldscheidt, der zum Spannungsaufbau bei Stephen King geschrieben hat.
(Meinen ersten findet ihr hier: Albtraumhafte Szenerien.)

Rücksicht auf die Darstellbarkeit

Eine Bemerkung vorneweg: ich habe einige meiner Gedanken sehr knapp, manchmal auch in deutlicher Opposition zu Waldscheidt formuliert. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass wir dasselbe meinen. Mein Vorbehalt gegen seine Art der Darstellung kann natürlich umgedreht werden und zu einem Vorbehalt gegen meine Art der Darstellung werden. Es wird manchmal sehr unterschätzt, was der Stil eines Autors zur Vermittlung beiträgt. Und manchmal hilft es tatsächlich, dieselbe Sache aus zwei unterschiedlichen Blickwinkeln dargestellt zu bekommen.
Dass ich hier etwas kürzer und scheinbar dogmatisch formuliere, ist nicht nur Bequemlichkeit (das aber auch). Dies soll vor allem bestimmte Blickwinkel deutlich machen. Ich könnte natürlich auch alles mit weiteren Möglichkeiten und Ausnahmen anreichern. Aber das würde die Darstellung eindeutig überfrachten.
Waldscheidts zweiten Tipp finde ich übrigens am kritischsten, denn Shining bietet meiner Ansicht nach wenig Halt dafür, den Protagonisten als grandios zu bezeichnen.

Grandiose Hauptdarsteller

Psychologisierung

Bevor ich auf Waldscheidts Tipps zurückkomme, möchte ich einige ganz allgemeine Sachen sagen.
Achtet darauf, dass ihr Romane schreibt, keine psychologischen Abhandlungen. Wenn ihr eine Erzählung geschrieben habt, dann überprüft bei der Überarbeitung, wie viele Fachbegriffe der Psychologie ihr verwendet habt. Schreibt nicht:
Peter schien für den Ausflug richtig motiviert.
Schreibt bitte:
Peters Augen begannen zu glänzen. »Dann packe ich mir am besten gleich die Badehose ein. Wir gehen doch schwimmen, oder?«
Show, don’t tell! - Das ist immer noch einer der besten Tipps, die man Schriftstellern geben kann.

Nebenfiguren

Hattet ihr das schon mal, einen Roman, in dem es eigentlich nur drei Hauptfiguren gibt und niemanden sonst? Man mag es sich kaum vorstellen, aber es gibt sie. Sofern ihr allerdings nicht gute Gründe habt, die Zahl eurer Personen zu beschränken, nutzt doch bitte Nebenfiguren.
Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Stephen King-Leser an den Apotheker, der Eddie das Asthmaspray verkauft und ihm irgendwann erzählt, es sei nur Wasser, obwohl Eddie glaubt, er könne nur durch diese Medizin atmen und leben. Eigentlich ist dieser Apotheker eine ganz nebensächliche Figur. Aber für den Konflikt, in dem Eddie steckt, ist er enorm wichtig. Und mehr als eine Abhandlung über Hypochondrie macht dieser Apotheker deutlich, wie sehr Eddie in der Beziehung zu seiner überbehütenden und überängstlichen Mutter gefangen ist.
Wann braucht ihr solche Nebenfiguren? Immer dann, wenn ihr merkt, dass ihr als Autor zu viel erklären müsst. Es ist nie gut, wenn sich der Autor in seinen Roman einmischt. Lasst es einfach eine Nebenfigur sagen, in Form eines weisen Rates, den eine Zufallsbekanntschaft im Bus gibt, sei es, dass der Protagonist seinen Ärger versucht an einer Bäckerin auszulassen und diese ihm die passenden Widerworte gibt, sodass der Protagonist anfängt, über seine Situation nachzudenken, sei es, dass ein geschichtliches Ereignis von einem lokalen Journalisten geschildert wird, sodass der Autor nicht eine Rückblende einschieben muss.
Denkt also über die Funktion von Nebenfiguren nach. Oftmals machen sie das Geschehen lebendiger und bringen neue, nebensächliche Konflikte in die Geschichte, was für den Spannungsaufbau hervorragend ist.

