26.07.2009

sinnentnehmendes Lesen, eine Lachnummer

Gerade finde ich über Google eine dieser typischen Fragen zum sinnentnehmenden Lesen, wie ich sie so schätze.
Auf dem Experten(sic!)-Portal von wer-weiß-was.de fragt eine elektronische Ersatzexistenz namens Spirit, wo der konkrete Unterschied zwischen sinnentnehmendem und informativem Lesen sein und zwar so:
Hallo zusammen,
kennt jemand von euch den konkreten Unterschied zwischen sinnentnehmenden Lesen und informierenden Lesen?
Meine Fachleiterin erwähnte mal kurz, dass das sinnentnehmende Lesen ein teil des informierenden lesens ist.
ich kann aber nirgendwo den genauen Unterschied finden.
Hauptsächlich finde ich Informationen zum informierenden Lesen.
Weiß jemand von euch einen Rat?
Wäre super.

Danke schon mal.
Nun ist diese Anfrage ja noch harmlos. Meiner Ansicht nach kann aber die Frage garnicht ernsthaft beantwortet werden, solange sinnentnehmendes Lesen nicht eindeutiger definiert ist. Ich hatte in einem lange zurückliegenden Artikel angedeutet, dass sinnentnehmendes Lesen sich in sehr unterschiedlichem Maße ausprägen kann, je nachdem, welche Struktur man ins Auge fasst. Sinn fasse ich mit Niklas Luhmann als strukturdeterminiert auf. Demnach muss man sinnentnehmendes Lesen - und so hatte ich das damals in meinem Artikel auch vorgeschlagen - nach verschiedenen strukturellen Perspektiven einteilen.
Ob nun sinnentnehmendes Lesen Teil des informierenden Lesens ist oder umgekehrt, ist völlig wurscht. Die Frage ist nicht, was neueste Mode ist. Die Frage ist, ob jemand einen Begriff einordnen kann. Mithin bedeutet das, dass man einen Begriff definieren kann und ihn zu anderen Begriffen in Beziehung setzen kann. Hier auf Seminarleiterinnen zu bauen, das weiß ich aus eigener Erfahrung, dürfte ein hoffnungsloses Unterfangen sein. Ich hatte eine ähnliche Diskussion zum selektiven Mutismus, wobei die Seminarleiterin sagte, dies sei falsch, das würde jetzt elektiver Mutismus heißen. Ob es einen Unterschied gäbe, fragte ich. In der neuen Forschung hieße das elektiver Mutismus, beharrte die Frau. Nicht ganz die Antwort zu der Frage, die ich gestellt hatte. Ähnlich aber ist es mir auch mit dem sinnentnehmenden Lesen, der Begriffsbildung oder der politischen Bildung gegangen. Neuheit ist noch nicht Garant für Qualität. Und ob ich einen Hund nun als "Katze" oder als "Dompfaff" bezeichne, ändert nichts an der Tatsache, dass ich den Hund beschreiben muss, wenn ich jemandem erklären möchte, was ein Hund ist. Ein Wechsel in der Bezeichnung erfindet Hunde auch nicht vollkommen neu.
Zu dem Thema Inklusion, Integration fand ich mal folgenden hübschen Satz: "Inklusion bedeutet das gleiche wie Integration, nur internationaler." - Dieser Satz ist bis zur Unsinnigkeit lächerlich. In der deutschen Sonderpädagogik geht man von der Integration als dem wesentlichen Begriff aus. Nun hat sich international, also in der Fachsprache Englisch aber der Begriff inclusive education etabliert. Das Wort inclusion stammt in diesem Fall aus der strukturfunktionalistischen Theorie (also, weitläufig gesagt, der Systemtheorie). Inclusion bedeutet nichts anderes als die Tatsache, dass jemand zu einer bestimmten Gruppe gehört. Inclusive education will also sagen, dass auch sogenannte Behinderte in eine Klasse gehören. Der Autor jenes völlig unsinnigen Satzes wollte wahrscheinlich folgendes sagen: "Da die neueren internationalen Ansätze der Integration das Wort inclusion für den nämlichen Sachverhalt verwenden, da diese Schriften bei der Übersetzung dieses Wort mit Inklusion eindeutschen, ist es sinnvoll, hier einen Bezeichnungswechsel zu vollziehen, um dem deutschen Fachpublikum eine leichtere Anbindung an die internationale Diskussion zu ermöglichen. Zumal das englische Wort integration einen völlig anderen Sachverhalt bezeichnet, als das deutsche Wort Integration."
Ein Streit um Worte also. Und die bedauernswerte Referendarin (oder Referendar), die hier Aufklärung für dieses Begriffswirrwarr suchte, bekam zum sinnentnehmenden Lesen nun folgende Antwort.
hallo,
sinnentnehmendes lesen, ist das was die kinder in der ersten klasse tun, sie ersetzen das geschriebene wort durch ein für sie gedachtes wort, was dem sinn entspricht. man buchstabiert das wort nicht beim lesen, sonder erfaßt den sinn. unseren kindern wird diese fähigkeit in der schule geklaut. als erwachsener kann man diese fähigkeit wieder trainieren, wenn du so liest und nicht die augen nach links und rechts bewegst. das ist das was mir dazu einfällt. lg konstanze

Nicht nur, dass die Kinder also sinnentnehmendes Lesen in der ersten Klasse tun, danach aber womöglich nicht mehr. Sie ersetzen das geschriebene Wort durch ein für sie gedachtes Wort, was mehr an die Definition der Metapher erinnert, als an sinnentnehmendes Lesen. Die Kinder, oder, wie unsere Konstanze mit lieben Grüßen schreibt, MAN buchstabiert in der ersten Klasse nicht - was aber wesentliche Aufgabe der Alphabetisierung ist und damit der ersten Klasse ist -, sondern erfasst den Sinn. Gut: wir haben also eine fantastische Definition des sinnentnehmenden Lesens als Erfassen des Sinns (eines Wortes).
Wem diese groteske Widersinnigkeit noch nicht genügt, für den hat Konstanze eine geradezu sensationelle Beobachtung parat. Diese Fähigkeit werde den Kindern in der Schule geklaut. Der geistige Diebstahl also sei so fundamental, dass das Kind in der Schule lernte, ein Wort nicht mehr durch Sinn zu ersetzen. Diese Behauptung ist nun dermaßen possierlich und peinlichst falsch, dass man dazu kein Wort verlieren muss.
Was jene Fragestellerin angeht, so wird sie sich wohl für diese geistlose moralische Aufklärung hoffentlich herzlichst bedankt haben und diesem Wissensportal schleunigst den Rücken gekehrt haben.
Ich hätte es nicht anders getan.



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