28.01.2012

Der Unsinn des Genres

Antje Roder schreibt:
"Sie sind keine studierte Literaturkritikerin – das sieht man allein schon daran, dass Sie den fantastischen Abenteuerroman „Twin-Pryx, Zwillingsbrut“ fälschlicherweise in die Kategorie „Fantasy“ abgeheftet haben. Fantastische Abenteuerromane sind z. B. das Genre des Jules Verne. Fantasy hingegen ist das Genre der modernen Märchengeschichten, wo Fabelwesen um den Menschen agieren."  (Hier nochmal der Stein des Anstoßes: Myriels Rezension auf Bücherzeit; der Kommentar, aus dem ich zitiere, findet sich auf den 18. Dezember datiert.)
Da sich ein Teil der Kritik an Myriel darauf bezieht, sie habe in ihrer Rezension das Buch von John Asht in eine falsche Kategorie eingeteilt, gibt es hier ein paar Anmerkungen zum Sinn und Unsinn des Genres.
(Ich bin übrigens auch kein studierter Literaturkritiker, sondern habe nur Germanistik auf Lehramt studiert. Allerdings würde ich gerne wissen, wo man Literaturkritik als solche studieren könnte. Und soweit ich mich zurückerinnere, gab es auch so etwas wie "Literaturkritik" nicht als eigenständiges Seminar; klar allerdings ist, dass natürlich in jedem literaturwissenschaftlichen Seminar auch "kritisiert" wurde.)

Poetik in Stichworten

Zunächst, in der alltäglichen Verwendung, möchte man doch meinen, dass ein Genre sich durch bestimmte typische Merkmale auszeichnet.
Die von Ivo Braak geschriebene "Poetik in Stichworten" merkt allerdings zum alltagssprachlichen und wissenschaftlichen Gebrauch folgendes an:
"Gattung
Im heutigen Sprachgebrauch Oberbegriff und Unterbegriff."
Schon dass hier keine klaren Grenzen gezogen werden, vor allem bei so engen Beziehungen wie zwischen Oberbegriff und Unterbegriff, sollte zeigen, dass der Begriff der Gattung, bzw. des Genres unklar ist.
Übrigens bezieht sich der Begriff der Gattung stärker auf formale Aspekte und ist besonders in der Lyrik ausgearbeitet worden. Hier wird die Einteilung zum Teil auf formale Kriterien gestützt (zum Beispiel beim Sonnett), zum Teil trotzdem auf inhaltliche Kriterien (zum Beispiel bei der Ballade). Der Begriff des Genres dagegen wird (heute) stark inhaltlich verwendet. So gibt es zahlreiche "Untergenres" für den Fantasy-Roman, zum Beispiel die high fantasy (die tatsächlich in erfundenen Ländern spielt und meist in einer Art romantisierter, vorindustrialisierter Gesellschaft), die urban fantasy, der Vampirroman (der heutzutage häufig ein Derivat des Liebesromans ist und weniger der Fantasy), oder zum Beispiel das Genre des Zombiefilms (zu dem es kein wirklich entsprechendes Gegenstück in der Literatur gibt).
Braak schreibt in seinen Stichworten:
"Fantasy-Roman: Schilderung von Abenteuern in Welten jenseits der tatsächlich erfahrbaren Wirklichkeit. Während utopische Romane oder Science Fiction-Romane das gesellschaftspolitische bzw. technokratische Moment in den Vordergrund stellen …, lebt der Fantasy-Roman aus der Konstruktion seiner eigenen phantastischen Mythologie." (Poetik in Stichworten, S. 250)
Braak ordnet den Fantasy-Roman unter die Abenteuerromane ein. Zu diesen gehören zum Beispiel auch der Schelmenromanen (Don Quichote, Der Abentheuerliche Simplicissimus Teutsch, Gil Blas, neuerdings zum Beispiel: Die Blechtrommel, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull), der Reiseroman, die Robinsonade oder der Wildwestroman. Jedenfalls, wenn man Braaks Einteilung folgen möchte.
(Im übrigen merkt man deutlich, dass dieses Buch in einer Zeit geschrieben wurde, als die Unterhaltungsliteratur noch nicht selbstverständlich in den Bereich der Literaturwissenschaften gehörte. So fehlen äußerst wichtige Einteilungen, wie zum Beispiel der damals schon bekannte Kriminalroman oder der Spionageroman. Das ist auch deshalb nicht verständlich, weil zwar die erste Ausgabe von 1964 ist, die siebte Auflage allerdings 1990 überarbeitet wurde und zwar nicht mehr vom Autor selbst, sondern von einem Dr. Martin Neubauer. Dieser hat immerhin auch als Comic-Zeichner gearbeitet; man hätte hier doch eine etwas vollständigere Aufzählung erwarten können.)