Wirklich etwas wollen

Auch das ist ein Knackpunkt, gerade für Menschen, die frisch angefangen haben zu schreiben. Ein junger Autor will natürlich seinen Roman fertigschreiben. Er hat ein enormes Bedürfnis dazu. Er ist aufgeregt. Er entdeckt (in sich) eine ganz neue Welt. Und das ist wunderbar!
Was er darüber leider vergisst: sein eigener Wille ist noch nicht der Wille des Protagonisten. Leser lieben Protagonisten, die dringend etwas brauchen, die ein starkes Motiv haben. Das muss zwar nicht immer so sein (denken wir zum Beispiel an die Helden Murakamis oder Tschechows), doch häufiger finden wir (auch in der klassischen Literatur) starke Motive bis hin zur Obsession.
Es ist eine Frage der Übung, den eigenen Willen, einen Roman zu schreiben, und den Willen des Protagonisten, der ein ganz anderes Bedürfnis haben kann, auseinanderzuhalten. Es ist aber auch nicht so schwer, denn die unterschiedlichen Motive unterschiedlicher Menschen zu berücksichtigen lernen wir von Kinderbeinen auf. Und da wir das geschafft haben, können wir das auch für den Roman erreichen.

Was bedeutet grandios?

Ich gebe zu, dass ich dieses Wort recht schlampig finde. Ich mag den Roman Shining sehr. Ich mag auch den Film von Stanley Kubrik gerne. Für mich haben diese beiden Geschichten aber wenig miteinander zu tun. Sie sind einfach zu unterschiedlich. Der sehr emotionale und persönliche Stil Kings passt so gar nicht zu den statischen und unterkühlten Bildern von Kubrik. Beide Male ist die Geschichte nur deshalb gut, weil sie diese sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen transportiert. Wenn man sich die Geschichte selbst betrachtet, so ist sie beinahe so banal, dass es sich kaum lohnen würde, sie zu erzählen.
Aber das soll gerade nicht unser Thema sein. Was macht Jack Torrance grandios? Er ist kein Held, er ist noch nicht einmal wirklich sympathisch. Was ihn so einzigartig macht, das ist sein Facettenreichtum. Wir treffen gleich zu Beginn des Romans auf einen Menschen, der im Begriff ist zu scheitern. Es ist ein Mensch, der eine außergewöhnliche Erfahrung sucht, weil er insgeheim sein Leben für bedeutungslos hält. Wir sehen, in welcher Hassliebe er an seine Familie gebunden ist, die er braucht, weil sie ihm eine Basis gibt, und die er hasst, weil sie ihn fesselt.
Insofern kann ich Waldscheidt auch nicht folgen, wenn er behauptet, dass erst Jack Nicholson Torrance unverwechselbar mache. Es mag sein, dass das auch ein wenig an der Übersetzung liegt (tatsächlich sind viele Stephen King-Bücher nicht gut übersetzt, jedenfalls nicht so bedeutungsreich, wie ich sie im englischen Original empfinde).

Ein reiches Innenleben

Was bedeutet also grandios? Und hier ist Stephen King tatsächlich vorbildlich. Es bedeutet zunächst, dass die Figuren ein reiches Innenleben haben. In vielen Romanen wird dieser innere Reichtum einer Figur noch dadurch erhöht, dass King die Perspektive wechselt und so die ganzen Widersprüche bestimmter Situationen, ihre ganze Konflikthaftigkeit vor dem Leser ausbreitet.
Was aber bedeutet nun ein reiches Innenleben? Ich hatte oben geschrieben, dass Psychologisierungen ganz grässlich sind und dass der Autor sich davon fernhalten soll. King nutzt deshalb häufig drei Textmuster, die seine Romane zur Ich-Erzählsituation gehörig machen: es gibt bei ihm immer wieder kurze Einschübe des Bewusstseinsstroms. Wir erleben hier gleichsam das Denken einer Figur, ohne Beschönigungen und ohne Rücksicht auf die Grammatik. Im Text sind diese Einschübe häufig kursiv wiedergegeben, sodass sie für den Leser optisch erkennbar sind. Dann fasst King aber auch diese Gedanken zusammen, halb aus der Innenperspektive, halb aus der Sicht eines auktorialen Erzählers. Diese Einschübe wirken (auf mich) weniger dramatisch. Schließlich und drittens schildert King körperliche Reaktionen und zwar abseits von jenem klischeehaften „ihm rutschte das Herz in die Hosen“ oder „ihm pochte das Blut in der Schläfe“. Hier lohnt es sich tatsächlich, einen Roman von Stephen King gut zu studieren.

