18.07.2009

Schauer / Erkenntnis

Der Schauer reagiert auf die kryptische Verschlossenheit, die Funktion jenes Moments des Unbestimmten ist. Er ist aber zugleich die mimetische Verhaltensweise, die auf Abstraktheit als Mimesis reagiert. Nur im Neuen vermählt sich Mimesis der Rationalität ohne Rückfall: ratio selbst wird im Schauer des Neuen mimetisch: mit unerreichter Gewalt bei Edgar Allan Poe, wahrhaft einem der Leuchttürme Baudelaires und aller Moderne. Das Neue ist ein blinder Fleck, leer wie das vollkommene Dies da.
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 38
Es ist allerdings mehr noch, scheint mir, ästhetisches Moment, wenn man das Altbekannte und Traditionelle unter dem Schein des absolut Neuen betrachtet. Karl Kraus demonstrierte das an der Operette mit schmiegsamer Zerstörungswut. Und so ist vielleicht noch die Aufgabe, bevor man sich an Begriffen wie Empathie, Kreativität oder Gewalt identifizierend vergeht, sie als frisch geborene Wunder dieser Welt zu betrachten.
Adorno beschreibt diesen Schauer als ein begleitendes Moment der negativen Dialektik, sozusagen etwas, das man ein kritisches Soft-Skill nennen könne.
Weil der Schauer vergangen ist und gleichwohl überlebt, objektivieren ihn die Kunstwerke als seine Nachbilder. Denn mögen einst die Menschen den Schauer in ihrer Ohnmacht vor der Natur als Wirkliches gefürchtet haben, nicht geringer und grundloser nicht ist ihre Furcht davor, dass er sich verflüchtige. Alle Aufklärung wird begleitet von der Angst, es möge verschwinden, was sie in Bewegung gebracht hat und was von ihr verschlungen zu werden droht, Wahrheit.
Adorno: Ästhetische Theorie, S. 124
Genug, an die Erfahrung von Geschwindigkeiten zu erinnern, kraft deren nun die Menschheit zu unabsehbaren Fahrten ins Innere der Zeit sich rüstet, um dort auf Rhythmen zu stoßen, an denen Kranke wie vordem auf hohen Gebirgen oder an südlichen Meeren sich kräftigen werden. Die Lunaparks sind eine Vorform von Sanatorien. Der Schauer echter kosmischer Erfahrung ist nicht an jenes winzige Naturfragment gebunden, das wir »Natur« zu nennen gewohnt sind. In den Vernichtungsnächten des letzten Krieges erschütterte den Gliederbau der Menschheit ein Gefühl, das dem Glück der Epileptiker gleichsah. Und die Revolten, die ihm folgten, waren der erste Versuch, den neuen Leib in ihre Gewalt zu bringen.
Benjamin, Walter: Einbahnstraße, in ders.: GW Band IV, 1, hier: S. 147f.
Bei Äschylus ist der Ekel aufgelöst in den erhabenen Schauer vor der Weisheit der Weltordnung, die nur bei der Schwäche des Menschen schwer erkennbar ist. Bei Sophokles ist dieser Schauer noch größer weil jene Weisheit ganz unergründlich ist. Es ist die lautere Stimmung der Frömmigkeit, die ohne Kampf ist, während die äschyleische fortwährend die Aufgabe hat die göttliche Rechtspflege zu rechtfertigen und deshalb immer vor neuen Problemen stehen bleibt. Die "Grenze des Menschen", nach der Apollo zu forschen befiehlt, ist für Sophokles erkennbar, aber sie ist enger und beschränkter als sie in der vordionysischen Zeit von Apollo gemeint war. Der Mangel an Erkenntnis im Menschen über sich ist das sophokleische Problem, der Mangel an Erkenntnis im Menschen über die Götter das äschyleische.
Nietzsche, Friedrich: Die dionysische Weltanschauung, in ders.: KSA I, S. 569f.
Das Wohlgefallen am Erhabenen der Natur ist daher auch nur negativ (statt dessen das am Schönen positiv ist), nämlich ein Gefühl der Beraubung der Freiheit der Einbildungskraft durch sie selbst, indem sie nach einem andern Gesetze, als dem des empirischen Gebrauchs, zweckmäßig bestimmt wird. Dadurch bekommt sie eine Erweiterung und Macht, welche größer ist, als die, welche sie aufopfert, deren Grund aber ihr selbst verborgen ist, statt dessen sie die Aufopferung oder die Beraubung, und zugleich die Ursache fühlt, der sie unterworfen wird. Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tiefbeschatteter, zum schwermütigen Nachdenken einladender Einöden usw. ergreift, ist, bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um die Macht ebendesselben Vermögens zu fühlen, die dadurch erregte Bewegung des Gemüts mit dem Ruhestande desselben zu verbinden, und so der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohlbefindens Einfluss haben kann, überlegen zu sein.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft
»Ein Zauberer weint, wenn er fragmentiert ist«, hatte Don Juan einmal zu mir gesagt. »Wenn er integriert ist, dann überkommt ihn ein Schauer, der infolge seiner Intensität die Macht hat, sein Leben zu beenden.«
Castaneda, Carlos: Das Wirken der Unendlichkeit

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