Sachwörterbuch der Literatur

Gero von Wilpert verweist in seinem "Sachwörterbuch der Literatur" zunächst von dem Eintrag "Genre" auf den Eintrag "Gattungen", setzt diese also gleich. Dort findet sich dann folgende Anmerkung:
"Zahlreiche Übergangsformen, besonders in Zeiten bewusster Vermischung der Gattungen, historisch bedingte Abwandlungen der Einteilungsprinzipien durch Strukturveränderung der Gesellschaft oder neue Medien, eigenwillige Benennungen durch den Dichter und fortschreitende Differenzierung der Formen wie der Kategorien erschweren die Zuordnung zu einer bestimmten Untergattung. Sie wollen weder äußeres Etikett noch Verkörperung einer Gattungsidee sein, sondern jede entstehende Dichtung realisiert sie entweder aufs neue oder schafft ihre eigene Gattung; jede schematische Abgrenzung und Systematisierung … verkennt somit ihr Wesen. Überhaupt spielt die Zugehörigkeit der einzelnen Dichtung zu einer bestimmten Gattung weniger für ihr Wesen eine Rolle als für die theoretische Beschäftigung der Literaturwissenschaft, die bei der systematischen Ausweitung ihres Forschungsfeldes gelegentlich auch Didaktik, Gebrauchsliteratur und Essay als Gattung anzuerkennen geneigt ist und sie nach Textsorten gliedert oder überhaupt andere Gliederungsaspekte, zum Beispiel die Kommunikationsfunktion, erprobt." (Ich habe die Abkürzungen aus dem Wörterbuch ausgeschrieben: im Original wird zum Beispiel Gattungen mit G. abgekürzt; außerdem verwende ich hier die neue deutsche Rechtschreibung: im Original steht die alte.)
Halten wir also fest, dass die Gattungsbezeichnung entweder vom Autoren getroffen wird oder, wie es häufiger scheint, vom Verlag. Manche Thriller, zum Beispiel Dickicht von Scott Smith, wären früher eher als Horrorromane herausgegeben worden und davor als "fantastische Literatur". Auf jeden Fall sollte man Wilperts letzte Aussage deutlich ernst nehmen: die Einteilung nach Gattungen dient weniger dem Dichter, als dem Wissenschaftler, der diese Dichtung untersucht.
Hinzuzufügen ist, dass sie natürlich auch den Leser orientiert.

Auf jeden Fall ist die Einteilung der literarischen Gattungen umstritten und deutlich anzweifelbar. Wer hier einer Person vorwirft, sie habe einen Roman fälschlicherweise als Fantasy und nicht als fantastische Literatur eingeordnet, betreibt Korinthenkackerei.
Im übrigen kommt Roder dem Inhalt des Romans in die Quere, wenn sie Fantasy dadurch definiert, dass "Fabelwesen um den Menschen agieren". In dem Roman von Asht taucht auf den ersten Seiten bereits ein Dämon auf, was nach Roders Definition eine Einordnung in die Fantasy zulässt, während es doch deutliche Unterschiede zwischen Asht und Verne gibt, zum Beispiel durch Vernes Fokussierung auf technisch-utopische Geräte und dessen - soweit ich seine Werke kenne - Abstinenz in Sachen fantastischer Lebewesen (sieht man mal von dem Kraken aus 20.000 Meilen unter dem Meer ab).

Nachtrag 30. Januar:
Ich habe noch mal ein wenig herumgeforscht. In vielen Büchern der Literaturwissenschaft findet sich als Gattungseinteilung erstmal die grundlegende Einteilung in Epik, Dramatik und Lyrik. Christoph Bode schreibt in seinem Buch Der Roman: "Denn diese Untergattungen des Romans existieren wohl kaum als platonische Ideen, wie es ein philosophischer Realismus glauben würde, sondern sind sinnvollerweise nur als pragmatisch-konventionelle Gruppierungen zu verstehen, die man vornehmen, aber auch sein lassen kann." (Seite 72)

Literatur
  • Bode, Christoph: Der Roman. Tübingen 2011 (zweite Auflage).
  • Braak, Ivo: Poetik in Stichworten. Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe. Unterägerie 1990 (7. Auflage).
  • Wilpert, Gero von: Sachwörterbuch der Literatur. Stuttgart 1989.

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