Konkret, konkret und noch einmal konkret

Grandios bedeutet aber auch, dass die Personen konkrete Handlungen ausführen mit konkreten Dingen. Seine Figuren haben etwas zu tun. Und nichts anderes schildert er. Schauen wir uns einfach eine solche konkrete Stelle an:
„Es war Ende März und warm genug zum Radfahren, aber die Witcham Road war unterhalb der Bowers-Farm noch nicht geteert, was bedeutete, dass sie im März eine einzige Schlammgrube war - Radfahren war nicht zu empfehlen.
»Hallo, Nigger«, sagte Henry, als er grinsend hinter den Büschen hervorsprang.
Mike wich etwas zurück und hielt blitzschnell Ausschau nach einer Fluchtmöglichkeit. Wenn es ihm gelang, einen Haken zu schlagen, so würde er Henry abhängen können, das wusste er. Henry war groß und stark, aber er war zugleich auch ziemlich langsam.
»Ich werd‘ mir mal ‘n Teerpüppchen machen«, rief Henry, während er auf den kleineren Jungen zukam. »Du bist nicht schwarz genug, aber dem werd‘ ich jetzt mal abhelfen.«
Mike drehte Kopf und Oberkörper etwas nach links, und Henry schluckte den Köder und rannte in diese Richtung. Blitzschnell wandte sich Mike mit natürlicher Geschmeidigkeit nach rechts, und er wäre mit Leichtigkeit an Henry vorbeigekommen, wenn der Schlamm ihm nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätte. Er rutschte aus und fiel auf die Knie. Bevor er wieder auf die Beine kommen konnte, fiel Henry über ihn her.“ (Es, 691)
Wir sehen: konkrete Probleme und konkrete Hindernisse, Dialoge, Gedanken und konkrete Handlungen.

Sich mit einem Protagonisten identifizieren

Das liest man häufig: jemand konnte sich mit einem Protagonisten identifizieren, jemand konnte es nicht. Was aber bedeutet das? Ich mache mir darüber seit Jahren Gedanken. Ich glaube heute, dass man das nicht so ganz genau erklären kann und auch nicht wirklich in eine richtige Technik packen sollte. Menschen identifizieren sich aus ganz unterschiedlichen Gründen mit Romanfiguren und auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Wer sich in diesem Moment für eine Romanfigur begeistern kann, dem gelingt es vielleicht ein Jahr später gar nicht mehr. Und wer einen Roman anfängt, gründlich zu lesen, wird merken, wie sich seine eigenen Leidenschaften und sein eigenes Mitgefühl für die Figuren nach und nach verschiebt und andere Qualitäten annimmt.
Trotzdem kann man hier einige Tipps geben: der Protagonist ist kein Übermensch oder Gott. Das kann er auch nicht sein, wenn er ein echtes Bedürfnis hat, das er im Roman lösen möchte. Allzumächtige Protagonisten wirken nicht nur unglaubwürdig; viel schlimmer ist, dass sie überhaupt keine richtigen Handlungen ausführen müssen, um ihre Ziele zu erreichen. Und es ist auf jeden Fall besser, eine gewöhnliche Figur ins Auge zu fassen, um eine spannende Handlung aufzubauen.
Wir Leser können gewöhnlichere Motive besser nachvollziehen als ungewöhnliche, einfach, weil wir selbst in unseren Tagträumen solchen Plänen nachhängen. Dadurch gelingt uns leichter eine Identifizierung.

Charakter und Plot

Insofern ist Waldscheidts Tipp sehr zweideutig. Wenn er zum Beispiel schreibt:
Aber versuchen, Ihren Protagonisten aus der Masse zu heben, das zumindest sollten Sie.
Es ist aber klar, dass der Protagonist immer aus der Masse hervorsticht, einfach, weil er im Mittelpunkt eines Romans steht. Weder muss er dazu außergewöhnliche Eigenschaften besitzen, noch muss er besondere Auffälligkeiten vorweisen (es mag Zufall sein, aber vor ein paar Jahren habe ich mehrere Romane hintereinander gelesen, in denen alle weiblichen Figuren, die eine größere Rolle spielten, Schönheitsflecken besaßen: das finde ich nun furchtbar lächerlich, da mir im realen Leben noch nie eine Frau begegnet ist, die einen Schönheitsfleck hatte).
Waldscheidt formuliert dann eine Ausnahme:
Ausnahme: In Ihrem Roman steht der Plot so eindeutig im Vordergrund, dass ein dominanter Charakter ihm die Schau stehlen würde.
Mir ist nicht klar, was mit dominanter Charakter gemeint ist. Mir ist auch die Trennung nicht klar. Eine Erzählung handelt von Personen, die handeln. Personen und Handlung, Charakter und Plot: das lässt sich nicht auseinanderdividieren, es sei denn, man schreibt psychologische Abhandlungen. Dazu bitte ich noch einmal den Abschnitt über die Psychologisierung zu lesen.

