19.11.2008

Das sechste Opfer

In meinen Anmerkungen zu Fluch der Karibik hatte ich über die homogene Vollständigkeit geschrieben. Damit bezeichne ich eine genaue Menge von gleichen Dingen, die zusammengeführt werden müssen, um etwas zu bewirken. - Zu abstrakt?
Ein Beispiel: Um das Dämonentor zu öffnen, braucht es die sieben Steine eines Meteors. Damit gibt es einen Anlass zu einer Geschichte und wer sich mit Fantasy-Geschichten auskennt, weiß, dass dies ein häufig genutztes und übliches Mittel ist, um eine solche Geschichte zu gestalten. - Es sind also drei Ringe, sieben Raben, dreiundzwanzig Vasen, die zusammenkommen müssen, um eine magische Kraft zu bannen oder zu befreien.
In The Fog - Nebel des Grauens nutzt John Carpenter diese homogene Vollständigkeit auf eine ähnliche, doch originelle Weise. Während schon die unheimlichen Geschehnisse in vollem Gange sind, entdecken die Hauptfiguren, dass der Nebel sechs Opfer fordert. Sechs Opfer - das ist wiederum eine homogene Vollständigkeit. Nun passiert aber folgendes:
Nachdem sich der Nebel fünf Menschen geholt hat, werden zugleich zwei Menschen von den unheimlichen Wesen aus dem Nebel bedroht. Wir als Zuschauer wissen, dass einer von den beiden sterben muss, aber eben nur einer. Und schon entsteht eine Alternative, die uns mitfiebern lässt. Wird es die Radiomoderatorin im Leuchtturm sein oder wird es der Pfarrer sein, dessen Großvater den Fluch über die Stadt gebracht hat?
Ganz in diesem Sinne wird aber auch der abgelegene Ort genutzt: zwölf Menschen stranden an einem einsamen Ort, einer Insel, einem entlegenen Haus, einem Lagerplatz in einem Wald. Dort treiben verrückte Mörder, auferstandene Tote oder eine böse Kraft ihr Unwesen. Nach und nach werden die Teilnehmer dezimiert. Wir wissen, dass es höchstens zwölf sein können. Und die ganze Frage lautet dann: wer wird entkommen? - Dieses Prinzip wird bei Agatha Christies Zehn kleine Negerlein angewendet, oder auch bei Day of the Dead. In Jurassic Parc II gibt es zahlreiche Menschen, deren Anzahl wir nicht kennen. Hier kristallisiert sich rasch eine Kerngruppe heraus, die dann wieder eine begrenzte Anzahl besitzt (und natürlich, typisch für Abenteuergeschichten, fast vollständig überlebt: siehe auch Herr der Ringe, wo von den neun Gefährten nur Boromir stirbt).
Die begrenzte Anzahl an Opfern ermöglicht also das Ausspielen einer Alternative in einer Geschichte. Diese Alternative läuft parallel und wird durch den Wechsel von Perspektiven - vom einen möglichen Opfer zum anderen möglichen Opfer - in Spannung umgesetzt.
Oder die begrenzte Anzahl an Opfern wird nur dadurch motiviert, dass es nur soundsoviele Menschen gibt. Und hier ist die zentrale Frage, wer von ihnen überleben wird.
Bei Krimis wird dies zum Beispiel genutzt, wenn es mehrere Erben gibt, die nacheinander umgebracht werden. Hier haben wir eine begrenzte, homogene Anzahl, die der Erben. Oder in historischen Romanen, wenn eine bestimmte Gruppe ausgerottet werden soll - sagen wir mal: alle Mönche des Lufttempels. Es gibt vielleicht siebenhundert solcher Mönche oder auch nur dreißig. Jedenfalls ist die Zahl festgelegt. - Es können auch sieben Opfer sein, für die sieben Todsünden, oder es sind dreizehn Opfer, weil der Mörder damit dreizehn Hinweise zu einem Rätsel verbindet (bei dem der Detektiv natürlich vorher schon herausfindet, wer das letzte Opfer sein wird und dadurch die große Konfrontation mit dem Mörder motiviert wird). Oder es sind neun Schädel, die irgendeine mystische Bedeutung für den Mörder haben.
Vor allem wollte ich hier auf die Alternative hinweisen, wenn es aufgrund der begrenzten Zahl und der homogenen Vollständigkeit zu einer Entscheidung kommt. Ich kenne außer The Fog - Nebel des Grauens keine andere solche Geschichte, bzw. mir fällt gerade keine solche ein. Vielleicht weiß der eine oder andere Leser noch ein gutes Beispiel.

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