Konkret, zweite Lieferung

Bleibt also konkret. Eure Protagonisten haben mit realen Gegenständen in einer realen Umwelt zu tun, sie sprechen reale Sätze mit realen Personen und sie machen Sachen mit realen Handlungen aufgrund realer Motive.
Nun muss ich allerdings ein Stück weit zurückrudern. Es gibt zahlreiche Gründe, von dieser Regel abzuweichen. Weniger wichtige Zeiten im Leben eines Protagonisten sollten auch weniger Raum im Roman einnehmen. Es mag sein, dass diese Zeiten trotzdem geschildert werden müssen. Aber dann kann der Autor eine Zusammenfassung nehmen und so dem Leser umständliche Beschreibungen ersparen, die keine neuen Informationen mit sich bringen. Natürlich gibt es auch sehr kunstvolle Techniken, um aus einem Roman eine halbe philosophische Abhandlung zu machen. Natürlich ist dann der Roman nicht mehr auf eine spannende Erzählung fixiert, sondern bedient sich anderer Ausdrucksweisen, um bestimmte Ideen auszudrücken. In humorvollen Romanen wiederum findet man Einschübe von ganz fremden Textmustern. Im Käpt‘n Blaubär von Walter Moers sind dies zum Beispiel die Lexikoneinträge. Stephen King nutzt gelegentlich „Zeitungsartikel“, die eine bestimmte Situation aus einer scheinbar objektiven Sicht schildern. Auch dort haben wir es nicht mit konkreten Handlungen zu tun, jedenfalls nicht immer.
Es gibt also gute Gründe, von der Regel, konkret zu bleiben, abzuweichen.

Abstraktion

Nebenbei bemerkt: irgendjemand auf Facebook meinte mal zu mir, er hätte einen guten Grund: ich hätte ihn doch eben genannt. Unsere Unterhaltung ging folgendermaßen: er hatte zuvor über einen anderen Schriftsteller gelästert und sich selber als besonders hochwertigen Autor angepriesen; ich habe ihm dann gesagt, dass seine Geschichten völlig abstrakt seien; woraufhin er (in diesem Fall sogar richtigerweise) auf ein Beispiel hinwies, bei dem man einfach nicht konkret sein konnte. Also habe ich ihm erklärt, dass es natürlich auch Ausnahmen von dieser Regel gäbe. Das hat ihn zu der Bemerkung veranlasst, dass sein Roman ja auch eine Ausnahme sei. Doch natürlich darf man nicht flächendeckend in einem Roman abstrakt bleiben. Einzelne Passagen: das ist in Ordnung, aber auch hier sollte sich der Schriftsteller darüber Gedanken machen, was diese Passage dort zu tun hat.
Dass also die Abstraktion erlaubt ist, ist noch keine Begründung für sie. Die Begründung muss aus dem Ausdruck kommen, die der Schriftsteller seinem Roman geben möchte. Nur der Ausdruck kann die Abstraktion notwendig machen, nicht die Möglichkeit, abstrakt zu schreiben.

Sinnlich und plastisch

Nicht die Einzigartigkeit eines Charakters ist wichtig. Ein wenig fahrlässig lobt Waldscheidt die schauspielerischen Leistungen von Jack Nicholson, was ich durchaus nachvollziehen kann, denn er ist ein grandioser Schauspieler. Aber genau deshalb sollte man auch solche Beispiele im Hintergrund lassen. Gerade junge Autoren schüchtert das ziemlich ein. Und seien wir ehrlich: die meisten großen Figuren der Literatur sind keine grandiosen, noch nicht einmal grandios geschilderte Figuren. Auch Autoren wie Thomas Mann oder Vladimir Nabokov kochen gelegentlich mit Wasser aus dem Dorfbrunnen.
Viel wichtiger ist, dass eine Figur konkret ist. Ein Zimmermädchen, das reale Existenzängste hat, weil ihr realer Vermieter sie tatsächlich aus der Wohnung schmeißen möchte, während ihr Chef sie um das Gehalt betrügt, und die sich aus Verzweiflung mit einem zahlenden Mann einlässt, das ist doch allemal eine spannendere Geschichte als ein übermächtiger Held, der seine Probleme mit einem Fingerschnipsen löst, der aber keine Waschmaschine, keinen Herd und auch kein Portemonnaie zu kennen scheint.

Dritter Teil: Langsame Entwicklung des Plots

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